25
BUDAPEST, UNGARN
»So, wo müssen wir als Erstes hin?«, fragte Mirita. »Ich staune, wie schnell du das herausgefunden hast.«
»Ich kenne mich in dieser Welt schon recht gut aus.« Es gab keinen Grund, ihr zu verraten, dass die Liste mit den Adressen Bartóks Verdienst war. »Die Stadt ist mir mittlerweile fast so gut vertraut wie Akink.« Manchmal wunderte er sich selbst, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in Budapest bewegte, als wäre dies seine eigene Stadt und genauso ein Teil seiner selbst wie seine Heimat. Er hatte gedacht, es läge an Hanna, doch obwohl er seine Geliebte verloren hatte, war die Stadt immer noch da. Ihr Leben umgab ihn wie ein Rauschen, wie der Fluss, der um ihn herumströmte und fremdes Leben an ihm vorübergleiten ließ. Der dichte Verkehr, die Hitze, die wie eine Glocke über allem lag, der Staub und die grauen Häuser – alles vertraut, alles seins.
»Lass uns keine Zeit verlieren.« Die Zeit saß ihm im Nacken, denn die Dunkelheit wurde immer dichter, immer stofflicher, und es gab noch schrecklich viel zu tun. »Wir werden bestimmt an vielen Türen vergeblich klingeln. Ach, und du solltest vorher noch Blut trinken. Die Dunstglocke schützt dich zwar, aber womöglich müssen wir in die Randgebiete der Stadt, wo es heller ist.«
Manchmal vergaß er zu essen, die Bedürfnisse eines Schattens dagegen waren nicht so leicht zu ignorieren.
»Hier ist aber niemand. Wen soll ich denn beißen?«
»Läute einfach an einer der Türen«, schlug er vor. »Hier im Haus leben genug Leute. Nimm nur nicht die Wohnung über dieser, darin wohnen Freunde von Mónika.« Mit der kratzbürstigen Mária wollte er sich lieber nicht anlegen, und die alte Magdolna würde keinen Blutverlust verkraften.
Mirita starrte ihn verblüfft an. Vielleicht wunderte sie sich über die Kaltblütigkeit, mit der er diesen Vorschlag machte.
»Findest du, das sollte ich tun? Hier im Haus?«
»Zier dich nicht so, wir müssen los.« Das Schicksal der Nachbarn bekümmerte ihn nicht übermäßig, denn wenn es ihm nicht gelang, das Licht zurückzubringen, blühte ihnen viel Schlimmeres – ein Leben in Schmerz und Dunkelheit.
Mattim wartete im Flur, denn er legte keinen Wert darauf, mit anzusehen, wie Mirita jemanden biss. In ihren Augen glühte etwas Fremdes, als sie schließlich gemeinsam auf die Straße traten, und er fragte sich, ob er auch so gewesen war, eine sich unschuldig gebende Bestie hinter der Maske eines angenehmen Gesichts.
»Ihr wolltet informiert werden, wenn es so weit ist. Die Frau – er hat sie auf unsere Seite gebracht.«
Der Wächter verbeugte sich und verschwand.
»Worum geht es?«, fragte Hanna.
»Ich habe ein kleines Arrangement getroffen, mit meinem jüngsten Bruder«, meinte Kunun zufrieden. »Allerdings ahnt er nichts davon. Er glaubt, er arbeitet gegen mich, dabei dient er mir neuerdings als Zulieferer von Beute. Gehst du mit mir auf die Jagd?«
Was hatte Mattim denn erwartet? Dass es Tag werden würde über Akink, sobald die Frau über die Schwelle trat? Alles blieb dunkel, damit wusste er jetzt jedenfalls, dass sie nicht Kununs Tochter war. Es wäre auch zu schön gewesen, auf Anhieb einen Treffer zu landen.
»Wo sind wir hier?«, fragte Theresa. Sie klammerte sich an Miritas Arm, ohne zu begreifen, dass diese viel gefährlicher war als er.
Die Frau in den Dreißigern war keine besondere Schönheit, von ihrem üppigen braunen Haar abgesehen. Sie war klein und schmal, und unter der Last ihrer Mähne verschwand ihr sanftes Gesicht fast völlig. Mattim hatte keine Ahnung, ob sie irgendetwas mit den Schatten zu tun hatte. Ihre Mutter Anna war nicht zu Hause gewesen, doch Theresa hatte sich ihnen als die Tochter des Hauses vorgestellt, und das machte sie für ihre beiden Besucher natürlich noch interessanter.
Vergeblich suchte Mattim eine Ähnlichkeit zu Kunun in ihren Zügen. Er hatte angefangen, ihr eine verwickelte Geschichte aufzutischen, aber Mirita hatte einfach kurzen Prozess gemacht und die Frau gebissen. Benommen war sie ihnen durch die nächste Pforte gefolgt, mitten in den Dschungel von Magyria, und da dies keine Erleuchtung der Welt zur Folge hatte, beschloss Mattim, sie sofort wieder zurückzubringen. Er hatte sich fest vorgenommen, nicht enttäuscht zu sein, schließlich standen sie erst am Anfang ihrer Suche.
»Wo sind wir hier?«, fragte Theresa ängstlich. »Ist das ein Traum?«
»Ja«, sagte Mattim. »Ein Traum. Ein böser Traum, leider. Wir müssen hier weg, irgendetwas stimmt nicht.«
Er griff nach ihr, aber sie wich vor ihm zurück.
Der Wald schien nur so lange still zu sein, wie man selbst Lärm machte. Sobald man innehielt und horchte, nahm man die feinen Geräusche wahr, das Knistern und Rascheln. Tropfen fielen von einem Blatt auf das darunterliegende und von dort auf das nächste, von weit oben, wo der Nebel die Wipfel befeuchtete, bis auf den Boden. Die Dunkelheit hatte den Wald von Magyria in einen Regenwald verwandelt. Irgendwo fiepte schrill ein Tier.
»Was war das?«, fragte Hanna erschrocken.
»Etwas, das uns anspringen und zerreißen könnte, vermutlich«, meinte Kunun. Sein Lächeln schimmerte durch die Finsternis.
Sie folgte ihm und versuchte so leise zu sein wie er, doch es war unmöglich. Kleine Zweige knackten unter ihren Füßen, Blätter raschelten. Manchmal machte der Boden weiche, schmatzende Geräusche, als wollte er sie gleich verschlingen.
»Im Ernst, was ist da draußen?«, versuchte sie es erneut.
»Das musst du nicht wissen«, sagte er. »Versuch gar nicht erst, den Wald zu kontrollieren. Dies ist das ganze Geheimnis der Jagd. Konzentrier dich nur auf die Beute. Die Jagd anderer Wesen geht dich nichts an, nur deine eigene. Wenn dich irgendjemand zu seiner Beute erklärt, wirst du es früh genug merken.«
Sie konnte ihre Verwunderung nicht verbergen. »Das soll das Geheimnis der Jagd sein? Das Geheimnis deines Erfolgs?«
»Ja«, sagte er leise. »Die Wildnis lässt sich nicht kontrollieren. Der Wald und die Nacht und das Leben … Ist das nicht alles eins? Finde deinen Weg, während du blind bist. Du bist ein Schatten in der Finsternis? Man hat dich in eine Grube voller Wölfe geworfen? Dann sei der schwärzeste Schatten, sei der größte Wolf.«
Ich will nicht der dunkelste Schatten sein … Obwohl, vielleicht doch? Vielleicht will ich genau das sein, wild und schön statt harmlos und brav. Ich wünschte, ich wäre so wie Atschorek. So wunderschön, selbstsicher, stolz, furchtlos. Die Jägerin an der Seite des Königs.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr war, als hätte sie sich nie selbst gekannt, als hätte sich hinter der freundlichen, kinderlieben Hanna schon immer ein Ungeheuer verborgen, das jagen wollte.
»Horch«, flüsterte er. »Sie rennt. Hörst du, wie sie atmet, wie sie keucht?«
Der Wald war laut. Hanna schien, als würde der ganze Wald atmen, keuchen, fliehen, sich verstecken – oder sich auf sie stürzen?
»Werde zu einem Tier der Nacht.« Seine Stimme wurde leiser, sie war ein Teil des Waldes, des Nebels, der finsteren Schatten, die alle Geheimnisse verbargen. »Wittere die Beute. Vergiss die Gefahr, die Angst, jedes Gefühl. Dort ist das Blut. Darin ist die Macht, dem Licht entgegenzutreten. Darin ist die Macht über alles Leben. Darin ist auch die Gewalt des Todes, denn der Tod siegt immer. Geh voraus. Du weißt instinktiv, wie man eine Beute zur Strecke bringt, mein süßer Vampir.«
Es war einfach gewesen, Kunun zu folgen – vorauszugehen erforderte viel mehr. Immer wieder blieb sie stehen, horchte. Sie schnupperte, aber der feuchte Modergeruch des Waldes war das Einzige, was sie wahrnahm. Da, wieder ein Knacken. Jemand brach durchs Unterholz, eindeutig. Etwas Großes, Schweres.
Außerdem war da der Geruch – süß, metallisch: Blut. Salziger Schweiß hing an den Blättern, doch der Duft des Blutes überdeckte ihn, überdeckte alles. Es roch nach Lebenskraft.
»Da ist ein Mensch aus unserer Welt«, flüsterte Hanna, »ein Mensch voller Licht, Wärme und Leben.«
»Beute«, bestätigte Kunun.
Hinter ihnen verteilten sich die Schatten, schwärmten aus. Hanna fühlte die Aufregung wild und prickelnd durch ihren Körper strömen. Leben, das war Leben – die Jagd.
Die Frau verströmte einen strengen Geruch aus Angst und Schweiß, jedoch wurde diese Wolke von dem Duft ihres Blutes überlagert.
Vorfreude glänzte in Kununs Augen. »Lassen wir ihr ruhig einen kleinen Vorsprung. Sie ist jetzt schon außer Atem, da wäre es schade, wenn wir sie allzu schnell erwischen.«
Hanna leckte sich die Lippen. Sie fühlte bereits die Verlockung der Lebensenergie, die in den Adern des Opfers kreiste.
»Vielleicht treffen wir heute sogar meinen Bruder«, sagte Kunun heiter.
»Was?« Sofort war Hannas Vorfreude dahin. »Mattim ist hier?«
»Er dient mir. Selbst wenn er glaubt, dass er gegen mich arbeitet, dient er mir noch. Deshalb macht es ja so einen Spaß. Ich wollte dich nur vorwarnen.«
Wut strömte glühend durch ihre tauben Adern, doch sie blieb äußerlich wie innerlich ruhig.
Die Jagd. Lass alles raus – in die Schritte, in die Art, wie du dich bewegst, wie du dein Opfer überrumpelst. So macht er es auch. Sie stutzte, überrascht davon, dass sie das Geheimnis von Kununs manchmal erstaunlicher Gelassenheit herausgefunden hatte. Die Jagd. Gib alles hinein, all deine Gefühle, bis nur noch das eine zählt: die Beute.
Hanna duckte sich unter einem herabhängenden Ast hindurch, Blätter peitschten ihr ins Gesicht. Obwohl sie sich unterhielten, mussten sie ihr Tempo nicht drosseln. Schwungvoll sprang sie über einen Baumstamm und rannte leichtfüßig weiter, in sich die Kraft und Anmut einer Wölfin.
»Gleich haben wir sie. Mein angebliches Kind.«
»Was?« Sie hatte Kunun nie wieder nach seiner Lichtprinzessin gefragt, nach jener Fremden, die er früher gekannt und geliebt hatte. Das Mädchen, das ihn so sehr verletzt hatte, dass er von ihr fortgetaumelt war, noch tiefer in die Dunkelheit. »Im Ernst? Wir jagen dein Kind?«
Vor Überraschung blieb sie stehen, aber Kunun grinste. Sie hatte ihn selten so gut gelaunt erlebt.
»Absurd, nicht wahr? Meine Tochter oder meine Enkelin wäre bestimmt nicht … so. Da erwarte ich durchaus etwas mehr Eleganz.«
»Aber … du lässt ihn wirklich dein Kind suchen?«
»Natürlich. Ich habe sogar dafür gesorgt, dass Mirita eine ganze Menge Namen zu hören bekommt, damit Mattim eine große Auswahl hat. Er sucht meine Verflossenen auf – jedenfalls hält er sie dafür.« Sein Tonfall verriet, wie sehr er sich amüsierte. »Der arme, kleine Mattim ist immer noch der Hoffnung erlegen, ich könnte ein Kind gezeugt haben, irgendwann in den letzten hundert Jahren, und dieses Kind könnte das Licht nach Magyria zurückbringen. Eine geniale Idee im Grunde, das muss ich ihm lassen. Stell dir bloß vor, das Licht meiner königlichen Familie, verbunden mit der Lebensenergie der Menschen aus deiner Welt! Ein solcher Mischling müsste heller leuchten als jeder andere Lichtprinz, den es in den letzten Jahrtausenden gegeben hat. Eine Supernova sozusagen. Er würde die Dunkelheit dahinschmelzen mit der Macht eines hundertfachen Frühlings. Ich kann nur dankbar sein, dass Mattim keinen eigenen Sprössling hat, noch dazu mit einer Menschenfrau – falls er jemals eine menschliche Lichtprinzessin hatte.« Er lachte vergnügt.
»Und, hast du? Ich meine, ein Kind gezeugt?«
Kunun trabte weiter, und sie schloss zu ihm auf.
»Weiß man’s?«, fragte er lässig. »Ich kann für nichts garantieren.«
»Aber … du lässt Mattim tatsächlich nach diesem Erben suchen, der deine Herrschaft beenden könnte?«, fragte sie entsetzt. »Der ganz Magyria verbrennen wird? Warum? Du musst ihn aufhalten! Ich habe dich doch extra gewarnt!«
Kunun blieb unbeeindruckt. »Es macht mich glücklich, dass du Angst um mich hast, Hanna. Allein dafür lohnt es sich. Aber mach dir keine Sorgen. Mattim hat eine völlig nutzlose Liste von Frauen, mit denen ich nie etwas hatte. Immerhin sind sie alle schöne Menschen, die sich bestens eignen, um sie zu jagen.«
Hanna war immer noch beunruhigt. »Du erlaubst deinem Bruder, Intrigen gegen dich zu spinnen? Warum gehst du solch ein Risiko ein?«
»Nichts ist langweiliger, als seine Ziele zu erreichen«, sagte Kunun. »Nichts ist öder als die Unsterblichkeit. Mattim amüsiert mich mit seinen fruchtlosen Bemühungen. Es macht mir Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie er sich abkämpft, um mir zu schaden. Dabei verdanke ich all das hier ihm.« Mit der Hand beschrieb er einen weiten Bogen, der den Wald und den dunklen Himmel umfasste, vielleicht ganz Magyria, vielleicht die ganze Welt. »Glaub mir, ich werde sofort eingreifen, sobald es wirklich gefährlich wird. So, und jetzt solltest du dich lieber konzentrieren.«
Hanna folgte der Spur des Blutes und verfiel dabei in einen leichten Trab. Ihre Augen hatten sich inzwischen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie allen Hindernissen mühelos ausweichen konnte. Ja, da war etwas, ein Mensch – ein Mädchen? Wie ein Wildschwein stampfte sie durchs Gebüsch. Ihre eigenen Bewegungen kamen Hanna dagegen ungleich eleganter und leichter vor, geschmeidig wie ein Panther. Kunun war so, schwarz und gefährlich. Und ich?, überlegte sie. Was bin ich? Eine Leopardin, die Gefährtin des Schwarzen? Genauso schön, genauso tödlich? Warum sollte ich irgendetwas fürchten? Wir sind die schlimmsten Tiere in diesem Dschungel.
Es war ein berauschendes Gefühl, das jäh verschwand, als das Mädchen loskreischte.
»Wir haben sie!«
Die Schatten hatten einen Bogen geschlagen und die Beute eingekreist. Keuchend stemmte sie sich gegen einen Baum, dann riss sie mit einem Ruck einen Ast ab und wandte sich gegen ihre Angreifer.
»Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!« Sie schwang den Ast gegen die Beine des am nächsten stehenden Schattens. Es war gar kein Mädchen, sondern eine erwachsene Frau mit braunen Haaren. »Weg da!«
Kunun trat vor. »Töchterchen, was veranstaltest du hier?«
Entsetzt starrte die Gejagte auf die zerfurchte Fratze des Schattenkönigs. »Nein! Lasst mich in Ruhe!« Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, ihr Atem ging keuchend.
»Weg von ihr!« Mattim sprang zwischen den Bäumen hervor. Also war er tatsächlich hier. Er musste längst begriffen haben, dass diese Frau nicht das gesuchte Lichtkind sein konnte, trotzdem versuchte er die Fremde vor Kunun zu beschützen.
»Aber, aber, wer wird sich denn so aufregen?« Kununs Stimme klang glatt und seidig. »Armes Kind, was für ein Albtraum! Blut lockt die Haie an, wusstest du das denn nicht?«
Dunkel rann es über ihren Hals; sie hatte sich das Ohrläppchen aufgerissen bei ihrer wilden Flucht durchs Gebüsch, und einer ihrer schaukelnden silbernen Ohrhänger fehlte. Wahrscheinlich hatte sie es nicht einmal gemerkt, sie schien keine ihrer Verletzungen zu spüren. Aus ihren Augen sprach die Todesangst.
»Ich will nach Hause«, jammerte sie.
»Sie heißt Theresa«, sagte Mattim. »Sie ist ein Mensch, und sie fürchtet sich. Lass sie gehen, Kunun.«
Beute, sie ist Beute, schrie die Schattenstimme in Hanna. Für dich allein, nur für dich.
Voller Hass starrte sie Mattim an. War sie je von diesen felsgrauen Augen, von diesem Gesicht verzaubert gewesen? Es war vorbei, ein Traum, aus dem sie in jenem Moment erwacht war, als er seinen Bruder in den Donua geschleudert hatte. Jetzt wünschte sie sich nur noch, ihm die Zähne in den Hals zu schlagen, ihm die Kehle aufzureißen und ihn zu bestrafen, ein für alle Mal, für das, was er getan hatte.
Es ist mehr als Rache. Du musst ihn ausschalten, bevor er Kunun schaden kann. Denn das wird er. Kunun glaubt, er sei sicher, aber ich lasse mich nicht länger täuschen. Mattim ist kein kleiner Bruder, der zufällig Glück hatte. Er ist der Feind.
Kunun legte ihr die Hand auf den Arm, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er lächelte nicht mehr. »Du hast mich einmal überrumpelt, Mattim, das wird dir kein zweites Mal gelingen. Fasst ihn!«
Von überall her sprangen Wächter aus der Dunkelheit des Waldes. Während Mattim sich zwischen ihnen hindurchkämpfte, zeigte sich das ganze Ausmaß seiner Wut. Er kam Hanna vor wie ein wildes, in die Enge getriebenes Tier, rasend wie ein Schattenwolf in der falschen Welt.
»Wie bedauerlich«, meinte Kunun, als seine Getreuen kopfschüttelnd und mit leeren Händen zurückkamen. »Nun denn, machen wir weiter. Du bist an der Reihe, Hanna.«
Er nickte ihr aufmunternd zu. Wollte er wissen, ob sie ihm ähnlich war, ob sie dasselbe Vergnügen hierbei empfand wie er? Tief in ihr regte sich etwas, das sich beinahe nach einem schlechten Gewissen anfühlte, nach Scham.
Verborgen in ihrem gelähmten Herzen flüsterte eine Stimme: Weißt du nicht mehr? Das Licht ist für die Unschuldigen da.
Sie befahl der Stimme zu schweigen. Ich tue unrecht? Von wegen! Ich gehöre zu Kunun, ich beweise es, seht hin! Na, bin ich die Leopardin, die sich auf alles stürzt, was verlockend genug ist? Das hier ist für dich, Mattim, du Mistkerl.
Sie packte Theresa am Handgelenk. Es war ein Fehler gewesen, die Frau anzufassen. Nicht, weil sie schrie und sich wehrte, sondern weil Hanna den Puls spürte, das pochende, lebendige Blut in den Adern des Opfers.
Ja, beantwortete sie sich selbst die Frage. Ich bin es, ich bin wie Kunun. Ich will mir nehmen, worauf ich Lust habe. Ich will das Raubtier in diesem Wald sein, statt Angst zu haben.
»Rette mich!«, heulte Theresa.
»Du wirst danach nichts mehr wissen«, sagte Hanna, bevor sie zubiss. »Ist das nicht Rettung genug?«
Mattim kämpfte sich den Weg frei. Ein harter Schlag in den Magen des nächsten Wächters, und dieser krümmte sich vor Schmerz zusammen. Keiner der neuen Schatten hatte seinen Körper so in der Gewalt wie Kunun, an dem alle Angriffe abprallen würden. Die Wut, die Mattim vorhin zurückgehalten hatte, als er erkannte, dass er Theresa nicht helfen konnte, brach sich jetzt ungehindert Bahn. Er stieß den Angreifer gegen einen Baumstamm, schmetterte seinen Kopf gegen die Rinde und trat ihm die Beine weg. Während der Mann sich stöhnend am Boden krümmte, unterdrückte Mattim den Impuls nachzutreten. Seine Hände zitterten, aber es reichte. Es war nicht der Schatten zu seinen Füßen, den er am liebsten erwürgt hätte.
Abrupt wandte er sich um und machte sich auf den Weg zur nächsten Pforte, wo Mirita auf ihn wartete.
Allerdings hatte er nicht die Absicht, mit ihr nach Budapest zu gehen. Er packte sie an der Hand und zog sie mit sich.
»Was ist passiert?«, fragte sie unruhig. »Hast du Theresa nicht gefunden?«
»Doch«, beschied er ihr knapp.
Sie gingen durch den Wald, sprangen über Baumstämme, duckten sich unter herabhängenden Ästen und Schlingpflanzen hindurch. Schließlich waren sie weit genug entfernt – und allein.
Mattim witterte kurz. Seine Sinne verrieten ihm, dass keine Wölfe in der Nähe waren. Sie hätten ihn vor den Schatten gewarnt, denn sie waren immer da, wenn ihm Gefahr drohte.
»Sagst du mir endlich, was los ist?«
Er stieß Mirita hart von sich, sodass sie rücklings stürzte. Verwirrt blickte sie ihn an.
»Verräterin! Du weißt genau, was passiert ist!«
»Ich verstehe dich nicht.«
Drohend ragte er über ihr auf. Er bemerkte die Angst in ihren Augen, aber es war ihm egal. Obwohl er nur ein Mensch war und sie ein Schatten, zuckte sie zurück vor seiner Wut.
»Sag es mir, Mattim!«, schrie sie.
»Du hast Theresa an Kunun verraten. Der ganze Wald ist voller Schatten. Sie haben auf uns gewartet!«
»Ich habe sie nicht verraten!«, rief Mirita. Rückwärts kroch sie von ihm fort. »Glaub mir, Mattim!«
»Warum sollte ich das tun? Du verrätst mich ständig. Seit ich dich kenne, hast du nie etwas anderes getan.«
»Das war nicht ich!«, beteuerte sie. »Ich kann ja verstehen, wenn du mir nicht verzeihst, dass ich Hanna direkt in Kununs Fänge geschickt habe. Aber nun endlich besteht Hoffnung. Seit ich an deiner Seite bin, seit wir nach den Kindern des Lichts suchen, kann ich wieder an das Licht glauben. Ich weiß wieder, wer ich bin!«
Er hob die zur Faust geballte Hand, und sie schluchzte auf.
»Bitte, Mattim!«
Wie in Zeitlupe ließ er seine Hand sinken. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht aber auch nicht. Ich kann dir nicht mehr trauen. Geh jetzt.«
Weinend stolperte sie fort, während Mattim sich gegen einen Baum lehnte und versuchte, sich aus dem Strudel seiner Gefühle freizuschwimmen. Als seine Sinne ein leises Rascheln wahrnahmen, wusste er, dass Bela durchs Gebüsch strich. Kurz darauf stand Farank neben ihm und legte die Hände an die raue Rinde.
»Sie haben die ungarische Frau getötet.«
Mattim biss die Zähne zusammen.
»Als Hanna gegangen ist, hat Theresa noch gelebt. Ich finde, das solltest du wissen. Kunun und die anderen haben sie danach erledigt.«
»Danke«, knurrte er, »wenigstens etwas.«
»Er will, dass du dich schuldig fühlst. Allein aus diesem Grund hat er sie umgebracht.«
»Ich bin ja auch schuld!«, rief Mattim. »Schließlich habe ich sie hergebracht. Sie war kein Lichtkind, sie hatte Angst, und jetzt ist sie tot. Wir sind verraten worden, Vater.«
»Du musst der Wahrheit ins Auge blicken, mein Sohn. Hanna ist nicht mehr das Mädchen, das du geliebt hast.«
»Willst du damit andeuten, dass sie mich an Kunun verraten hat? Wir sprechen von Hanna, von meiner Lichtprinzessin!«
Farank legte den Arm um ihn, eine zärtliche Geste und dennoch nicht fähig, ihn zu trösten.
»Du weißt, dass es so ist. Nur aus diesem Grund hast du Mirita am Leben gelassen.«
»Es könnte auch Bartók sein. Ihn habe ich noch nicht befragt.«
»Bartók ist dein loyaler Gefolgsmann. Er würde dich nicht hintergehen, denn du bist für ihn die einzige Hoffnung, seine Stadt aus der Dunkelheit zu retten. Es war Hanna und niemand anderes. Dein Plan, sie zurückzugewinnen, ist gescheitert. Sie hat Kunun nie mehr gehört als jetzt. Wir müssen die Sache beenden.«
»Nein!«
Der König des Lichts schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Du kannst dir nicht erlauben, deine Gegner zu lieben, Mattim. Wenn du im Moment der Entscheidung zögerst, haben wir keine Chance auf einen Sieg, und es wird nicht viele Möglichkeiten geben, unser Schicksal zu wenden. Die Zeit läuft uns davon.«
»Ich werde nicht zögern. Glaubst du, ich hätte Kunun in den Fluss werfen können, wenn ich auch nur eine Sekunde länger gewartet hätte?«
»Vielleicht hättest du diese eine Sekunde vertan, wenn Hanna neben Kunun gestanden hätte. Wenn du ihr dabei in die Augen geblickt und gewusst hättest, dass du alles, was sie für dich empfindet, aufs Spiel setzt. Wenn du schwach bist, werden wir nicht siegen, Mattim. So einfach ist das.«
Es stimmte. Sie wussten es beide. Wie sollte er kämpfen, wenn Hanna ihm in der Schlacht entgegentrat? Wenn Kunun sie als Geisel benutzte? Hanna war immer seine Stärke gewesen. Jetzt war sie seine schlimmste Schwäche, und das konnte er sich nicht erlauben.
»Kunun kennt deine Gefühle«, sagte Farank. »Das macht ihn so gefährlich.«
»Nein«, widersprach Mattim. »Er war schon viel zu lange ein Schatten. Er weiß nicht mehr, was Menschsein heißt – wachsen, sich verändern. Für ihn bin ich immer noch der kleine Bruder, dabei stimmt das längst nicht mehr. Ich bin weder klein noch so naiv wie mit siebzehn. Ich bin jetzt neunzehn, und ich habe beschlossen, dass ich ihm oft genug beigestanden und seine Spielchen mitgemacht habe. Kunun hatte seine Chance. Wenn er jetzt ertrinkt, werde ich ihn nicht aus dem Fluss ziehen. Wenn er in den Abgrund fällt, werde ich die Hand nicht ausstrecken. Endlich bin ich der Feind, den er sich immer gewünscht hat.«
»Und Hanna?«, fragte sein Vater leise. »Gilt das auch für sie? Dass du die Hand nicht ausstrecken würdest, um sie festzuhalten?«
Ja, Hanna. Das war die Frage.
»Du weißt es nicht«, stellte Farank fest. »Genau deshalb wird Kunun wieder siegen.«
»Nein«, entgegnete Mattim. »Glaub das nicht. Ich verspreche dir, ich werde nicht schwach sein. Aber gib mir noch ein wenig Aufschub. Gib mir eine letzte Gelegenheit, die Sache zu wenden. Sie ist meine Lichtprinzessin, Vater. Wenn sie stirbt, werde ich mein Licht niemals zurückgewinnen. Was ist, wenn wir feststellen, dass es gar kein Lichtkind gibt, oder wenn Kunun es umbringt? Dann wäre Hanna die einzige Hoffnung auf die Rückkehr des Lichts. Allein aus diesem Grund müssen wir warten bis zum Schluss, bis zu dem Moment, an dem wir in die Schlacht ziehen.«
Der alte König lächelte freudlos. »Nur aus diesem Grund?« Er seufzte und wechselte das Thema. »Wann ist es so weit, Mattim? Was macht deine Armee?«
»Ich arbeite daran«, sagte Mattim schroff. »Dräng mich nicht. Ich komme schneller voran als gehofft. Die Tiere sind wundervoll.«
Sein Vater rieb sich den Oberarm. »Wundervoll? Es sind geistesgestörte Ungeheuer. Die Narben bleiben für immer, wie ich gehört habe.«
»Trag sie mit Stolz. Auf diesen Wahnsinn baue ich meinen Sieg.«
»Was ist das eigentlich für ein Gerücht, dass auch Schattenwunden heilen, sofern die Finsternis groß genug ist?«, fragte Farank leise.
»Das glaube ich nicht«, gab Mattim zurück, obwohl er es mit eigenen Augen gesehen hatte. »Dafür muss es eine andere Erklärung geben. Vielleicht ist es ja so: Egal wie dunkel es ist, irgendwo ist das Licht verborgen, das berührt und wirkt und heilt. Irgendwo ist es, mein Vater. Und wir werden es finden.«