18

WALD, MAGYRIA

Es kam selten vor, dass Hanna in Kununs Schloss übernachtete, in ihrer eigenen Wohnung hielt sie sich einfach lieber auf. Doch heute … War es das schlechte Gewissen? Sie hatte nicht vor, schuldbewusst angekrochen zu kommen, dennoch war sie ein wenig erleichtert, Kunun nicht anzutreffen. Das gab ihr Zeit, darüber nachzudenken, ob sie ihm von der Begegnung mit Mattim erzählen sollte oder nicht.

Sie legte sich ins Bett und versuchte es sich gemütlich zu machen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Seifenblasen, Sonne … und er. Wie sollte sie dieses Bild aus ihrem Kopf bekommen? Mattim auf der Wiese unter den Bäumen …

Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Schlagartig war sie hellwach. »Kunun?«

Alarmiert fuhr sie hoch – und da stand er vor ihrem Bett. Nicht Kunun, nur der alte graue Wolf.

»Du schon wieder. Was ist es denn diesmal?«

Er tappte auf sie zu und öffnete das Maul.

Ungläubig starrte Hanna auf das, was er auf die seidene Decke gelegt hatte. Einen Schlüssel, verschnörkelt, dunkel angelaufen, uralt. Nein, sie hatte keinerlei Zweifel, für welche Tür er bestimmt war.

Sie wollte schon in ihre Schuhe schlüpfen, als ihr einfiel, wie heimlich er immer tat. Also lief sie barfuß los, und der Wolf rannte neben ihr her. Unwillkürlich fühlte sie sich an ihre Träume von jenem anderen Wolf erinnert, den sie durch das blühende Gras begleitete, der mit Leichtigkeit und Anmut vor ihr hersprang, in spielerischer Kraft und Geschmeidigkeit. Im Traum streckte sie die Hände nach ihm aus, nach seinem goldenen Fell …

In der Realität gab es nur den grauen Wolf, der unvermittelt stehenblieb. Selten war ihr ein Blick so menschlich vorgekommen. Er winselte wie ein Hund, als wüsste er nicht, welche Laute zu einem Wolf passten. Es war, als wäre ein Mensch in ein Tier verwandelt worden, dessen Eigenarten er spielen musste, ohne sie wirklich zu kennen.

»Wer warst du?«, fragte sie leise.

Manchen fiel das Wolfsein so leicht, als wären sie nie etwas anderes gewesen. Sie dachte an Bela und Wilder im Wald – Wölfe in Perfektion, die so mühelos durch die endlose Nacht glitten wie Fische im Wasser, Freude und Zuversicht in jedem Sprung, Stärke und Anmut in jeder ihrer Bewegungen.

Auf einmal fiel ihr ein, dass auch der goldene Wolf ihrer Träume einmal ein Mensch gewesen sein könnte. Nein. Sie wies den Gedanken weit von sich. Dazu bewegte er sich viel zu sicher, als gehörten ihm der Wald und die Wiese und jeder Grashalm, als wäre ganz Magyria sein … Er lauerte sogar hinter jedem Gedanken.

»Also, was ist hinter dieser Tür? Du weißt es, stimmt’s?«

Der Wolf warf sich ihr zu Füßen und legte den Kopf auf die Pfoten. Selbst diese flehende Geste, die Tür zu öffnen, kam Hanna irgendwie aufgesetzt vor. Als sie den Schlüssel hervorzog, ächzte er, und seine Gefühle drohten ihn zu überwältigen.

»Was kann dir so viel bedeuten?«, fragte Hanna leise. Der Schlüssel ließ sich spielend leicht umdrehen, was darauf hindeutete, dass er häufig benutzt wurde. Auch die Tür öffnete sich ohne das geringste Knarren. Der Wolf stürmte hinein, bevor Hanna ihn daran hindern konnte, doch dahinter war bloß ein weiterer langer Korridor.

In einem Punkt waren die neue und die alte Hanna sich gleich. Sogar als Schatten war sie immer noch viel zu neugierig, und Herumschnüffeln war erklärtermaßen eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Außerdem hatte sie eine Vorliebe für verschlossene Türen. Die Erinnerung fühlte sich an wie ein Traum – wie sie Kunun und Atschorek durch die Stadt gefolgt war, in das Haus am Baross tér, unter den Löwenköpfen hindurch, die die Haustür bewachten. Wie sie eine Treppe hochgestiegen war und die beiden über das Balkongeländer beobachtet hatte, wie sie vor Kununs leisen Schritten höher geflohen war …

Schon damals hatte sie sich wie eine Jägerin gefühlt, hatte die Erregung genossen, mit der das Jagdfieber durch ihre Adern geströmt war. Angst, Schrecken, Aufregung. Der unwiderstehliche Drang, alles wissen zu wollen, den Dingen auf den Grund zu gehen … Und dann? An dem Punkt wurde der Traum verschwommen. Ein Fahrstuhl, eine gläserne Wand, Dunkelheit im Hof hinter ihr, eine lange Nacht in der Kälte, während die Scheibe sich mit Eisblumen überzog.

Da sie nur in Begleitung eines Wolfs durch die Burg schlich, überkam sie auf einmal ein ähnliches Gefühl wie damals, als sie versucht hatte, ein Beweisfoto zu schießen, um Réka davon zu überzeugen, dass ihr Freund ein Vampir war. Wieder versuchte sie Kunun auszutricksen und mehr über ihn zu erfahren, als er preisgeben wollte. Es kam ihr ein wenig hinterhältig vor, andererseits – warum hatte er überhaupt Geheimnisse vor ihr?

Der graue Geselle mit der weißen Schnauze blieb an ihrer Seite, er ließ nicht locker, schnappte nach ihrem Ärmel und zerrte daran.

»Ich soll aufhören zu träumen und mich beeilen, stimmt’s?«

Das Tier gab einen überraschend menschlichen Seufzer der Erleichterung von sich. Dann huschte es vor ihr her, und Hanna folgte ihm durch eine Flucht stiller, verlassener Räume. In der Ferne ertönte leiser Gesang, als hätte jemand ein Radio vergessen.

Sie warf dem Wolf einen verwunderten Blick zu. »Wer ist das?«

Bald erhielt sie die Antwort darauf. Ganz menschenleer war dieser Bereich nämlich nicht – in einem der Säle befand sich eine Frau mit einem Wassereimer und einem Schrubber, die den Marmorboden wischte. Sie trug ein schlichtes Kleid und ein Kopftuch, das ihr die Haare aus dem Gesicht hielt. Während sie im Schein einiger trüber Lampen putzte, sang sie gedämpft vor sich hin.

Der Wolf wimmerte wie ein Kind. Als er auf sie zulief, rutschte er auf dem nassen Boden aus und schlitterte ein paar Meter, ehe er gegen den Eimer stieß und im Seifenwasser zappelte, das sich über die Fläche ergoss. Er mühte sich ab, als versuchte er, über einen zugefrorenen See zu laufen.

»Bist du schon wieder da, Wolf?«, fragte die Frau. »Jetzt kann ich hier alles noch mal machen. Sieh nur, was du angerichtet hast!«

»Elira?«, fragte Hanna und trat vorsichtig näher. »Königin Elira?« Sie war entsetzt. Nicht nur weil Kunun ihr verschwiegen hatte, dass seine Mutter in der Burg war, sondern auch weil mit Elira alle bösen Erinnerungen an die Gefangenschaft zu ihr zurückkamen. An den Kerker, die Wachen mit den Fackeln, daran, wie die Stunde der Hinrichtung näher rückte…

Nein, es gab keinen Grund, Mitleid zu haben. Ob Mutter oder nicht, diese Frau war ihre Todfeindin.

Allein der Wolf freute sich, sie zu sehen, begeistert leckte er ihr die Hand. Unter der hohen, gewölbten Decke war es schummerig, kein Leuchten ging von der Königin des Lichts aus, trotzdem war Hanna froh, dass sie vor nicht allzu langer Zeit Menschenblut getrunken hatte. Elira war eine reale Gefahr für jeden Schatten.

»Was tun Sie hier?«

»Seid Ihr an seiner Stelle gekommen, Prinzessin? Wird der Jäger mich heute nicht besuchen, um mir von der Dunkelheit zu erzählen?« Die sanfte Stimme klang vertraut. »Davon, wie Magyria im Schatten versinkt, wie der Fluss ausblutet, wie der Widerstand der Akinker, die gegen ihren Willen zu Schatten gemacht worden sind, sich im Nichts auflöst, wie alles, woran sie festhalten wollen, dahinschmilzt. Die Wächter hüten und pflegen jetzt die Finsternis. Gibt es denn keine Lichtprinzessinnen mehr, die das Licht wie einen Stern in ihren Händen bewahren?«

»Was reden Sie da?«, stammelte Hanna, während der Schrecken sich weiter in ihr ausbreitete, als würde ein großer, dunkler Vogel seine Schwingen entfalten. Es war nichts Böses daran, an Kununs Festen teilzunehmen oder das zu tun, was ein Schatten eben tun musste, um nicht unterzugehen – die Zähne in menschliche Haut zu schlagen. Es war natürlich; einem Wolf machte man ebenfalls keine Vorhaltungen, weil er seiner Natur folgte und jagte.

Elira senkte die Stimme. »Ich träume«, flüsterte sie. »Vielleicht ist auch das hier nur ein Traum. Mir war, ich sei die Königin gewesen. Über der Stadt hing ein Leuchten, und wir tanzten durch die Nächte. Kutschen fuhren über die Brücke, der Prinz ritt auf seinem Pferd durch die Stadt, und die Mädchen winkten … Das gibt es nur im Traum, stimmt Ihr mir da nicht zu? Die Lichtprinzessin sollte an seiner Hand gehen, aber sie ließ ihn los und rannte davon. Oder?«

»Ich … ich weiß nicht«, stammelte Hanna.

»Es gibt kein Licht und keinen Tag. Also muss es ein Traum gewesen sein. Ach, wie dumm ich bin!« Sie lachte kopfschüttelnd. »Ich wische die Böden und träume davon, eine Krone zu tragen und dass alle die hübschen Prinzen und Prinzessinnen meine Kinder sind. Verrückt, nicht?«

Ich habe kein Mitleid, sagte Hanna sich. Sie musste ihn sich mehrmals vorsprechen, diesen einen Satz, der einen Zaun um sie errichten sollte, damit sie nicht schwach wurde. Wenn es nach Ihnen ginge, wäre ich längst tot, wollte sie sagen. Sie haben mich zum Tode verurteilt, ohne mich anzuhören! Das Licht, von dem Sie träumen, hat es nie gegeben. Rauschende Feste, fröhliche Kinder? Die Realität sieht anders aus. Ich war da, im Verlies, ich weiß genau, wie hart und gnadenlos das Licht war, wie eine Sonne, die alles verbrennt, gegen die man sich nur schützen kann, indem man den Schmerz hinaus in die Welt trägt.

Elira wandte sich ihr zu und erstarrte. »Gehört der Wolf zu Euch? Habt Ihr ihn hergebracht, werte Dame? Dann verzeiht mir meine Frechheit.«

»Aber wie … wie reden Sie denn mit mir? Warum putzen Sie hier? Sie sind doch die Königin! Warum glauben Sie, dass Sie träumen? Ich dachte …«

War da nicht ein Boot, irgendwo im Dunkel der Erinnerung? Ein Boot auf dem Donua, während die Stadt von Schreien widerhallte und die Wölfe durch die Straßen huschten. Der goldene Wolf ist da. Ich beuge mich zu ihm hinunter, die Hände auf seinem weichen Fell, und mir ist, als würde ich in seinen Augen versinken, die wie Wolken sind oder wie das Meer unter einem stürmischen Himmel

In Eliras Augen dagegen herrschte Leere. Sie war immer noch ein Mensch, durch dessen Blut das Traumleben von Magyria floss. Dennoch war sie verändert, wirkte sie wie eine Schlafwandlerin, eine Fieberkranke, die nicht wusste, was sie da redete.

»Wovon Ihr bloß sprecht, meine Dame«, sagte die Königin. »Verspottet mich nicht, ich bitte Euch. Ich sorge nur dafür, dass alles schön sauber ist und glänzt und dass sich die Lampen im Boden spiegeln. Das gefällt mir, wenn alles funkelt und glitzert, wenn es sauber ist. Oh ja, sauber muss es schon sein.« Sie begann das Wasser mit dem Lappen aufzunehmen und wrang diesen über dem Eimer aus.

Der Wolf wich den Tropfen aus und stakste vorsichtig zu Hanna zurück.

»Königin Elira, was ist bloß mit Ihnen passiert?«

Kein Mitleid. Sei stark, hab kein Mitleid.

Die Königin antwortete nicht. Sie strich sich eine Strähne ihres blonden Haares unter das Kopftuch und fuhr mit der Arbeit fort. Mit raschen, sicheren Bewegungen putzte sie, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht, als die Böden der Akinker Burg zu wischen.

Hanna legte eine Hand auf den Kopf des Wolfes, der wieder zu winseln anfing. Er hörte sich nicht an wie ein Hund oder ein Wolf, sondern wie ein jammernder Mensch.

»Ich verstehe es ja auch nicht«, murmelte Hanna. »Wie kann das sein? Sie hat den Verstand verloren. Träumt sie nun, dass sie die Königin war, oder träumt sie, dass sie eine Dienerin ist?«

Die Augen des Wolfs richteten sich auf sie, und etwas blitzte darin auf, eine vorher nicht da gewesene Härte, ein Aufflackern von Zorn.

»Nicht? Sie hat den Verstand nicht verloren? Glaubst du, sie spielt das nur? Sie tut, als wüsste sie nicht, wer sie ist, damit Kunun sie frei in der Burg herumlaufen lässt?«

Er starrte sie weiterhin unbewegt an.

»Also nein. Ihr Zustand ist echt, natürlich. Was ist es dann? Sie weiß nicht mehr, dass sie die Königin ist … das heißt, sie hat das Gedächtnis verloren?«

»Sprecht ruhig mit diesem Vieh über mich«, beschwerte sich die Putzfrau. »Auch wenn Ihr eine höhergestellte Persönlichkeit seid, nett ist das nicht.«

»Sie weiß es nicht«, flüsterte Hanna. »Nicht mehr. Wie konnte sie nur alles vergessen? Wollte sie nicht mehr ertragen, was sie uns alles angetan hat? War es ihr zu viel, die Verzweiflung darüber, dass alles verloren ist?«

Die Augen des Wolfs waren wie Kiesel, hart und rund, dann zog er ganz langsam die Lefzen hoch und entblößte seine Zähne.

»Die Erinnerung wurde ihr also genommen? Geraubt? Jemand hat ihr die Identität gestohlen? Wie ist das möglich? Man kann doch nicht einfach …« Sie brach ab. Doch, man konnte. Wenn ein Schatten jemanden biss, raubte er ihm mit seiner Lebenskraft immer auch ein Teil von seinem Gedächtnis.

War vielleicht ein besonders geübter Schatten in der Lage, jemandem nicht nur die letzten Minuten oder Stunden, sondern ein ganz spezielles Stück seiner Identität zu rauben?

Er hat dich gestohlen, hatte Mattim über Kunun gesagt.

»Nein«, sagte sie zu dem Wolf. »In dem Fall kann das nicht zutreffen. Erstens, sie ist jemand von hier. Wenn sie gebissen würde, würde sie ein Wolf werden, so wie du. Zweitens, der gebissene Mensch vergisst eine kleine Zeitspanne, höchstens ein paar Stunden. Man kann die Königin nicht so beißen, dass sie nicht mehr weiß, wer sie ist. Dazu müsste man ihr ein paar Jahrzehnte wegnehmen. Ich habe keine Ahnung, wie alt sie ist, aber soviel ich weiß, bleibt die Familie des Lichts besonders lange jung. Diese Frau ist mindestens hundertzwanzig Jahre alt, auch wenn sie aussieht wie fünfzig. Niemand könnte sie so beißen, dass sie hundert Jahre vergisst – und dann auch noch glaubt, sie wäre eine Putzfrau. Bestimmt wäre es einfacher, sie zu hypnotisieren oder so. Ist sie das? Hypnotisiert?«

Der Wolf hörte ihr sehr aufmerksam zu, und seine Ohren zuckten leicht.

»Wer würde das tun? Wer würde es wagen, die Königin in eine Dienerin zu verwandeln? Sie ist Kununs Mutter! Er würde niemals erlauben …« Sie ignorierte Eliras Aufstöhnen, als sie über die feucht glänzenden Marmorfliesen ging. »Wer hat Ihnen gesagt, was Sie tun sollen?«

Mit einem Seufzen betrachtete die Königin Hannas Fußabdrücke.

»Wer hat Ihnen diese Arbeit gegeben?«

»Seid Ihr unzufrieden mit mir? Glänzen die Böden nicht genug? Dann solltet Ihr besser gehen, werte Dame, damit ich hier in Ruhe weitermachen kann.«

»Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?«

Elira musterte Hanna, von den bloßen Füßen bis zu den dunklen Haaren. »Natürlich weiß ich das, ich bin ja nicht dumm. Die Geliebte des Prinzen seid Ihr, Hanna. Ihr wart an seiner Seite in der Zelle … Ihr standet auf der Brücke und habt für ihn gesprochen, bevor die große Dunkelheit kam.«

»Erinnern Sie sich auch noch an das Boot?«

Nach kurzem Nachdenken schüttelte die Königin den Kopf. »Da ist etwas … Nein, das war nicht ich. Ich habe es beobachtet, aus der Ferne. Aber Ihr wart da, in der Zelle bei dem Prinzen.«

»Kunun war nie in der Zelle«, sagte Hanna. »Er hat mich dort herausgeholt.«

»Der Prinz war da«, beharrte Elira. »Die Königin hat ihm eine Geschichte erzählt. Wisst Ihr das denn nicht mehr?«

Eigentlich erstaunlich – es passte tatsächlich alles zusammen. Unverhofft hatte sie die Erklärung dafür erhalten, wie sie durchs Labyrinth entkommen konnte, während Kunun festgenommen wurde. Mattim war da gewesen, an ihrer Seite, sie waren gemeinsam geflohen. Ihr Prinz. Die Erinnerung kam nicht zurück, das zerteilte Bild setzte sich nicht wieder zusammen. Immer noch hatte sie nur Bruchstücke vor Augen. Da war Kunun, der kämpfend vor der Zelle auftauchte, der sie trug … Doch wie sollte sie an etwas glauben, von dem sie nichts wusste? Es konnte nicht so gewesen sein, wie Elira sagte, sie fantasierte bloß.

Die Königin lehnte den Schrubber gegen die Wand und setzte sich auf das gemauerte Sims eines Fensters, das auf die dunkle Stadt hinausging. »Das ist eine alte Geschichte. Vor langer Zeit, als Magyria noch voller Zauber war, das Land der Magie, pflegten die Menschen hin und wieder die Grenzen von Traum und Wirklichkeit zu überschreiten. Sie setzten einen Fuß in jenes andere Land, das nur einen Lidschlag von unserem entfernt ist, und besuchten dort die Schläfer. Sie kamen zu ihnen als Wölfe, suchten sie in ihren Träumen heim und sangen sie in den Schlaf …« Sie schüttelte sich und zupfte an ihrem Kopftuch. Als sie es löste, wurde ihr zu einem Knoten gebundenes Haar sichtbar.

»Darf ich?«, fragte Hanna und strich darüber, als hätten sich Blätter in den grauen und goldenen Strähnen verfangen, welke, raschelnde Herbstblätter. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte sie. »Aber daran kann ich mich nicht erinnern. Ich habe allein in meiner Zelle gesessen, ich war so einsam und verloren, bis Kunun kam.«

»Sein Haar glänzte im Schein der Fackeln wie das Stroh, und beides würde brennen. Goldenes Stroh. Das Feuer würde darüber hinweggleiten wie über eine blühende Wiese …« Es war so still, dass man das Seifenwasser vom Putzlappen am Rand des Eimers auf den Boden tropfen hörte.

»Wer war bei mir in der Zelle?«, fragte Hanna.

»Ich weiß es nicht.« Die Königin griff nach dem Schrubber. »Seine Mutter war da. Ich nicht. Ich habe bloß davon geträumt, wie die Wölfe heulen, und von der Liebe eines Mädchens.«

Es war falsch, dass die Königin hier war, eine Gefangene in dieser düsteren Burg. Ganz und gar falsch. Auch wenn Kunun das Recht hatte, seine alte Feindin hier festzuhalten … Sie war immer noch seine Mutter.

»Ich hole Sie hier raus.« Wo war bloß die nächste Pforte? Zum Glück gab es jede Menge davon in der Burg. Aber nicht hier. Es war eine Gewissheit, für die sie keine Erklärung hatte. In diesem Teil des Gebäudes nicht. Deshalb hält er sie hier fest, damit kein Schatten auftauchen und sie wegholen kann.

Es war zwecklos, Kunun zu fragen oder ihm Vorhaltungen zu machen, es war sinnlos, ihn zu bitten, Elira freizulassen. Hanna wusste das. Jemand, der so tief verletzt worden war … Nein, es lag an ihr zu handeln. Am besten, er erfuhr niemals, was sie zu tun gedachte.

»Kommen Sie.« Hanna fasste die Königin am Arm, schob sie durch den Raum und lotste sie um den Eimer mit dem Wischwasser herum. »Rasch, solange er nicht zu Hause ist.«

Sie hatte keinen Plan. Sie wusste nur, dass sie sofort handeln musste, denn eine zweite Gelegenheit würde es sehr wahrscheinlich nicht geben. Der Wolf machte einen Sprung, und ein Leuchten überzog sein Tiergesicht. Er rannte voraus, während Hanna die Königin durch die Gänge zog, sie eine Treppe hinaufschubste, mit ihr durch eine dunkle Nische und schließlich vor eine Tür trat.

»Ich darf nicht hier sein«, wisperte Elira. »Das ist nicht für mich. Hier ist die Königin gegangen, in deren Seele das Licht wohnte. In meinem Traum schreitet sie durch das Schloss, voller Glanz.« Ihre Stimme wurde noch leiser, war kaum mehr zu verstehen, als sie sagte: »Und Bitterkeit. Nicht nur das Licht war da. Acht Kinder hat sie verloren. Sieben Kinder wurden geholt, sieben Kinder stürzten in die Dunkelheit … nur das achte ging freiwillig. Das achte glaubte, es könnte kämpfen, es wäre stärker als alle anderen … Mit dem ersten Sohn begann es, und mit dem letzten endete es. Das Verderben fand in ihm seine Vollendung. Was für ein merkwürdiger Traum, nicht wahr?«

»Ab jetzt kein Wort mehr«, sagte Hanna. »Hier sind überall Wächter, die uns weder sehen noch hören dürfen.«

Sie schob die Königin durch die Tür und schloss hinter ihnen ab.

Der laute Atem Eliras zerschnitt die Stille. »Die Königin weint um ihn«, flüsterte sie. »Ich träume bloß davon. Ich wische die Böden und singe, doch die Königin träumt, während sie am Grund des Flusses liegt und das Wasser über sie hinwegrauscht. Sie streckt die Hände aus nach ihrem Jungen. Er darf nicht verbrennen. Nicht er. Auch wenn alle anderen verloren sind, er darf nicht verloren gehen. Rettet ihn, Prinzessin! Ihr müsst ihn retten!«

Sie hätte der Frau am liebsten ein Pflaster über den Mund geklebt. »Dort vorne ist eine Pforte. Du musst leider hierbleiben, Wolf.«

Er schaute sie mit traurigen Augen an. »Ihr wird nichts geschehen, ich verspreche es.« Dann nahm Hanna Elira bei der Hand und schritt mit ihr hinüber in ihre eigene Welt.