28

BUDAPEST, UNGARN

Atschorek stieß Mattim auf die Rückbank und fuhr los, während Mirita noch den Fuß auf der Straße hatte.

»Bist du verrückt?«, schrie sie und knallte die Tür zu.

Auch Mattim war noch nicht bereit für Atschoreks Tempo. Er wurde gegen die Vordersitze geschleudert, als seine Schwester um eine Kurve bretterte. Hilfesuchend warf er einen Blick durch die Heckscheibe.

Mirita sprach seine Gedanken aus. »Was ist mit den Wächtern? Kommen sie in einem anderen Wagen nach?«

Atschorek antwortete nicht. Mit quietschenden Reifen umrundete sie eine Verkehrsinsel.

»Wo fährst du überhaupt hin?«, wollte Mirita wissen. »Da vorne ist die Brücke über den Fluss. Verdammt, du bist falsch abgebogen!«

Mattim versuchte, sich aus seinen Fesseln herauszuwinden – es war zwecklos. Aber vielleicht konnte er die Autotür mit dem Fuß öffnen und hinausspringen, sobald Atschorek anhielt. Genau das tat sie in diesem Moment so ruckartig, dass er erneut gegen die Sitze prallte.

Seine Schwester stürzte aus dem Wagen und zerrte ihn auf die Straße.

»Jetzt sag mir endlich, was los ist!«, rief Mirita. »Wohin willst du? Wir müssen ins Burgviertel und von dort weiter nach Akink!«

Atschorek zog ihn an den Schultern hoch, um ihn auf die Füße zu stellen. Mattim reagierte sofort, trat sie gegen das Schienbein und warf sich gegen sie, um sie zu Fall zu bringen.

»Müssen wir dich denn schon wieder betäuben?«, rief Mirita. Erneut sah er das kleine schwarze Gerät in ihrer Hand, den Elektroschocker.

Atschorek stieß die Flusshüterin zur Seite. »Nein!«, befahl sie scharf. »Auf keinen Fall, lass das!«

»Warum nicht?«, fragte Mirita. »Wenn er uns entkommt, sieht es übel für uns aus. Wir sind nur zu zweit!«

»Er soll auf eigenen Füßen stehen«, erklärte Atschorek. »Glaubst du, ich will ihn tragen? Komm endlich und pack mit an. Da vorne an der Markierung, dort gehen wir durch.«

Gemeinsam schoben sie Mattim durch die Pforte. Er hörte auf, sich zu wehren, denn im Grunde konnte ihm nichts Besseres passieren, als dass sie ihn in den Wald brachten und nicht auf den Henkersplatz in Akink.

Atschorek versetzte ihm einen Stoß, sodass er bäuchlings auf den morastigen Boden fiel. Er rollte sich herum und sah sie mit einem Messer in der Hand über sich stehen.

»Was wird das?«, fragte Mirita. »Wir sollen ihn in die Stadt bringen. Du kannst ihn doch nicht einfach hier erledigen. Er soll gehängt werden!«

Atschorek funkelte die Flusshüterin wütend an. »Nein«, sagte sie. »Das wird er ganz bestimmt nicht.«

»Was?« Erkenntnis spiegelte sich auf Miritas Gesicht. »Deshalb hast du die Wächter abgeschüttelt und die falsche Pforte genommen – damit du ihn hier abstechen kannst. Hast du Angst, seine Freunde könnten ihn retten? Oder euer Vater? Meinst du, die Schatten erheben sich, wenn sie seiner Hinrichtung beiwohnen müssen?«

Atschorek beugte sich hinunter, das Messer noch immer in der Hand. Mattim versuchte, nach ihr zu treten und sich abzustoßen, um ihr entgegenzuspringen, doch der Boden war zu weich, um ihm Halt zu geben. Er wollte etwas sagen, aber das Pflaster vor seinem Mund verhinderte, dass er auch nur ein einziges Wort herausbrachte.

»Mattim ist mein Bruder«, sagte Atschorek. »Er ist ein Mitglied meiner Familie, ein Prinz. Er wird nicht gehängt, ganz egal, was Kunun sagt! Ich werde ihm einen Vorsprung geben und ihn jagen, und wenn ich ihn töte, dann nach einem fairen Kampf, ich gegen ihn. Aber nicht so. Das ist eine Erniedrigung für uns alle.«

»Du wendest dich gegen Kunun?«, fragte Mirita fassungslos. »Nur um Mattim auf eine andere Art zu töten, als dir aufgetragen ist? Er wird entkommen, wenn du ihn losschneidest!«

»Das wird er nicht«, sagte Atschorek. »Ich bin eine gute Jägerin, aber ich bin keine Henkerin, verdammt noch mal!«

Mirita packte sie am Arm. »Du wirst ihn nicht losschneiden. Wenn Kunun erfährt, dass wir ihm nicht gehorcht haben, wird er uns beide verbrennen lassen! Wir bringen den Gefangenen nach Akink, jetzt sofort.«

Atschorek verschwendete keine Sekunde und rammte die Klinge in Miritas Bauch. Aufschreiend taumelte die ehemalige Flusshüterin zurück.

»Wende dich gegen mich, und du wirst sehen, mit wem du es zu tun hast«, sagte Atschorek. »Willst du das wirklich?«

Mit einem wilden Schrei riss Mirita das Messer heraus und stürzte sich auf die Schattenprinzessin.

Atschorek empfing sie mit dem Schwert. Ein Schauer feiner Blutströpfchen regnete auf Mattim herab. Da niemand ihn beachtete, rollte er sich auf die Knie und robbte davon. Mühsam richtete er sich an einem Baumstamm auf. Er konnte die Augen nicht abwenden von dem Kampf vor ihm.

Erneut fuhr das Schwert herab. »Gib auf!«, befahl Atschorek. »Misch dich nicht ein. Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Bruder.«

»Du willst ihn entkommen lassen, mit Absicht!«, kreischte Mirita.

Mit jedem Schwertstreich hieben sie sich klaffende Wunden ins Fleisch. Mirita hielt das Messer abwehrend vor ihren Körper, aber es war viel zu kurz, um etwas ausrichten zu können. Mit wildem Geheul warf sie sich vorwärts und versuchte, Atschorek so zu verletzen.

»Und wenn schon, was geht dich das an? Er ist ein Prinz aus Magyria, und lieber lasse ich ihn frei, als ihm die Schlinge um den Hals zu legen.«

»Du kannst mich nicht töten!«, schrie Mirita. »Mach, was du willst, ich bin ein Schatten!«

Sie bewegte sich seitwärts auf Mattim zu. Er wollte Atschorek warnen, konnte aber nur einen dumpfen Laut ausstoßen. Doch seine Schwester hatte die Gefahr bereits bemerkt. Diesmal schlug sie schneller zu, härter. Mit bloßen Händen versuchte Mirita das Schwert aufzuhalten, das ihr durch Haut, Fleisch und Knochen schnitt. Gellend schrie sie auf, als ihre Gegnerin ihr einen Arm abschlug, aber aufzugeben kam für Mirita nicht in Frage. Sie sprang vorwärts, und Atschoreks Schwert durchbohrte sie von hinten.

»Du kannst mich nicht töten! Um ihn zu erledigen, reicht jedoch ein einziger Stich!«

»Ich kann dir immerhin die Beine abhacken«, drohte Atschorek. »Verdammt, wieso hörst du nicht einfach damit auf?«

Mirita wankte und schrie, und unter Atschoreks wütenden Schwertstreichen sank sie zu Boden. Obwohl halb verstümmelt, versuchte sie Mattim zu erreichen, das Messer glänzte in ihrer Faust. Atschorek hieb auf sie ein, bis sie endlich verstummte.

Danach wischte sie sich mit der blutigen Hand über die Stirn. »Meine Güte«, murmelte sie. »Was hast du ihr bloß getan, dass sie dich so sehr hasst?« Ihr Lächeln hing über ihm wie eine Mondsichel. »Ich meine es ernst, Mattim.« Sie streckte die Hand aus, um den Knebel zu lösen. »Ob du entkommst, liegt ganz bei dir …« Noch während sie sprach, fiel ihr das Schwert aus der Hand, und sie sank auf die Knie. Von einem plötzlichen Schmerz getroffen streckte sie die Arme aus.

»Nicht jetzt!«, rief sie, aber ihre Worte endeten in einem unmenschlichen Geheul. Ihre Kleider fielen von ihr ab, während ihr Leib sich krümmte, Fell spross aus ihrer Haut. Kurz darauf erhob sich eine große, schlanke Wölfin, dunkelrot, fast schwarz, mit glühenden Augen, in denen das Entsetzen stand – und gleich darauf Staunen. So war es immer, wenn die Welt sich veränderte, das Herz wieder schlug – Verwandlung.

Atschorek stand einen Moment wie benommen da. Sie winselte, und Mattim spürte ihre Überraschung, als sie entdeckte, was die anderen Wölfe miteinander teilten – die aufrichtige Zuneigung zu ihm, dem Prinzen der Wölfe.

Schwester, flüsterte er innerlich.

Plötzlich richtete sie sich an ihm auf, um ihm das Gesicht zu lecken. Er konnte nicht sprechen, das Pflaster über seinem Mund erstickte alles, was er ihr sagen wollte. Siehst du, wie sich die Welt wandelt, wenn man ein Wolf ist? Du wirst nie mehr einsam sein, du wirst im Rudel laufen So viel wollte er ihr sagen, doch im selben Moment bemerkte der Prinz eine Bewegung zwischen den Bäumen. Jemand trat zwischen den Stämmen hervor, und als Mattim den Pfeil fliegen sah, stieß er einen erstickten Laut aus.

Nein! Nicht sie!

Die Wölfin fiel zur Seite, heulte auf, fuhr herum, krampfte. Aus ihrem Fell ragte ein gefiederter Schaft.

»Verschwinde!«, schrie Farank. »Glaubst du, ich lasse zu, dass du ihn umbringst?«

Atschorek schnappte nach dem Pfeil, riss mit den Zähnen daran, kämpfte sich auf die Füße und torkelte davon.

Der König des Lichts fiel neben Mattim auf die Knie und berührte ihn mit zitternden Händen. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Geht es dir gut?« Endlich riss er ihm das Pflaster ab und machte sich daran, die Fesseln zu lösen. Mattim sank in seine Arme, im ersten Moment konnte er kaum stehen.

»Atschorek.« Er brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. »Atschorek!« In Gedanken versuchte er, sie zu rufen. Bleib hier. Bleib bei mir. Wir retten dich!

Doch die verletzte Wölfin schleppte sich mühsam davon. Bevor sie im Gebüsch verschwand, drehte sie sich noch einmal zu ihnen um. Ihre Flanke zuckte, und sie winselte leise, aber in ihren Augen stand nicht Schmerz, sondern Wut.

»Atschorek«, flüsterte Farank. »Meine Tochter, meine liebe Tochter.«

»Verdammt, Vater, war das nötig?«, stöhnte Mattim.

»Sie wäre nicht das erste meiner Kinder, das durch meine Hand stirbt, und vielleicht wird sie auch nicht die Letzte sein. Glaubst du, ich hätte gejubelt, als ich gegen meine eigenen Kinder gekämpft habe? Leander … er war ein wunderbarer Junge, ein stolzer Mann, und als ich dem Wolf die Lanze in die Brust jagte, habe ich mich selbst mit ihm getötet. Wusstest du nicht, dass ich immer noch um ihn weine? Um euch alle. Kunun, mein Erstgeborener, Bela, Wilia, Runia, Wilder, Leander, Atschorek. Ach, meine liebe Atschorek! Sie war ein Ungeheuer. Wunderschön und eine Bestie … zu der ich sie gemacht habe. Glaubst du, ich wüsste das nicht? Ich habe versagt, wo man nur versagen kann. Ich habe sie weggeschickt, um sie zu beschützen, als sie noch viel zu klein war, um es zu verstehen. Meine väterliche Sorge hat sie dazu verurteilt, eine Fremde in ihrer eigenen Familie zu sein.«

Mattim suchte verzweifelt nach seiner Stimme, nach Worten, während ihm das Entsetzen die Kehle zuschnürte. »Sie wollte mich freilassen! Wo ist Mirita? Sie muss noch irgendwo hier sein. Ich habe keine Zeit, Vater.« Er taumelte, der Schmerz in seinen Beinen zwang ihn in die Knie, und rasch hielt der König ihn fest.

Zwischen den Bäumen erschienen die Flusshüter. Solta, groß wie ein Bär Wikor, neben ihm schimmernd blond Goran – sie alle waren da, und deshalb erlaubte er sich nicht, schwach zu sein. Sie waren seine Armee.

Mattim straffte sich, ignorierte den Schmerz in seinen Gelenken.

»Du musst nach Atschorek suchen, bevor sie elendig verendet, Vater. Ich möchte, dass sie wenigstens im Sterben nicht allein ist. Und ich muss Mária finden, bevor Kunun es tut. Dazu brauche ich einen Trupp Flusshüter.«

Farank schenkte ihm einen langen Blick, und Mattim erwartete Widerspruch. Er nahm an, dass sein Vater lieber den lebendigen Sohn beschützen wollte, als der sterbenden Tochter beizustehen.

Doch Farank senkte den Kopf. »Ja«, sagte er leise. »Ob ich das allerdings für sie tue oder für dich – das musst du schon mir überlassen.«

»Da ist sie. Mária!« Réka stolperte durch die Dunkelheit auf ihre Freundin zu. Dann erst bemerkte sie die Schatten, die das Menschenmädchen bedrohten. Für so etwas hatte sie jetzt wirklich keine Zeit. »Weg von ihr!«, fauchte sie. »Aber schnell.« Sie stieß die Frau zur Seite und wollte nach Márias Hand greifen, doch das Mädchen wich vor ihr zurück.

»Du gehörst zu ihnen, zu den Schatten!«

»Komm, wir müssen dich hier fortbringen!«, rief Réka. »Mama, hilf mir.«

Mónika trat einen Schritt vor und zögerte angesichts der beiden grimmigen Schatten, die ihre Beute nicht so schnell aufgeben wollten. Just in dem Moment tauchte hinter ihnen Hanna auf.

»Hier bin ich!«, rief Mária hoffnungsvoll. »Hilf mir!«

»Geh nicht zu ihr!« Réka streckte die Arme nach ihr aus, doch Mária duckte sich, rannte um die Autos herum und steuerte auf Hanna zu. »Nein! Sie wird dich zu Kunun bringen. Bleib hier!«

»Bei mir bist du in Sicherheit«, sagte Hanna. Sie lächelte wie ein Schatten, wie Atschorek, lieblich und dunkel zugleich. »Ich verspreche es dir.«

»Hey, weg hier, weg!«, rief der Schatten, der immer noch neben dem Auto stand, fasste seine Partnerin am Handgelenk und zog sie mit sich. Im nächsten Moment erblickte Réka den Grund dafür.

Ein Rudel Wölfe glitt aus dem Nebel, und direkt dahinter marschierten Kunun und ein Dutzend schwertbehangener Krieger heran – der König mit seinem Gefolge.

Mária wurde bleich wie die Wand, als die unheimlichen Wesen auf sie zuhielten.

»Komm zu mir!«, lockte Hanna sie. »Niemand wird dir etwas zuleide tun!«

Mária wich zurück, vor ihnen allen.

»Du darfst nicht nach Magyria!«, flehte Hanna.

»Haltet sie!«, schrie Kunun.

Mária versuchte Rékas zupackenden Händen zu entwischen, doch Mónika warf sich ihr in den Weg. Im nächsten Moment war auch Réka neben ihr und krallte die Finger um ihren Arm. Gemeinsam schleppten sie die kreischende junge Frau über den Bürgersteig, während die Wölfe wie eine graue Flut auf sie zuströmten.

»Da, durch die Pforte!«, rief Réka. »Schnell!«

»Wo?«, schrie Mónika.

»Dort drüben ist eine Markierung auf dem Pflaster. Hier entlang!«

Fast wäre es Mária gelungen, sich ihnen zu entwinden, doch schon erreichten sie den rettenden Übergang. Dumpf war Réka bewusst, in welche Gefahr sie sich begab. Sie hatte schon lange kein Blut mehr getrunken, und wenn Mária tatsächlich das Licht in sich trug, würde es sie wahrscheinlich sofort verbrennen. Sie hätte ihre Mutter fragen können, ob sie sie beißen dürfe, aber sie wagte nicht, Mária auch nur für einen Augenblick loszulassen.

»Tut das nicht!«, schrie Hanna. »Réka, du wirst sterben, bist du verrückt?«

Das Mädchen zögerte ein paar Sekunden zu lange. »Weiter«, sagte sie dann zu ihrer Mutter. »Er bringt sie sonst um.«

Zu dritt stolperten sie durch die Pforte in den dunklen Wald von Magyria.

Ungläubig starrte Réka auf Mária, die mit einem Schrei nach vorne taumelte. In ihrem Rücken steckte der Griff eines Messers.

Der dunkle Wald, ewiger Herbst, Nachtdunkel.

Mária stöhnte. Ein roter Fleck breitete sich auf ihrem Rücken aus. Sobald ihre beiden Entführerinnen sie losließen, fiel sie auf die Knie.

»Wohin habt ihr mich gebracht?«, keuchte sie. Es schien ihr nicht einmal bewusst zu sein, was mit ihr geschah, als wäre der Schmerz eine Nebenerscheinung des Übergangs. »Ist das eure finstere Welt, ihr verfluchten Vampire?«

»Ja«, sagte Réka. »Das ist Magyria. Oh Mária!« Verzweifelt ließ sie sich neben ihre Freundin fallen und legte ihr den Arm um die Schulter. War die Lunge getroffen? Blutstropfen erschienen auf ihren Lippen, liefen ihr aus der Nase. »Es tut mir so schrecklich leid! Wir waren nicht schnell genug. Wenn ich doch bloß nicht gezögert hätte …«

»Wo ist denn jetzt das Licht?«, fragte Mónika.

Hinter ihnen stolzierte Kunun durch die Pforte, umringt von Wölfen und Schatten. Er war wie das Zentrum einer wirbelnden Masse aus Dunkelheit, und er lachte, er wollte gar nicht aufhören zu lachen.

»Ja«, sagte er. »Wo ist es? Müsste es nicht hell werden?«

Hanna erschien ebenfalls, blass und erschrocken, und kniete sich neben Mária, die schwer hustete. Immer noch begriff sie nicht, dass sie starb. »Eine Welt der Nacht«, flüsterte sie. »Vampire. Man kann hier nicht atmen.« Blut lief ihr aus dem Mund, malte einen dunklen Streifen auf ihre helle Haut.

»Du hast sie umgebracht, Kunun!«, schrie Réka. »Dabei ist sie gar kein Lichtkind. Sie ist nicht deine Enkelin!«

»Wie man sieht«, meinte Kunun erleichtert. »Seit wann hilfst du Mattim? Du solltest es wirklich besser wissen.«

Réka drückte die Hand ihrer Mutter. »Lauf«, flüsterte sie. »Lauf, so schnell du kannst.«

»Nein«, protestierte Mónika.

»Bitte.« Réka versuchte, ihre ganze Seele in ihren flehenden Blick zu legen. »Jetzt sofort, für Attila. Renn!«

Rasch wandte sie sich wieder Kunun zu, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich und zwang sich, ihrer Mutter nicht nachzuschauen. Noch war dies kein endgültiger Abschied, noch konnte sie hoffen. »Was erwartest du denn? Dass ich mich vor dir in den Staub werfe und um Gnade bettele?«

Er lächelte spöttisch. »Auf einmal erinnerst du dich daran, mit wem du dich hier anlegst, wie?«

»Ich weiß, wer du bist.« Ein Mal, ein einziges Mal wenigstens, sollte er sich voll auf sie konzentrieren und alles andere vergessen. Kunun, der Jäger. Wie hatte er so schnell sein können, so unentrinnbar tödlich? Seine Schnelligkeit war bewundernswert, hätte sie nicht gerade eben ein Menschenleben gekostet. Nur wenn sie ihn lange genug aufhalten konnte, hatte ihre Mutter eine Chance. Die Wölfe schlichen herum, aber noch hatte er sie nicht ausgesandt. Unruhig warteten sie im Hintergrund ab.

»Nehmt sie fest«, befahl Kunun. »Ich will, dass du Mattim am Galgen hängen siehst, Réka, bevor du stirbst. Hier kann ich dir nichts antun, in der Stadt dagegen gibt es genug Öl, in dem selbst Schatten brennen.«

Die Männer packten sie, hart und mitleidslos, und sie zappelte chancenlos in ihrem Griff. Wenigstens konnte sie Kunun so bis zuletzt die Stirn bieten.

»Wenn ich sowieso sterben soll, dann muss ich mich auch nicht länger an deine verrückten Regeln halten. Dann kann ich Hanna genauso gut die Wahrheit sagen. Schluss mit all den Lügen!«

»Welche Lügen?«, fragte Hanna leise und sah auf. Sie kniete immer noch neben Mária.

»Dass du Mattim angeblich gar nicht kennst, beispielsweise.«

Kunun schlug das Mädchen mitten ins Gesicht. »Bringt sie weg«, befahl er, heiser vor Zorn.

»Wenn du befiehlst, müssen alle springen!«, rief Réka. Mit allem, was sie hatte, kämpfte sie gegen die Wächter, mit Fingernägeln, Tritten, Zähnen. »Ich habe es so was von satt! Kunun hat Mattim aus deinem Gedächtnis gelöscht. Wusstest du das, Hanna? Und wir sollten bezeugen, dass die neue Geschichte stimmt. Wir alle!«

»Was?«, rief Hanna. »Ist das wahr?«

Ein weiterer Schlag auf die Wange brachte Réka nicht zum Schweigen, sondern schürte nur ihre Wut. Sie spuckte ihn an. »Lügner! Betrüger! Mörder! Du irrer Psychopath!«

»Glaub ihr kein Wort«, sagte Kunun, in seinen Augen brannte das Verlangen, Réka zu töten. »Sie hat soeben versucht, alles zu zerstören. Sie hat sogar ihre Freundin in die Schusslinie gebracht.« Er legte den Arm um Hanna und zog sie hoch.

Wie betäubt hing sie an seiner Seite, ihre Augen waren groß und erschrocken. Réka hätte nicht sagen können, ob ihre Freundin um Mária trauerte oder ob sie endlich anfing, an Kunun zu zweifeln. »Hanna! Du liebst Mattim und nicht ihn! Du liebst Mattim!«

»Ich …«, stammelte Hanna und verstummte verwirrt.

»Sie lügt, denn sie kann dein Glück nicht ertragen. Gehen wir nach Akink«, ordnete Kunun an. »Dort werden heute zwei Hinrichtungen stattfinden.«

»Hanna!«, schrie Réka so laut sie konnte. »Hanna!«

Einen Moment lang stand es auf Messers Schneide, das fühlte sie. So innig waren sie miteinander verbunden, dass Réka den brennenden Zweifel spürte, die Angst, den auflodernden Zorn. Doch dann verwandelte sich Hannas Gesicht in eine undurchschaubare Maske, kühl und reglos. »Das ist dein Werk«, sagte sie leise. »Du hast Mária hergebracht. Nun musst du auch die Konsequenzen tragen.«

Im festen Griff der Wächter konnte Réka sich kaum rühren, trotzdem schaffte sie es, einen letzten bedauernden Blick auf das kleine Häuflein Mensch auf dem Bett aus Blättern und Blumen zu werfen. »Es tut mir so leid, Mária!«

»Alles in allem«, meinte Kunun, »war es ein sehr aufschlussreicher und zufriedenstellender Tag.«

Die Wölfe wiesen ihm den Weg. Mattim rannte ihnen nach, gefangen in seinem Menschenkörper und dennoch fast ebenso schnell und anmutig wie sie. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, während er über Wurzeln sprang, durch Büsche und Dornen brach. Die anderen Flusshüter hatte er längst abgehängt.

Trotzdem kam er zu spät.

Mária lag zusammengekrümmt da, viel kleiner, als er sie in Erinnerung hatte.

»Oh nein«, flüsterte er.

»Ist sie es?« Solta blickte ihm über die Schulter. »Das Lichtkind?«

»Sie ist tot«, sagte Mattim. »Unsere letzte Hoffnung.« Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

Ein leises Ächzen antwortete ihm.

Der Hauptmann kniete sich neben ihn, rasch untersuchte er das Mädchen. »Hier, das Messer. Es hat nicht ihr Herz getroffen, sondern ihre Lunge verletzt.« Ihre Blicke trafen sich. »Sie lebt.«

Mattim wusste, was das hieß. So erleichtert er auch war, in den Schmerz und die Sorge mischte sich Enttäuschung. Mária war nicht mit ihm verwandt, sie war zwar Magdolnas Enkelin, aber nicht Kununs. Er hatte die Lichtprinzessin seines Bruders gefunden, aber die beiden hatten nie ein Kind miteinander gehabt. Seine Suche war zu Ende.

»Sie wird sterben«, meinte der Hauptmann, »wenn wir sie nicht sofort zu einem Arzt bringen, und vielleicht selbst dann. Was sollen wir tun?«

Mattim nahm Márias Hand in seine. Kalt und leblos fühlte sie sich an.

Du musst jetzt stark sein, befahl er sich. Deine Leute sehen zu. Du wirst nicht weinen. Du wirst nicht aufgeben. Tu, was immer nötig ist, und sieh nicht zurück.

»Bela«, sagte er. »Bist du da?«

Lautlos erschien der riesige Wolf an seiner Seite.

»Beiß sie«, ordnete Mattim an.

»Was?«, keuchte Solta. »Ihr wollt diese Menschenfrau in einen Schatten verwandeln, Prinz?«

»Ich bin kein Arzt. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit sie noch hat, ob sie überhaupt eine Chance hat. Spielt es denn eine Rolle? Wenn Kunun siegt, ist bald jeder in Budapest ein Schatten. Ich muss diese Entscheidung für sie treffen. Verwandeln wir sie.«

Der Wolf senkte den Kopf, öffnete das Maul. Nahezu behutsam grub er seine scharfen Zähne in die weiße Haut des Mädchens.

Sie lag da wie eine Tote, sterbend, fast durchscheinend, das glänzende schwarze Haar wie Rabenfedern über ihren Augen.

Plötzlich setzte sie sich auf und schnappte nach Luft.

»Du bist nicht einmal in Ohnmacht gefallen«, sagte Mattim und überspielte sein Mitleid und sein Entsetzen mit einem aufmunternden Lächeln. »Sehr gut. Erinnerst du dich, was passiert ist?«

»Mattim?« Mária, die neue Schattenmária, starrte ihn an wie einen Geist. »Aber … aber der Vampir hat gesagt, du wirst hingerichtet! Du – und Réka auch.«

Mirita schleppte sich zum Fluss. Es waren nur wenige Meter, dennoch kam es ihr vor wie eine Ewigkeit. Die Schmerzen hatten nachgelassen, vielleicht weil ihr Körper endlich begriff, dass er nichts empfinden musste, vielleicht war er aber auch betäubt von zu viel Schmerz. Atschorek hatte sie buchstäblich in Stücke gehackt – beinahe. Ob sie gestorben wäre, wenn die Prinzessin ihr den Kopf abgeschlagen hätte? Dann wäre es wenigstens zu Ende gewesen. So jedoch war kaum genug an ihr dran, um ans Ufer zu gelangen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst, da Atschorek ihr die Muskeln bis auf den Knochen durchtrennt hatte. Eine Hand fehlte ihr, und wie ihr Gesicht aussah, wollte sie gar nicht erst wissen.

Trotzdem war sie innerlich ruhig. Es ist zu Ende. Mattim liebt mich nicht, er wird mich niemals lieben. Ich habe ihn verraten, und jetzt wird die Welt dunkel. Dunkler als je zuvor. Es ist richtig, dass es endet. Ich wollte nie ein Schatten sein, ich wollte nie zu dem werden, was ich bin.

Da, endlich, das Ufer. Der Boden wurde weich und feucht, Schilf versperrte ihr den Weg, die harten Halme schnitten durch ihre Haut, doch sie spürte es kaum.

Das Wasser, tödlich, befreiend, erlösend, der endgültige Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Mirita robbte hinein, wartete auf den letzten Schmerz, der alles in ihr zum Erlöschen bringen würde, das Glück und die Traurigkeit, die Angst und die Hoffnung und die Schuldgefühle.

Es geschah nichts. Das Wasser war kühl und fühlte sich dunkel an, als tauchte sie in Tinte. Kleine Wellen schwappten gegen ihr Gesicht.

Sie ließ sich vollständig hineinfallen und wartete auf den Tod.

Im Wasser war sie leicht, und sie hatte gehofft, der Tod möge ebenso leicht kommen. Doch er kam nicht. Es war an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen: Dieser Fluss war für einen Schatten nicht länger tödlich. Warum hatte ihr das niemand gesagt?

Also würde sie bis in alle Ewigkeit hier liegen. Sie hatte ihr eigenes Grab gewählt: das Flussbett. Wenigstens war es einigermaßen bequem. Hysterisch begann sie zu kichern, und schließlich lachte sie und lachte und konnte nicht damit aufhören, bis ihr Tränen über die eine Wange liefen, die ihr geblieben war.