Prolog
Eine einzelne weiße Kerze beleuchtete die Speisen und Getränke auf dem Tisch: zwei Teller, zweimal Steak mit Soße, zweimal Trüffel, zwei edle Kristallgläser, in denen sich die kleine Flamme spiegelte. Der Wein darin, schwer und samtig, schimmerte wie schwarze Tinte.
Nur einer der beiden am Tisch Sitzenden nippte daran. Als er sich vorbeugte, wurde für einen Moment sein zerfurchtes Gesicht beleuchtet. Sein überaus teurer maßgeschneiderter Anzug verschmolz mit der Dunkelheit, doch dafür zog der diamantenbesetzte Ring an seinem Finger – dem einzigen an der linken Hand, dem nicht entweder die Kuppe fehlte oder der bis auf den Knochen aufgeschlitzt war – die Aufmerksamkeit auf sich.
»Dieser Wein ist einen Mord wert«, sagte er. »Es wäre schade, ihn verkommen zu lassen.«
Wenn man ihn nicht ansah, hätte man glauben können, er sei schön. Seine Stimme war seidig und dunkel, leise. Ein Flüstern hinter dem Vorhang, wie ein Souffleur, der den Akteuren ihren Text vorsagt. Er wusste alles, immer. Wie ein Puppenspieler zog er an den Fäden, wie bei einem Magier genügten eine Handbewegung und ein Wort, und Dinge geschahen … Dinge, die es gar nicht geben durfte.
Aber alles wusste er auch nicht, sonst hätte es dieses Treffen nicht gegeben. Das verlieh dem Gespräch der beiden ein gewisses Gleichgewicht. Wie Gold in zwei Waagschalen – Wissen und Macht, zwei Schätze. Die Macht war wie ein scharfes Schwert, unerbittlich und tödlich, und dagegen stand bloß ein goldener Traum. Wenn man alles einsetzte, konnte man alles verspielen oder alles gewinnen.
»Lebt Mattim?«, verlangte Kunun zu erfahren.
Manchmal musste man den dunklen Weg gehen, den Weg des Verrats. Irgendjemand musste es tun. Nur wenn das Samenkorn in die Erde gelegt wurde und starb, konnte es keimen und ins Licht wachsen.
»Ist das denn wichtig? Was kümmert es den mächtigen König der Schatten, ob sein kleiner Bruder lebt, der längst keine Gefahr mehr für ihn ist?«
Unter dem Tisch atmete ein Tier. Weil es so still war, konnte man das Rascheln des Fells hören, während der Leib an einem der Stühle vorbeistrich.
»Ich frage nicht nach meinem Bruder, weil ich befürchte, dass er in irgendeiner dunklen Ecke finstere Pläne ausheckt. Er ist geschlagen, das wissen wir beide. Endgültig. Es gibt überhaupt nichts, was er noch tun könnte. Also besteht auch kein Grund, ihn zu schützen oder ihm zu helfen.«
Die geschundene Hand des Vampirs fing den Blick seines Gegenübers ein. Der Ring war aus Gold, breit und schwer, für eine kräftige Männerhand geschaffen, und die funkelnden Diamanten wurden von einem Rubin in den Schatten gestellt, einem Rubin, so groß wie ein Blutstropfen.
»Helfen? Wobei könnte man denn jemandem helfen, der vermutlich sowieso längst tot ist?«
»Mich zu vernichten beispielsweise? Und was seinen Tod angeht … ich habe allen Grund, daran zu zweifeln. Sterben ist nicht mehr, was es einmal war, wie ich allzu gut weiß. Welcher Tod ist schon endgültig? Totgesagte leben länger, wie es so schön heißt.« Kunun beugte sich vor und legte seine kühle, leblose Hand auf die seines Gegenübers. Etwas kratzte. Vielleicht ein Knochensplitter? Besser nicht darüber nachdenken.
»Die Unsterblichkeit«, erklärte Kunun geduldig, »hat gewisse Nachteile. Einer davon ist die Langeweile. Es gibt noch genug, was ich genießen kann – einen Wein wie diesen beispielsweise. Ich bin ein Genussmensch. Ich bin, wenn man so will, dazu erzogen worden, gute Dinge zu schätzen.« Er lachte leise. »Meine Sinne sind ausgeprägter als je zuvor, verfeinert durch langjährige Übung.«
Das entstellte Gesicht bewegte sich vorwärts, in den Lichtstrahl der kleinen Kerze.
Kunun spießte einen Bissen auf seine Gabel. »Es ist vorzüglich«, versicherte er, »ganz vorzüglich. Wild aus meinen Wäldern. Ich habe begnadete Jäger in meinem Gefolge, und ich bin wohl nicht über Gebühr unbescheiden, wenn ich zu behaupten wage, dass ich der beste von ihnen bin.«
»Wild? Was für ein Wild? Was lebt noch, dort, wo der Tod herrscht?«
Kunun lachte wieder. »Auch in der Finsternis gedeihen Tiere und Pflanzen. Was in meinen wilden Gärten wuchert, verlangt nicht nach Sonne. Und die Geschöpfe, die zwischen Dornen und Schattengewächsen umherschleichen, haben das Licht schon immer gescheut. Woran sie guttun – jedenfalls im Interesse zarter Gemüter. Albträume wohnen im Dschungel, den die Sonne meidet. Beantwortet das die Frage?«
»Ja«, flüsterte die andere Person.
»Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, beim Genuss. Ein Schatten verliert nichts – nicht die Fähigkeit zu schmecken oder zu riechen noch jene zu fühlen. Alles ist, wenn man so will, vielmehr übersteigert. Wir Schatten sind sehr empfindlich. Das erhöht in gewisser Weise die Ansprüche. Wenn man alles hat, was man immer wollte – ist man dann glücklich?«
»Darum geht es also? Um Glück?«
»Natürlich. Darum geht es doch immer. Um Glück und um … Familie.« Er lächelte weiß durch den dünnen Rauch der Flamme. »Für einen Schatten ändert sich alles. Wie könnte einem Unsterblichen dasselbe wichtig sein wie einem normalen, sterblichen Menschen? Wie kann jemand, für den Licht eine tödliche Gefahr ist, hoffen, dass die Sonne aufgeht? Wenn man erst das Entsetzen über die neue Existenz überwunden hat, stellt man rasch fest, dass sich die Prioritäten verschieben. Die Familie dagegen – die bleibt einem. Schließlich ist auch das eine Frage des Blutes. Alles, was man besitzt, erwirbt man nicht nur für sich selbst, sondern stets auch für die anderen. Die Familie ist womöglich das Wichtigste überhaupt. Was nützt einem der ganze Reichtum, die ganze Welt … wenn man ihn nicht teilen kann?«
Dass dieses wahnsinnige, grausame Wesen solche rührenden Worte von sich gab, war kaum zu glauben.
Wissen ist Macht. Darum bist du hier. Er hält sich für mächtig; alles kann gut werden, solange das so bleibt. Und wenn … Aber nein, dieses Wenn war zu gefährlich. Jedes Wenn kostete ein bisschen Mut, Mut, den man dringend brauchte, wenn man einem Wesen gegenübersaß, das wie eins der wilden Albtraumtiere war, die im Dunkeln hätten bleiben sollen.
»Ist das etwa irgendwie lustig?«, erkundigte Kunun sich. Er klang leicht verletzt. Da war ein leises Knistern in seiner Stimme, als wohnte in seiner Kehle eine Schlange, deren Schuppen aneinanderrieben, während sie sich entrollte.
»Nein, ich … ich bin bloß überrascht. Woher dieser plötzliche Sinneswandel?«
»Warum sollte ich Mattims Tod wollen, wo ich doch dem Prinzen des Lichts – dem letzten, dem besten, dem strahlendsten von allen – meinen Sieg verdanke? Den Thron, die Burg, die Stadt, ganz Magyria? Das ist das eine. Und das andere … Ich habe in einem Buch geblättert, in dem viele erstaunliche Weisheiten stehen. Zum Beispiel Psalm dreiundzwanzig: ›Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.‹«
Sein Gast wartete. Als der Schattenkönig hartnäckig schwieg, gab er vorsichtig zu: »Ich begreife nicht ganz.«
»Das ist Gnade«, sagte Kunun, »wahre Gnade. Das ist der Himmel. Nicht der gedeckte Tisch, nicht, dass man bekommt, was man begehrt, sondern die Feinde, vor deren Augen es geschieht.«
»Oh.«
»Der Sieg bedeutet nichts. Nicht das Geringste, wenn keine Feinde mehr übrig sind, die ihn zu würdigen wissen. Ich glaube, in meinem Fall gibt es da noch ein paar, die das durchaus können. Deshalb macht mich dieser Glaube so froh … dass mein Bruder irgendwo da draußen ist und mit schwerem Herzen zusieht, wie ich feiere. Ist das nicht ein guter Grund, um ihm das Leben zu wünschen? Ich habe nicht vor, ihm etwas anzutun. Ich möchte ihn nur vor mir auf den Knien wissen.« Diesmal war da keine Heiterkeit, auch nicht in seiner Stimme, als er schroff fragte: »Lebt er?«
»Ja, er lebt.«
»Und?«
Nur ein Flüstern. »Ich weiß, wo er ist.«
»Ah.« Er trank noch einen Schluck Wein, schwarz wie Tinte, dickflüssig wie Blut.
Der Wolf unter dem Tisch gab ein leises, verzweifeltes Wimmern von sich. »Still!«, befahl Kunun. »Wir kommen der Sache näher. Was ich anzubieten habe, ist mehr als großzügig, oder nicht?«
Sein Gegenüber ließ sich Zeit mit einer Antwort und stocherte gemächlich in den Trüffeln herum. »Ja, ich glaube, das ist es«, sagte er schließlich mit angemessener Verzweiflung. »Mehr kann ich nicht verlangen. Aber nur unter der Bedingung, dass er am Leben bleibt.«
»Darauf können wir uns einigen. Wie ich schon sagte, je mehr lebende Feinde, umso besser.« Kununs weiße Zähne glänzten in der Dämmerung auf. »Das schwöre ich – bei meinem Leben. Oh bitte, nicht lachen. Ich meine es ernst.«
»Das … genügt. Es muss genügen.«
Kunun hob sein Steak vom Teller und ließ es unter den Tisch fallen. Es vergingen ein paar Sekunden absoluter Stille.
»Jetzt«, sagte Kunun. »Du darfst.«
Gierig verschlang der Wolf das Fleisch. Er musste völlig ausgehungert sein. Wer immer das hörte, konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sich Wolfszähne ins eigene Fleisch gruben.
Kunun schien mindestens ebenso erfreut wie der Wolf. Vielleicht hätte dieser am liebsten genauso gelächelt, als ihm die Belohnung vor die Nase gefallen war. »Wir können gerne noch eine zweite Flasche leeren. Man soll mir nicht nachsagen, ich sei nicht großzügig.«
»Ich bin hergekommen, um Mattim zu verraten. Demnach wäre es jetzt wohl zu spät, einen Rückzieher zu machen … aber es ist schwer. Viel schwerer, als ich dachte.«
»Wir haben genügend Zeit«, sagte Kunun geduldig. »Schließlich bin ich unsterblich.«