33
VOR BUDAPEST, UNGARN
Was für ein Prachtmädel. Seit Bartók selbst ein Schatten war, hatte er keinerlei Berührungsängste, was Schattenfrauen anging, daher hatte er Goran einfach im Wagen mitgenommen. Sobald sie ihm mitgeteilt hatte, wie wichtig es war, Attila zu finden, hatte Bartók das Handy von Ferenc orten lassen. Dass die Information auch Kunun erreichte, konnte er nicht verhindern, denn große Teile der Polizei gehorchten dem Schattenkönig.
Also musste er schneller sein als die anderen, vor allem schneller als Kunun.
»Wir hätten einfach durch die Tür gehen sollen«, meinte Goran säuerlich, doch da hämmerte Bartók bereits dagegen. »Aufmachen, Polizei!«
Als wenn das für die Bewohner des Häuschens eine Überraschung gewesen wäre. Blaulicht und Sirenen von einem Dutzend Streifenwagen hatte das ganze Viertel in Alarmbereitschaft versetzt. Die Straße war gesperrt, das Haus, vor dem der schwarze Porsche Cayenne stand, war umstellt. An der Kreuzung hundert Meter weiter südlich würde auch der R8 halten müssen. Nur ein paar Sekunden würde Kunun brauchen, um die Polizisten – alles Schatten, ohne Ausnahme – dazu zu bewegen, die Sperre wegzuräumen.
Ferenc Szigethy öffnete. »Ich protestiere aufs Schärfste«, sagte er, bevor Bartók auch nur ein Wort geäußert hatte. »Das ist mein Sohn. Ich habe jedes Recht der Welt, ihn zu seiner Großtante zu bringen. Und was hat jemand wie Sie überhaupt mit solchen Lappalien zu schaffen? Sind Ehestreitigkeiten nicht unter Ihrer Würde?«
»Entführungen fallen durchaus in mein Ressort.« Bartók drängte den Mann zur Seite. Er hatte ihn noch nie besonders gut leiden können. »Attila?«, brüllte er durchs ganze Haus.
»Bleib, wo du bist!«, rief Ferenc. »Ich erlaube nicht, dass er weggeht. Er hat das Recht, seine Ferien hier zu verbringen, fern von dem schädlichen Smog in der Stadt! Dieser Ort ist das Beste für seine Gesundheit!«
Der Junge tauchte in der Küchentür auf. Feindselig musterte er den Besucher.
»Sie haben vielleicht Nerven, hier aufzutauchen«, sagte er. »Das letzte Mal wollten Sie mich noch beißen.«
»Was redest du denn da?«, fragte Ferenc.
»Wir haben keine Zeit«, sagte Bartók und packte den Jungen am Arm.
Ferenc wagte es tatsächlich dazwischenzugehen. »Lassen Sie meinen Sohn los!«
»Er ist nicht Ihr Sohn!«, schrie Bartók. »Wann kapieren Sie das endlich? Kununs komplette Armee ist hinter ihm her. Sie gottverdammter Idiot, geben Sie die Tür frei, bevor alles in einem Blutbad endet!«
Er schleifte den Jungen zum Ausgang.
»Er ist nicht mein …?«, fragte Ferenc verwirrt. »Was soll das bedeuten? Erklären Sie sich!«
Goran trat ihm in den Weg, während Bartók Attila zum Auto zerrte. Hinter der Straßensperre konnte er schon die spiegelnde Motorhaube des Audis erkennen, den tiefen Sound des Motors hören.
»Weil er ein Prinz ist, verdammt noch mal!«, sagte Bartók. Er stieß Attila ins Auto und sprang auf den Fahrersitz. »Schnall dich an, Junge.«
Dann trat er das Gaspedal durch und bretterte die Straße hinunter. Gott sei Dank wurde sein Wagen mit den Schlaglöchern wesentlich besser fertig als Kununs angeberische Sportkarre.
Attila blickte aufgeregt nach hinten. »Das ist das Auto von Kunun, Rékas Exfreund.«
»Aber leider nicht dein Freund«, sagte Bartók. »Bist du angeschnallt?« Der Wagen machte einen Sprung, als er über ein besonders breites Loch hüpfte. »Dort vorne wird die Straße besser. Er wird uns einholen, da mache ich mir nichts vor. Wenn du einen Plan hast, dann immer her damit, ich habe nämlich keinen.«
Er wollte nicht zu lange von der Straße wegsehen, konnte aber nicht umhin, dem Jungen einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Dieses Kind, für das er gerade alles riskierte – gehörte es wirklich zur Familie des Lichts? War da eine Ähnlichkeit, die er bisher übersehen hatte? Mit Kunun oder mit Mattim? Schwarzes Haar, dunkle Augen, dieses Lächeln … Bildete er sich bloß ein, dass es wie Mattims Lächeln war, strahlend und frech? Selbst jetzt, in diesem Moment äußerster Bedrohung, blieb der Neunjährige erstaunlich gelassen.
»Ich bin kein Prinz. Was ist das denn für ein Blödsinn? Hat meine Mutter Sie hergeschickt, um mich abzuholen?«
»Deine Mutter ist unauffindbar. Stell dir vor, es kommt mir ebenso unwahrscheinlich vor wie dir, dass du ein magyrianischer Prinz bist. Aber Kunun glaubt es, und solange er es glaubt, wird er versuchen, dich zu töten.«
Attila beobachtete den Sportwagen, der ein ganzes Stück zurückfiel, während Bartók sich mit Blaulicht einen Weg über die holprige Straße bahnte. »Kunun ist hoffentlich nicht mein Vater, oder?«
»Was weiß ich. Er ist dein Onkel, schätze ich.«
»Und Mattim?« Attilas Gesicht hellte sich auf. »Ich bin mit Mattim verwandt?«
»Der ist dann wohl auch dein Onkel. Oh verdammt, die Kreuzung. Damit hätte ich rechnen müssen. Halt dich fest!«
Zwei Streifenwagen tauchten vor ihnen auf, um ihnen den Weg abzuschneiden. Bartók wich ihnen aus, fuhr über einen Bordstein und rumpelte über ein Stück Wiese, bevor er auf die Straße zurückschlingerte. Der Asphalt war nun in wesentlich besserem Zustand, und er drückte das Gaspedal durch. »Wir müssen hier runter, bevor er uns folgt. Auf der Landstraße wird er uns einholen, keine Frage.«
»Haben Sie keine Waffe?«, fragte Attila. »Dann könnten sie ihn erschießen, wenn er uns anhält.«
»Erschießen?« Bartók lachte hysterisch. »Den? Schön wär’s.«
»Da ist er«, stellte der Junge fest. »Er fährt sehr schnell. Wie hängen wir ihn ab?«
»Leider muss ich dir sagen: überhaupt nicht.«
Hanna war die Erste, die durch die Pforte stieg. Es war hell, die Sonne blendete ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen, und die Strahlen brannten auf ihrer Haut. Die schützende Schicht aus Dunkelheit, die über der Stadt lag, fehlte hier, und der Sommer tauchte alles in eine Glocke aus Hitze, Licht und Gefahr.
»Vorsicht!« Ein einziger Schritt brachte sie wieder zurück nach Magyria. »Nur diejenigen, deren Blutschutz intakt ist, dürfen herüberkommen.«
»Dann muss ich leider passen«, gestand Wikor, stolz und frustriert zugleich. »Ich habe bisher noch nicht einen Menschen gebissen.«
»Ich kann auch nicht mitkommen«, sagte Farank und verzog das Gesicht. »Zu lange habe ich hier im dunklen Wald gelebt und alle Menschen gemieden. Du musst auch hierbleiben, Mária.
Die junge Frau verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Verdammt. Kann dann wenigstens jemand Kunun herbringen, damit ich ihm den Hals umdrehe?«
»Wir gehen voraus!«, rief Mattim. »Vater, schick uns alle nach, die in die Sonne können!«
Nebeneinander rannten sie die Straße entlang. Hanna warf einen Blick zurück. Mirontschek war dicht hinter ihnen, er wirkte ziemlich irritiert bei seinem ersten Ausflug in eine andere Wirklichkeit. Die Luft war von Sirenengeheul erfüllt.
Wir sind zu spät, dachte Hanna, obwohl es sich kaum denken ließ, obwohl alles in ihr sich weigerte, die Realität anzuerkennen. Einen Moment war sie wie erstarrt. Attila ist tot, sie holen seine Leiche ab …
Dann raste ein Polizeiwagen an ihnen vorbei, und sie erkannte den Jungen auf dem Beifahrersitz.
»Da ist er!«, rief sie.
Mattim zog sie zur Seite, als Kununs Audi vorüberbretterte. »Ihnen nach! Wir brauchen ein Auto, rasch!« Er rannte auf das Haus zu, vor dem der Wagen von Ferenc stand.
Hannas Blick fiel auf Mattim, ihren goldenen Prinzen mit rußverschmiertem Gesicht und angesengtem Haar und dennoch so entschlossen, als stünde er erst am Beginn des Krieges und nicht an seinem Ende. Am liebsten hätte sie ihn die ganze Zeit nur angesehen, aber das musste warten.
»Ich brauche den Autoschlüssel!«
Goran, die mit Ferenc rangelte, machte sich von ihm frei und rannte ihnen entgegen. »Ich hab ihn!«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie dieser. »Klaut sie mir mein Auto!«
Wann hatte Goran fahren gelernt?
»Warte nicht auf mich!«, rief Hanna. »Ich will noch etwas anderes versuchen.«
Goran setzte schon rückwärts aus der Auffahrt, da sprang Mattim zu ihr ins Auto. Mirontschek folgte nach kurzem Zögern. Auf der Straße wimmelte es auf einmal nur so von Schatten und halbnackten Jaschbinern, die durch die Pforte auf die Straße strömten. Hanna ignorierte das Chaos und wandte sich an Ferenc, der mit großen Augen die ankommenden Hundertschaften bestaunte.
Die Stadtmauer ragte vor ihnen in die Höhe und verschmolz mit dem Nachthimmel. Der Wolf führte Mónika an der Mauer entlang, bis sie an ein riesiges Tor gelangten, dessen Flügel beschädigt und halb verbrannt waren. Niemand hielt die beiden auf, als sie in die Stadt hineinspazierten. Überall schwelten Brände, waren Menschen mit Löschen beschäftigt und reichten einander wassergefüllte Eimer. Hier war es zum Glück nicht ganz so dunkel, denn zahlreiche Straßenlaternen erhellten den Weg. Mónika folgte ihrem tierischen Gefährten, vorbei an alten, verwitterten Hausfassaden. Dunkle Gestalten huschten über das Pflaster, ohne sie zu beachten, bis sich ihnen zwei Männer näherten, die keinen vertrauenerweckenden Eindruck machten.
»Menschenfrau«, flüsterte der eine. Es schien tatsächlich angemessen, in der Dunkelheit zu flüstern. »Menschenfrau, was tust du hier?«
»Sie kommt zu unserem Feuerfest«, meinte der andere.
Die Besucherin aus der anderen Welt hatte gar keine Zeit, Angst zu haben, denn sofort stellte sich der Wolf schützend vor sie, entblößte die rasiermesserscharfen Fänge und sträubte das Fell. Sogar für Mónika war dies ein furchteinflößender Anblick.
»Ist ja schon gut, war nicht so gemeint.« So schnell, wie sie gekommen waren, verzogen sich die Männer wieder.
»Danke«, sagte sie, trotzdem war ihr bange, was der Wolf mit ihr vorhatte, zu wem er sie brachte. Etwa zu Kunun, dem König in dieser Stadt?
War das ihr Schicksal? Dem finsteren, unheimlichen Wald zu entfliehen, nur um jemandem ausgeliefert zu werden, der ungleich schlimmer war? Aber sie hatte die Entscheidung getroffen, ihm zu vertrauen, daher wehrte sie sich nicht – nicht einmal, als er auf die große, dunkle Burg zuhielt. Beharrlich scheuchte er sie vorwärts, durch Rauch und Finsternis, vorbei an zwielichtigen Gestalten und stöhnenden Verwundeten. Die Stadt sah aus wie bombardiert, wie ein Schlachtfeld, und wenn der Wolf sie nicht vorwärtsgetrieben hätte, wäre sie umgekehrt oder hätte sich irgendwo versteckt.
Als Mónika ein himmlischer Duft nach Gebackenem in die Nase stieg, dachte sie zunächst, dass sie träumte, so unpassend erschien es ihr in dieser Hölle aus Flammen, Rauch und Schmerzen.
»Es riecht nach Essen. Das ist eine Halluzination, oder?«
Im Licht der Laternen erkannte sie einen alten Mann, der ein Wägelchen vor sich herschob. Unförmige Fladen hingen an einer Holzstange und dufteten verlockend.
Der Wolf seufzte sehr menschlich.
»Du hast auch Hunger, stimmt’s?«
Er hielt sie nicht zurück, als sie an den Mann herantrat. Hastig fingerte sie in ihren Taschen nach ein paar Münzen, aber natürlich waren sie leer.
»Greif zu«, sagte der Verkäufer. »Es kostet nichts. Nur die Mühe, so zu tun, als hätte sich nichts in dieser Welt geändert. Nur ein bisschen Mehl und Butter. Nur ein wenig Zeit, der dunklen Ewigkeit gestohlen. Nimm, iss. Sie schmecken so gut wie eh und je.«
Mónika ließ sich nicht lange bitten. »Danke. Wenn sie so gut schmecken, wie sie duften …«
Der Wolf seufzte etwas lauter.
»Darf ich auch für ihn …?«
»Natürlich«, sagte der Alte. Er musterte den Wolf, doch selbst seine Blicke waren vorsichtig. »Wer könnte einem wie dir etwas verwehren? Schattenwolf, Weltenzerstörer. Deine Zähne sind die Nägel, die beide Welten aneinanderheften.«
Der rote Wolf fraß den Fladen und erwiderte den Blick ungerührt. Er hatte etwas Trotziges, Herausforderndes an sich.
»Mir kannst du nichts«, sagte der Verkäufer. »Ich bin längst verwandelt. Aber was hast du mit der schönen Dame hier vor? – Hüte dich«, sagte er an Mónika gewandt. »Solche wie er haben das Gefüge der Welt zerrissen. Sie sind die Dunkelheit, und wenn du nicht aufpasst, wird er deine Seele fressen.«
»Er weiß, was er tut«, sagte sie, denn mit einem Mal hatte sie das Bedürfnis, den Wolf zu verteidigen.
»Ich hoffe bloß, du weißt es auch.«
Nein, dachte Mónika, während sie dem roten Wolf weiter folgte, zufriedener, mutiger und dennoch genauso verwirrt wie zuvor. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich hier tue.
Vor dem Burghof hielt ein Wächter sie an. »Menschenfrau«, rief er schroff, »was hast du hier verloren?« Dann erblickte er den Wolf und verneigte sich. »Bitte sehr, Prinz Wilder. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Ein Prinz bist du also.« Mónika konnte nicht umhin, das lustig zu finden. »Prinz Wolf, Prinz Wilder. Was für ein vornehmes Tier! Bringst du mich vor den König selbst?«
Doch ihr Begleiter wählte nicht die große Treppe, die herrschaftlich nach oben vor den Eingang führte, sondern brachte sie zu einem Hintereingang, den sonst vermutlich das Personal benutzte. Wozu hätten die Schatten Diener und Küchenmädchen gebraucht? Still und verlassen war diese Tür, zu nichts mehr nütze. Sie schlüpften beide hindurch. Ja, hier mochte die Küche gewesen sein. Jetzt war sie verlassen und dunkel, kaum waren die Gerätschaften zu erkennen, und es roch nach kalter Asche.
Mónika folgte dem Wolf durch die hallenden Korridore. Sie presste sich gegen die Wand, wenn er es tat, und verbarg sich in Nischen, wenn Wächter vorbeimarschierten. Schließlich erreichten sie eine schmale, unauffällige Tür, vor der ein grauer Wolf döste. Er hob den Kopf, bemerkte die beiden Ankömmlinge und richtete sich steifbeinig auf. Forschend ruhten seine klugen Augen auf ihnen, dann trat er beiseite.
Die Tür war nicht verschlossen, und Mónika schob sie behutsam auf. Sie hatte den Eindruck eines Déjà-vus, es war, als wäre sie schon einmal hier gewesen. Doch wie hätte das sein können, und wann?
Es war viel zu dunkel, um irgendetwas zu sehen. Der rote Wolf verschwand und kam wenig später zurück, eine kleine Öllampe zwischen den Zähnen.
»Du denkst aber auch an alles. Ich soll mir das hier also ansehen? Was ist das? Bilder? Ja, Porträts. Das hier ist Mattim, klar. Und die übrigen?«
Sie hielt die Laterne hoch und schritt die Wand ab. Es waren acht Gemälde: Kunun ganz hinten, Mattim in der Nähe der Tür, dazwischen sechs weitere, drei Männer und drei Mädchen.
Aber es war nur ein Bild, das Mónikas Aufmerksamkeit weckte: ein junger Mann mit rotem Haar.
Sie ließ die Lampe fallen, die auf dem Steinfußboden zersprang. Eine kleine Pfütze brennendes Öl breitete sich auf dem Boden aus, die Flammen erhellten die Bilder, auch dieses eine, das sie anging, das Bild, wegen dem der Wolf sie hergebracht hatte.
»Willi«, flüsterte sie.
Sie sank auf die Knie, auf den harten Boden. Hinter ihr erstarben die Flammen, als sie keine weitere Nahrung fanden, und gingen aus. Nun hockte sie im Dunkeln, allein mit ihrer Vergangenheit, mit einer Wahrheit, die sich nicht länger verdrängen ließ.
»Ich habe ihn so sehr geliebt. Für ihn wollte ich die Scheidung einreichen, doch dann ist er verschwunden, ohne ein Wort, auf Nimmerwiedersehen. Von einem Tag auf den anderen war er weg. Erst bringt er mich dazu, mich auf ihn einzulassen, und dann geht er fort! Er hat mich verraten, wie mich noch nie irgendein Mensch verraten hat.«
Nein, sie war nicht allein. Der Wolf atmete in ihren Nacken, er wartete. Worauf? Dass sie endlich begriff, wer er war?
»Du bist es nicht«, sagte sie. »Du kannst es nicht sein. Du bist ein Wolf.«
Solche wie du bringen Welten zum Einsturz …
»Prinz Wilder. Aber …« Sie legte die Arme um ihn und zog ihn an sich. »Wilder? Ist das dein Name? Was würdest du mir erzählen, wenn du reden könntest? Dass du mich nie im Stich lassen wolltest? Dass du nicht wiedergekommen bist, weil du … ein Wolf geworden bist? Glaubst du, das interessiert mich jetzt noch, zehn Jahre später?«
Tränen fielen auf ihre Hand, auf sein Fell, doch sie merkte nicht einmal, dass sie weinte. Sie saß nur da, im Dunkeln, den Wolf in ihren Armen, und vergaß die Welt um sich herum.
»Er versucht uns abzudrängen.« Bartók fuhr mit fatalistischer Entschlossenheit weiter. »Wenn wir uns überschlagen, sind wir beide tot.« Ein Stück weiter verlief schon die Donau, die Straße führte direkt auf eine Brücke zu. Wenn der Schattenkönig ihn dort überholte und zum Stehenbleiben zwang, gab es keine Fluchtmöglichkeit. Deshalb hielt Bartók nach einer Stelle Ausschau, an der er gefahrlos von der Straße abkommen konnte – am besten eine Schotterpiste oder Ähnliches, auf der Kunun ihnen nicht so gut folgen konnte. Die Wiese neben ihnen schien ihm dazu geeignet. Er riss das Steuer herum, sie flogen über einen flachen Graben und kamen nach einer Weile zum Stehen. Es fühlte sich an wie eine misslungene Flugzeuglandung.
»Tut mir leid, mein Junge«, sagte er. »Bist du in Ordnung?«
»Mann«, meinte Attila, »können Sie nicht Auto fahren, oder was?«
Kunun war inzwischen ausgestiegen. Er blickte ihnen über die Wiese nach, abschätzend.
»Bleib im Wagen«, befahl Bartók dem Jungen und öffnete die Tür. »Erst wenn er hier ist und ich ihn festhalte, kommst du raus. Dann musst du laufen, so schnell du kannst.«
Kunun war nicht allein. Weitere Fahrzeuge hielten an der Straße, Polizei und einige andere. Es wurden immer mehr, als hätte sich irgendwo ein Ameisenhügel geöffnet, der das Volk ausspie, schwarz und bissig.
Attila hatte keine Chance. Selbst wenn der Junge um sein Leben rannte, würden sie ihn einkreisen und schnappen.
»Nur über meine Leiche«, murmelte Bartók entschlossen. Wie sah das Ende eines Schattens aus, der nicht normal sterben konnte? Es war ihm egal. Die Schmerzen, das Elend … Komischerweise kümmerte es ihn nicht.
Dennoch war er erleichtert, als er einen zweiten Trupp anrücken sah. Einen Wagen, über dem eine dunkle Wolke zu hängen schien, die von weitem aussah wie ein Mückenschwarm. Der Kommissar blinzelte. Nein, es waren Fledermäuse, unzählige. Mattim stieg aus, seine hochgewachsene Gestalt und das blonde Haar waren unverkennbar. Von Hanna war nichts zu sehen. Dafür erschienen neben Mattim ein Fremder in einem blauen Mantel und die Schattenfrau namens Goran, für die er eine kleine Schwäche hatte. Bartók grinste in sich hinein. Auch wenn der Zeitpunkt denkbar ungünstig war, oder vielleicht gerade deshalb, sollte er ihr eine Verabredung vorschlagen, die keiner von ihnen je einhalten würde.
Der Schattenkönig warf Mattim einen abfälligen Blick zu. Ob ihn die Fledermäuse irritierten, ließ er sich nicht anmerken. »Irgendwie bist du nicht totzukriegen, Bruder. Wobei es verschiedene Abstufungen des Todes gibt, wie du vielleicht mittlerweile gemerkt hast. Sein Herzblatt zu verlieren – wie hat sich das angefühlt? Die Hoffnung zerschmettert zu sehen, ein ums andere Mal, ist das nicht wie Sterben?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Was soll das hier sein, ein Überfallkommando aus geflügelten Nagetieren? Die sollen mich aufhalten, wenn ich mir den Jungen hole?«
Mattim spürte seine beiden Freunde hinter sich.
»An meinen Leuten kommt er nicht vorbei«, versprach Mirontschek leise.
»Sie müssen ihn nur so lange aufhalten, bis die anderen Schatten eintreffen«, flüsterte Mattim.
Kunun konnte ihn unmöglich gehört haben, dennoch verzog er höhnisch das Gesicht. »Glaubst du, diese wenigen Polizisten hier sind alles, was ich aufzubieten habe? Meine Truppen sind unterwegs. Du hast keine Chance, Brüderchen. In Akink konntest du Verwirrung stiften, allerdings gehört nicht viel dazu, Häuser anzustecken. Hier dagegen, wenn es Mann gegen Mann geht, was willst du da gegen mich ausrichten? Die Schatten kommen gleich, kleiner Bruder. Sie bahnen sich den Weg durch den Wald und werden in wenigen Augenblicken durch die Pforte strömen. Blutgierige Schatten – sie fürchten die Sonne nicht.«
»Keinen Schritt weiter«, sagte Mattim.
»Das ist doch lächerlich.«
Die Wolke an Fledermäusen versperrte Kunun den Weg, als er einen Schritt auf die Wiese tun wollte. Er zog sein Schwert und begann draufloszuhacken, während seine Gefolgsleute es ihm gleichtaten. Auch Mattim griff zum Schwert, Goran und Mirontschek taten es ihm nach.
Hastig warf der Prinz einen Blick die Straße hinunter, wo seine Schatten und die Bogenschützen aus Jaschbiniad nahten. Aber die Pforte hatte wohl schon Kununs Krieger ausgespien, denn auf einmal stockte der Marsch der Rebellen. Sie mussten sich der Bedrohung zuwenden, die hinter ihnen entstanden war. Mattim hatte keine Zeit, den Kampf zu beobachten, denn nun stürzten sich die feindlichen Schatten wie mit einem einzigen Wutschrei auf ihn und seine Freunde. Mattims einzige Hoffnung war, dass die Verstärkung rechtzeitig eintraf.
Ferenc Szigethy stand lamentierend vor dem Haus. »Wo bringt er Attila hin, verdammt noch mal? Mit einem solchen Polizeiaufgebot? Dieser durchgeknallte Spinner!«
»Kommen Sie mit, bitte!«, rief Hanna. »Ich erkläre Ihnen auf dem Weg, worum es geht.«
Ferenc zögerte. »Hat Mónika dich geschickt?«
»Jetzt machen Sie schon«, drängte sie. »Wir haben nicht viel Zeit.« Es war kaum auf die Schnelle zu erklären, dass er sie begleiten musste, durch die Pforte nach Magyria. Dass er mit ihr ein paar hundert Meter durch den Wald gehen sollte, bis sie sich ungefähr an der Stelle befanden, wo Bartók und der Junge waren. Dass er sich dann von einem Wolf beißen lassen sollte, um eine neue Pforte zu schaffen.
»Ich brauche Sie, um Attila zu retten!«
Ferenc stieß sie beiseite und rannte die Straße hinunter, seinem Sohn und seinem Auto nach.
Heute lief aber auch alles schief. Hanna blieb nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich nach Magyria zurückzukehren, wo die Rebellen warteten, die keinen Blutschutz besaßen. Natürlich richteten sich sofort Hunderte erwartungsvolle Augen auf sie, als sie durch die Pforte trat, und sie musste alle enttäuschen.
»Ich bringe leider keinen Menschen mit.« Sie deutete nach Osten. »Es sind ein paar hundert Meter weiter in diese Richtung. Wir brauchen dort unbedingt einen Übergang.«
»Das ist ziemlich nah am Fluss«, meinte Wikor. »Da ist keiner.«
»Wir bräuchten eine neue Verwandlung. Dazu müssten wir einen Menschen haben, der sich dafür zur Verfügung stellt. Attilas Vater wollte mir nicht einmal zuhören.«
»Soll ich mit ihm reden?« Mária schob sich zwischen den Schatten hindurch. »Er kennt mich und vertraut mir.«
»Du darfst nicht in die Sonne«, erinnerte Hanna. »Wo ist eigentlich Mónika? Ich bin mir sicher, sie würde es tun, um ihren Sohn zu retten. Hat jemand sie gesehen?«
Wenn keiner der Schatten, die auf ihrer Seite standen, Attilas Mutter gefunden hatte, wenn nicht einmal die Wölfe sie aufgespürt hatten, dann war sie vermutlich längst tot.
»Na gut. Wen haben wir noch, wer wurde bisher nicht verwandelt?«
»Die Jaschbiner«, meinte Farank. »Wir befürchten allerdings, dass der Biss eines Wolfs bei ihnen nicht denselben Effekt hat wie bei uns, denn sie sind von anderem Blut als wir. Damit bleibt nur noch meine Gemahlin.«
»Aber sie ist in Jaschbiniad, wie Ihr wisst«, wandte Hanna ein. »Wie sollen wir sie da rechtzeitig herholen?«
»Wir werden angegriffen!«, schrie jemand, und im nächsten Moment brachen Hunderte von Schattenkriegern zwischen den Bäumen hervor.
»Alle zu mir!«, brüllte Farank. »Beschützt die Pforte! Lasst sie nicht durch die Pforte!«
Ohne zu zögern stellten sich die Rebellen Kununs Soldaten in den Weg.
»Wikor, bring Hanna weg!«, rief der König noch, dann stürzte er sich ins Getümmel.
Der riesenhafte Krieger gehorchte, packte Hanna um die Mitte und schleppte sie davon. Der Fluss glomm zwischen den Stämmen, als er sie endlich wieder absetzte. »Beim Licht, ich muss zurück und die Pforte verteidigen. Kommt Ihr zurecht, Prinzessin?«
Hanna merkte, dass er ihr immer noch nicht traute, dass er ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte, wenn es ihm erlaubt gewesen wäre.
»Warte.« Ihre Gedanken jagten sich, drehten sich im Kreis … und stellten schließlich eine Idee, als wäre diese ein Wild, das Haken schlug. »Wir müssen eine neue Pforte öffnen. Hier.«
»Ohne einen Menschen?«
»Sorgt Ihr für den Wolf, ich hole die Königin.«
Schon einmal war ein Mensch aus Jaschbiniad verschwunden. Der Legende nach war der König aus Akink aus einem Turm entkommen und noch vor den Truppen zu Hause angelangt. Das hatte Kunun ihr auf der Brücke erzählt. Jedes Wort, das sie dort über der schwindelerregenden Höhe gewechselt hatten, hatte sich ihr tief eingeprägt. Wie hatte der König das damals wohl fertiggebracht, wenn nicht durch irgendjemandes Traum?
»Die Königin glaubt, dass sie träumt. Sie lebt in Träumen gefangen. Das ist die Brücke zu ihr, die Kunun für uns gebaut hat, ohne es zu ahnen.«
»Die Wölfe gehen in Träumen spazieren«, sagte Wikor. »Selbst wenn manche Schatten das ebenfalls können, was nützt es, wenn Ihr sie auf diese Weise erreicht? Ihr seid ja nicht leibhaftig da.«
»Wir gehen durch Wände und durch die Dunkelheit. Warum sollten wir nicht durch einen finsteren Traum gehen können?« Eine Erinnerung kam Hanna in den Sinn, über die sie bisher nie nachgedacht hatte. Es war, als fielen ihr Schuppen von den Augen. »Er war da, in meinem Traum. Der Herr der Wölfe. Ich dachte, ich würde bloß eine Stimme hören, aber er war wirklich da! Nicht immer auf dieselbe Weise, manchmal nur wie ein Bild oder eine Spiegelung, aber manchmal stand er auch neben meinem Bett.«
»Wer?«, fragte Wikor skeptisch. »Der Herr der Wölfe? Wer soll das sein?«
»Ich glaube, es war König Farank«, antwortete Hanna. »Ich habe ihn nie richtig gesehen, er hat sich immer im Dunkeln gehalten, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir helfen wollte, mich an meine Liebe zu Mattim zu erinnern. Er war wie ein Traumbegleiter, er hat die Wölfe in meine Träume gebracht. Er kann es, er konnte zu mir kommen, genau wie die Wölfe! Es geht, Wikor!«
»Selbst wenn Ihr es schafft, zu Elira zu gehen, wie wollt Ihr sie mitnehmen? Das ist noch etwas ganz anderes.«
»Nein, ist es nicht. Schatten können Menschen mitnehmen, wenn sie durch Pforten oder Wände gehen. Ein Mensch allein käme niemals hindurch, aber wenn der Schatten ihn an der Hand hält, dann geht es. Warum sollte es mit Träumen anders sein? Ich vermute, es hat bloß noch nie jemand versucht.«
»Dann könnten wir ja auch gleich Attila herholen!«
»Attila wird wohl kaum schlafen«, seufzte Hanna. »Leider. Elira dagegen träumt, weil sie nicht anders kann. Versuchen wir es!«
Sie war nicht sonderlich gut darin, Mauern zu durchschreiten, aber in ihren Träumen fühlte sie sich stets sicher. Wenn sie dem goldenen Wolf begegnet war, hatte sie nie das Gefühl gehabt, etwas Ungewöhnliches zu tun.
»Er hat Kununs Braut!«, schrie jemand. Zwei Schatten brachen aus dem Wald, es waren Kununs Diener. »Was tut Ihr mit ihm, dem Rebellen? Was tut Ihr hier, Prinzessin?« Offenbar hatte ihr Verrat sich noch nicht herumgesprochen.
»Das hier erledige ich«, sagte Wikor und zog sein Schwert. »Geht Ihr los und holt Elira. Ich gebe Euch Rückendeckung.«
Hanna lief nur so weit, bis das Krachen der Schwerter sie nicht allzu sehr störte. Dann lehnte sie sich gegen einen Baum und schloss die Augen.
Sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Aufgabe. Denk an Elira. Denk an die Königin, die durch die steinernen Gänge der Felsenstadt schreitet, gebeugt, mit dem Besen, und träumt. Zwischen uns ist nur ein Schleier, ein dunkler Vorhang.
Sie machte einen Schritt nach vorne – in den Traum einer Frau, die davon träumte, dass sie die Königin des Lichts war.
Elira sang. Sie schwang den Besen und sang. Sie herrschte über das Land. Sie hütete das Licht. Sie warf die Geschichten aus wie Netze, um darin das Schicksal zu fangen, das eine Schlange war, schwarz und schillernd. Nein, es war der Fluss, er wand sich und zuckte in Todesqualen wie ein Aal, den man aufs Trockene geworfen hatte. Er starb und kämpfte immer noch um sein Leben.
Er glich einer silbernen Schlange, die schrie.
»Elira«, sagte Hanna im Traum. »Das ist ein Albtraum. Sehen Sie nicht dorthin. Bitte, schauen Sie mich an.«
Die Königin hob den Kopf. Sie war überraschend jung, kaum älter als Hanna. »Der Fluss ist tot«, sagte sie. »Wie konnte das geschehen? Er darf nicht sterben, er war ein ganzes Zeitalter lang unser Schutz. Jetzt ist er nur noch eine Peitsche, mit der man die Schatten in den Wäldern zusammentreibt.«
»Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte Hanna. »Dann gehen wir in die Wälder.«
»Zu den Schatten? Ich darf diese Stadt nicht verlassen, es ist viel zu gefährlich. Der Wind schaukelt auf der Brücke wie ein Kind über den Wolken.«
»Vertrauen Sie mir. Hier, meine Hand. Wir retten den Prinzen.«
Elira legte die Stirn in Falten, aber auch damit sah sie viel zu jung aus, um mütterlich zu wirken. »Welchen?«
»Den kleinsten. Kommen Sie, wir retten den kleinsten Prinzen.«
»Ist er blond?«
»Nein, er hat schwarze Haare und ein freches Lächeln. In ihm ist so viel Licht, dass die Welt sich verwandeln wird.«
Die Königin ergriff die ausgestreckte Hand. Es fühlte sich so real an, dass Hanna erschauerte. »Kommen Sie«, sagte sie und ging rückwärts durch den Vorhang. Der Stoff streifte ihren Rücken, blieb an ihren Haaren hängen.
Nein, es war kein Vorhang, es waren Zweige und Blätter. Im nächsten Moment standen sie im Wald.
Irgendjemand schrie. Dann tauchte Wikor auf, mit zerzausten Haaren und einer blutigen Schramme im Gesicht. »Die stehen nicht so schnell wieder auf. Aber …«
Er starrte die Königin an, und die Königin starrte zurück. Sie war tatsächlich hier. Es hatte geklappt!
»Prinzessin?«, fragte Elira verwirrt. »Wer ist der Kerl? Ein Wächter, blutbesudelt?«
»Flusshüter war ich, Flusshüter bin ich«, sagte Wikor und verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, Majestät. Und nun folgt mir, es eilt.«
»Majestät? Ich diene nur. Ich diene Akink.«
»Ja, und auf diese Weise dienen Sie Akink am besten«, sagte Hanna. »Rasch!«
»Das ist die schnellste Methode. Bitte verzeiht mir meine Frechheit.« Kurzerhand hob Wikor die Königin hoch und trug sie. So schnell sie konnten, jagten sie schattengleich durch das Waldesdunkel.