31

BUDAPEST, UNGARN

Das ganze Mietshaus wimmelte von Schatten. Was sonst kein Grund zur Freude gewesen wäre, machte Hanna schwindlig vor Erleichterung, denn es bedeutete, dass sie Attila noch nicht gefunden hatten.

Die Wächter nickten ihr ehrerbietig zu und ließen sie durch. Die Wohnungstür der Szigethys stand offen, und drinnen spielte sich ein kleines Drama ab. Réka war da und stritt sich mit Kunun. Er hatte gerade die Hand gehoben, um sie zu schlagen, ließ sie jedoch sofort sinken, als er Hanna bemerkte.

»Dieses kleine Biest tut so, als wüsste es von nichts.«

»Ich hab an allen Plätzen nachgesehen, die mir eingefallen sind«, sagte Hanna. »Nichts.«

»Gibt es wirklich niemanden, der etwas weiß? Beim Licht, was ist das für eine Familie, in der keiner eine Ahnung davon hat, was der andere tut? Wo ist Attila? Ruf deinen Bruder an.«

»Das habe ich längst versucht!«, beteuerte Réka. »Er hat sein Handy nicht mit, es liegt in seinem Zimmer.«

»Dann deinen Vater.«

»Der geht nicht ran.«

»Wenn du uns nicht hilfst, werde ich ihn verwandeln lassen, sobald wir ihn haben. Willst du das, Réka? Willst du, dass dein Vater ein Schatten wird?«

»Nein«, wimmerte sie. »Ich probiere es gleich noch mal.«

Sie ließ sich aufs Sofa sinken, während sie die Tasten drückte, und drehte Kunun und seinem stechenden Blick den Rücken zu. Auf einen Wink von ihm setzte Hanna sich zu dem Mädchen, nah genug, um mitzuhören.

»Papa? Papa, wo bist du?«

»Hat deine Mutter dir aufgetragen, mich das zu fragen?«

»Mama ist gar nicht da«, sagte Réka. »Wo bist du? Soll ich zu dir kommen? Ich möchte auch bei euch sein.«

»Bleib, wo du bist, Réka, und misch dich nicht ein. Ich mache jetzt Schluss.«

Réka wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Dabei bin ich sein Kind«, flüsterte sie. »Sein einziges Kind. Es ist alles so verdammt ungerecht!«

»Was sagt er?«, wollte Kunun wissen.

»Nichts.« Hanna gelang es, unzufrieden zu klingen. »Er hat sie abserviert.«

»Was hast du mit Attila vor?«, fragte Réka mit zitternder Stimme.

»Das geht dich nichts an«, sagte er kalt.

»Kunun, bitte! Er ist mein Bruder! Bitte, tu ihm nichts!«

»Geh raus, Réka, aber unternimm nichts Unüberlegtes. Die Wachen haben ihre Anweisungen.« Kunun wandte sich Hanna zu. »Lass uns kurz reden.«

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Hanna, sobald sie allein waren. Würde er es ihr sagen? War sein Vertrauen groß genug?

Ja, das war es. Vielleicht hätte er weiterhin geschwiegen, wenn er Attila inzwischen aufgespürt hätte. Doch da dies nicht der Fall war, brauchte er sie.

»Rede du mit Réka«, bat er eindringlich. »Überzeuge sie davon, dass wir ihrem Bruder nichts Böses wollen, dass ich ihn nicht umbringen werde. Sag ihr, dass es reicht, ihn in einen Schatten zu verwandeln. Dann kann er uns nicht mehr schaden.«

Hanna wartete auf mehr. Seltsamerweise wünschte sie sich, er würde ihr nicht vertrauen, es ihr nicht sagen. Dass er es tat, rührte sie gegen ihren Willen an.

»Dieses Kind bedeutet meinen Untergang«, flüsterte Kunun. Er beugte sich zu ihr hinunter, bis seine Stirn die ihre berührte. Die schwarzen Strähnen kitzelten ihre Haut. Er hatte die Augen halb geschlossen, und sie spürte seine Angst. »Attila könnte ein Lichtkind sein, Hanna. Wenn meine Feinde das herausfinden, werden sie ihn dazu benutzen, um Magyria zu zerstören. Um alles zu vernichten. Wir werden alle sterben, Hanna. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Macht ein Lichtkind hat, das aus dieser Welt stammt. So etwas gab es noch nie, nicht in der langen Tradition meiner Familie. Es würde uns alle zu Asche verbrennen, uns genauso wie die Rebellen.«

»Dann werden sie ihn nicht einsetzen«, meinte Hanna. »Sie würden sich ja selbst damit schaden.«

»Mattim würde es tun«, widersprach Kunun leise, »mein verrückter Bruder. Falls er geflohen ist … Ich habe immer noch nichts von Atschorek gehört. Wir müssen uns beeilen. Wenn Mattim Wind von der Sache mit Attila bekommt, könnte er uns alle vernichten, und am Ende bleibt nur er übrig. Ein einzelner Mensch auf einem Schlachtfeld voller rauchender Überreste. Er kann sich nicht geschlagen geben, das liegt in seiner Natur. Er oder ich. Ich glaube, so war es schon immer.«

Sie legte ihre Hand an seine zerfurchte Wange. Da war ein Gefühl … aber sie hätte nicht sagen können, was sie fühlte.

Er küsste sie auf die Stirn. »Zweifel?«

»Nein«, sagte Hanna. »Keine Zweifel.«

Sie hielt ihn fest, keinen Millimeter rückte sie aus seiner Umarmung, sein Körper dicht an ihrem, fest, muskulös. Vorsichtig schnupperte sie, aber da war nur der schwere Geruch der Dunkelheit, undefinierbar, so wie die Nachtluft duftete oder Steine im Regen rochen. Kein Vergleich mit Mattim, mit seiner Wärme, der Bräune seiner verschwitzten Haut. Sie dachte wieder an die Fotos, an seine dunkel gekleidete Gestalt mitten im gleißenden Licht und fragte sich, wie sehr sie ihn wohl geliebt hatte. Fragte sich, ob diese andere Hanna, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, verrückt nach ihm gewesen war. Welche Entscheidung sie getroffen hätte. Natürlich hätte die alte Hanna Mattim viel besser einschätzen können. Würde er tatsächlich einen kleinen Jungen benutzen, um ganz Magyria und alle Schatten zu vernichten?

»Hilf mir«, sagte Kunun. »Sprich mit Réka. Meine Drohungen machen sie bloß störrisch. Ich kann sie nicht hypnotisieren oder ihr den Trotz aus der Seele saugen, einem Schatten gegenüber bin ich machtlos. Sei nett zu ihr, dann wird sie dir sicher alles verraten, was sie weiß.«

»Ja«, sagte Hanna, »verlass dich auf mich.«

Weil ich ein Schatten bin, halte ich deinem Blick stand. Weil ich bin, wozu du mich gemacht hast, kann ich dich anlächeln und Verrat planen, den schlimmsten Verrat, der nur denkbar ist.

Wie eine Schlafwandlerin fühlte sie sich, als sie die Treppe hinunterging. Réka saß auf dem Bordstein, bewacht von einer Schar Schattensoldaten. Auch einige Wölfe lauerten in der Nähe, kleine Wölfe, nervös, auf dem Sprung.

Hanna setzte sich neben das Mädchen.

»Ich konnte Kunun überzeugen«, sagte sie. »Er stimmt der Verwandlung zu. Dadurch kann Attila wenigstens am Leben bleiben.«

»Am Leben?« Rékas Lächeln war leicht wie eine Feder, schwerelos. Es gehörte einem Mädchen, das dem Tod in mehrfacher Gestalt begegnet war – in der Liebe zu einem Vampir, in der Verwandlung in einen Schatten, im Zerfall ihrer Familie, in der gnadenlosen Zurückweisung. Sie kämpfte nicht mehr. Sie war einen Schritt zur Seite getreten und betrachtete alles wie von oben, als hätte sich ihre Seele längst von ihrem Körper gelöst. »Ist das nicht ein zu großes Risiko für Kunun? Warum redest du es ihm nicht aus? Solltest du nicht auf seiner Seite stehen?«

Hanna verwandelte ihr Gesicht in ein Spiegelbild von Atschoreks sanfter Bösartigkeit. »Das tue ich ja, auf meine Weise. Hast du ihn jemals verstanden? Er vernichtet alles, woran er hängt, danach fühlt er sich noch schlechter und dunkler, und als Folge davon vernichtet er noch mehr.« All das stimmte, und während sie sprach, verkrampfte sich ihr Inneres vor Kummer.

»Wow«, sagte das Mädchen. »Ich glaube, du liebst ihn wirklich.«

»Er würde das Kind töten und es nachher bereuen. Deshalb können wir ihm nur helfen, wenn wir ihn aufhalten. Lassen wir ihn in dem Glauben, er könne Attila ganz leicht finden und ihn verwandeln lassen.«

»So einfach ist es aber nicht«, sagte Réka. »Er kann Atilla nicht nach Magyria gehen lassen, also muss es hier geschehen. Allerdings braucht er dazu einen Schattenwolf, und die werden bekanntlich wahnsinnig, sobald sie über die Grenze treten. Ich habe solche Angst, Hanna, dass es schiefgeht, dass der Wolf meinem Bruder etwas antut. Er ist erst neun!«

»Wilder würde nicht wahnsinnig werden. Hör mir zu, Réka, wir müssen uns beeilen. Die Sache wird schlimm ausgehen, wenn es zu einem Kampf kommt, wenn erst Pfeile oder Kugeln fliegen … Bitte sag mir, wo Attila ist.«

»Ich vermute, sie sind bei meiner Oma. – Warte!«, rief sie, als Hanna aufsprang. »Nimm mich mit! Ich kann dir sagen, wo sie wohnt, ich zeige dir den Weg. Ich will dabei sein, wenn der Wolf kommt. Ich … ich kann Attila erklären, warum es notwendig ist. Er vertraut mir.«

Kunun tauchte hinter ihnen aus der Dunkelheit auf. »Und?«

»Bei Rékas Oma«, sagte Hanna.

»Die Adresse?«

Kaum hatte Réka schwerfällig die Angaben ausgespuckt, da war Kunun schon auf dem Weg zu seinem Wagen.

»Ich komme mit!«, rief Hanna.

»Nein, tu dir das nicht an. Das ist kein schöner Anblick. Der Wolf … Nein, bleib hier. Falls der Junge doch nicht dort ist, falls er hier auftaucht … Ich brauche jemanden, der am Haus die Stellung hält.«

Bevor Hanna ihm viel Erfolg wünschen konnte, stürzte ein Schatten mit weit aufgerissenen Augen herbei. »Wir werden angegriffen!«, rief er schon von weitem.

Kunun, den Fuß schon halb im Auto, drehte sich um.

»Akink steht unter Beschuss!«

»Was?«, fragte Kunun entgeistert. »Das muss Mattim sein, unser Vater hätte sich nie auf so etwas eingelassen. Dieser verdammte Narr! Er hat keine Chance, nur mit einer Handvoll Rebellen!«

Der Schattenkönig hielt sich an der Tür fest, er schwankte. Hanna konnte fast sehen, wie hinter seiner Stirn ein Kampf tobte. Welche Gefahr war größer? Attila oder Akink? Wo war seine Anwesenheit nötig? »Nicht jetzt!«, schrie er außer sich. »Nicht ausgerechnet jetzt!« Sein Gesicht verzerrte sich fürchterlich, während er um Fassung rang.

»Erst das Kind«, sagt er schließlich. »Hanna, du gehst sofort nach Akink. Sollte Atschorek immer noch nicht da sein, übernimmst du das Kommando.« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. »Verteidige Akink, bis ich komme. – Haltet die Stellung!«, rief er seinen Soldaten zu. »Blast das Horn. Ich brauche alle, jeden einzelnen meiner Untertanen!«

Damit brauste er davon.

»Na los, worauf wartet ihr?«, fuhr Hanna die Wächter an. »Auf, nach Akink! Ich muss hier nur kurz etwas klären.«

Die Männer rannten los, und Hanna packte Réka bei den Schultern. »Du musst deinen Vater noch mal anrufen! Warne ihn, er muss verschwinden!«

Das Mädchen blinzelte zu ihr auf. »Keine Sorge, sie sind gar nicht dort. Ich habe natürlich gelogen. Wenn Papa nicht will, dass meine Mutter Attila findet, wird er wohl kaum zu unserer Oma fahren.«

»Du hast also keine Ahnung, wo sie sind?« Hanna konnte kaum ausdrücken, wie erleichtert sie war. »Demnach verschwendet Kunun seine Zeit, und wir müssen diese paar Stunden nutzen. Versuch weiterhin rauszubekommen, wo sie sind. Danach gehst du gleich durch den nächsten Übergang in den Wald. Du musst einen Wolf finden, schnell! Such Wilder. Wenn irgendjemand Attila helfen kann, dann er. Hast du das begriffen?«

»Aye, aye, Sir.« Réka salutierte zackig, dann stolperte sie auf die Markierung zu, die den Standort der Pforte verriet. Hanna wartete nur kurz, bis das Mädchen verschwunden war, dann folgte sie ihr.

Sofort umfing sie der Wald. Hanna rannte. Sie rannte, als gelte es ihr Leben, und bei jedem Schritt war der Name in ihrem Herzen, der Pulsschlag der Angst: Attila, Attila …

Für einen Vertreter ihrer Gattung war die Fledermaus recht groß, sie ähnelte eher einer Krähe als den kleinen, huschenden Schatten, die Mattim kannte.

»Ich nehme an, Ihr seid gekommen, um mich zu beglückwünschen?«, fragte er.

Die Fledermaus landete vor ihm auf der Straße, und im nächsten Moment stand Mirontschek vor ihm. Nackt, doch ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit. Seine Augen funkelten wild, er atmete heftig.

Mattim legte die Schwerter nieder, zog seinen Mantel aus und reichte ihn dem jungen Mann.

»Ich bin nicht tot«, stieß Mirontschek hervor. »Die Stadt gehört Euch nicht! Wir können weiterkämpfen!«

»Ich habe gesiegt«, sagte Mattim kühl, »vor genügend Zeugen. Nach den Gesetzen Jaschbiniads habe ich Euch damit abgelöst. Auf mein damit einhergehendes Recht, dieses Volk zu befehligen, werde ich nicht verzichten; ich könnte es nicht einmal, ohne die Gesetze zu verletzen. Allerdings würde ich es schätzen, wenn Ihr an meiner Seite bleibt und mir als Hauptmann dient. Wir werden in den Krieg ziehen.«

Mirontschek verknotete den Gürtel. »Gegen wen?«

»Gegen Kunun«, erklärte Mattim. »Wir werden Akink niederbrennen. Ich hatte eigentlich mit Adlern gerechnet – hoffentlich sind Fledermäuse schnell genug. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor Magyria auseinanderbricht.«

Ungläubig starrte der Fürst ihn an. »Ihr wollt gegen Akink ziehen? Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt und mich um Unterstützung gebeten?«

»Weil ich ein Nein nicht akzeptieren kann«, sagte Mattim. »Weil ich Euch und Euren Leuten Verluste zumute, die alles übersteigen – gegen Schatten zu kämpfen ist das Schlimmste überhaupt. Und«, er lächelte, »ich habe einen Grund gebraucht, um Euch in die Tiefe zu stoßen, weil Ihr partout nicht springen wolltet.«

Der Fürst sah auf einmal ungleich jung aus. »Ihr habt es gewusst?«, fragte er. »Woher?«

»Ich war ein Wolf«, gab Mattim zur Antwort. »Glaubt mir, ich merke recht schnell, wenn sich hinter einem Menschen mehr verbirgt. Ich habe den Flug in Euren Augen gesehen.« Er streckte die Hand aus. »Freunde?«

Mirontschek kämpfte gegen das Grinsen an, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, und verlor. »Ich sollte Euch hassen. Ihr habt mir meine Stadt gestohlen und mich in die Schlucht geworfen. Glaubt mir, die ersten Sekunden, die ich gefallen bin, waren alles andere als lustig.«

»Das glaube ich gern. Trotzdem müsst Ihr Euer Volk jetzt auffordern, ebenfalls in die Tiefe zu springen und loszufliegen. Ich brauche jeden Einzelnen. Lasst die Kinder und die ganz Alten hier, aber alle Übrigen – Heranwachsende, Männer und Frauen – müssen dabei sein. Was an Waffen zur Verfügung steht, kommt in ein paar große Netze, die im Flug getragen werden können. Weitere Waffen haben wir im Wald vor Akink gelagert. Ich werde allerdings erst nach Euch eintreffen, denn zu meinem Leidwesen kann ich nicht fliegen.«

»Wenn wir Netze voller Waffen transportieren können, dann können wir auch Euch tragen.« Inzwischen hatten sie die Stufen zur Tropfsteinhöhle erreicht. Vor den Augen der Zuschauer kniete Mirontschek vor Mattim nieder. »Mein Prinz«, sagte er laut. »Gebietet über uns.«

»Ich soll schwimmen? Meinst du das ernst?«

Der Fluss war so breit, dass man das andere Ufer kaum sehen konnte. In der Tat war er Mónika noch nie so breit vorgekommen wie in diesem Moment, als ihr klar geworden war, was der Wolf von ihr wollte.

»Das schaffe ich niemals. Das ist viel zu weit! Es ist kalt, die Strömung ist stark, und ich bin keine so gute Schwimmerin, wie du vielleicht glaubst.«

Er ließ sich nicht umstimmen, sondern drängte sie zum Ufer, immer weiter zum Wasser hin. Als sie erneut protestierte, zeigte er ihr seine Zähne. Sie glaubte nicht, dass er sie tatsächlich beißen würde, doch erpicht darauf, es herauszufinden, war sie auch nicht. Überdies tauchte ein weiterer Wolf am Ufer auf, der wie ein Zwilling ihres roten Wolfs aussah – nur war sein Fell etwas dunkler. In den runden Augen des Tieres standen Schmerz und Verzweiflung, und als Mónika es etwas zu lange musterte, zog es die Lefzen hoch und knurrte drohend. In seiner Seite steckte ein abgebrochener Pfeil.

»Soll ich …?«, fragte sie bang.

Der fremde Wolf schlich vorsichtig näher. Ihm war anzusehen, wie sehr er litt. Sein Fell war blutverkrustet und stumpf, Kletten und vertrocknete Blumen hingen daran. Die beiden Wölfe begrüßten sich stumm, und Mónikas Begleiter schenkte ihr einen flehenden Blick.

Bang streckte sie die Hand aus und umfasste das zersplitterte Holz. »Das wird wehtun.«

Am liebsten hätte Mónika nicht hingesehen, aber sie wagte nicht, sich abzuwenden. Was passierte, wenn sie versagte, wollte sie sich nicht ausmalen. Mit einem kräftigen Ruck zog sie den Pfeil heraus.

Das verletzte Tier machte einen Satz nach vorne und brach keuchend zusammen. Mónikas Wolf leckte die Wunde, dann kehrte er zu ihr zurück und zerrte sie am Ärmel zum Wasser. Sie war so erleichtert, dass es ihr gelungen war, den Pfeil zu entfernen, dass sie keinen Widerstand mehr leistete.

»Überredet«, murmelte sie. »Ich mache mich lieber auf den Weg.«

Sie zog sich die Schuhe aus. Ihre Beine waren jetzt schon müde von der langen Strecke, und obwohl sie eine Weile geschlafen hatte, fühlte sie sich alles andere als ausgeruht.

»Hunger habe ich auch noch. Aber lass dich nicht dazu verleiten, mir ein rohes Kaninchen oder so was zu bringen.«

Er stupste sie wieder an. Na los, schien er ihr sagen zu wollen, rede nicht so viel, beeil dich lieber.

Sie schenkte dem verwundeten Wolf einen letzten Blick, dann gehorchte sie seufzend und watete ins Wasser. Sofort trieb ihr Rock nach oben und wellte sich um sie wie eine exotische Seerose. Sie hätte ihn ausziehen sollen, um ungestört schwimmen zu können, aber halb nackt wieder aus dem Wasser zu steigen – wenn sie es denn schaffte – war keine angenehme Vorstellung. Vielleicht waren am anderen Ufer Menschen, die ihr helfen konnten.

Zögernd breitete sie die Arme aus und begann zu schwimmen. Die Strömung zog sie sofort mit. Kurze Zeit später erschien der edle Kopf mit den klugen Augen über der Wasseroberfläche. Der Wolf schwamm neben ihr. Wenigstens das war beruhigend. Er kam mit. Bei diesem Gedanken erst wurde ihr bewusst, dass sie ihn wirklich ungern zurückgelassen hätte.

»Wir schaffen das, oder?« Sie musste ihren Atem und ihre Kraft sparen.

Aus dieser Perspektive war das andere Ufer in unerreichbare Ferne gerückt. Das kalte Wasser zerrte an ihr. Es war wie ein Feind, den es zu besiegen galt, aber es riss sie auch aus ihrem verträumten Zustand, in dem sie glauben wollte, all das sei nicht real. Es war sogar beängstigend wirklich: Der Fluss, über dem sich das Licht sammelte und auflöste, der Wolf an ihrer Seite, der dunkle Wald, den sie hinter sich gelassen hatte, und darin der angeschossene Wolf. Ihr Kampfgeist war geweckt.

»Das wäre doch gelacht«, flüsterte sie.

Sie hoffte nur, dass der Rote ihr helfen konnte, wenn ihre Kräfte sie verließen.

Leichtfüßig wie eine Wölfin hetzte Hanna durch den Wald. Sachte flüsternd bewegten sich die Zweige im Wind, Blätter raschelten, schienen zu tuscheln. Trockene Zweige brachen unter ihren Schritten, Schmetterlinge stoben davon.

Etwas traf sie unvermittelt in den Rücken. Sie stürzte nach vorne, wehrte sich gegen das Gewicht, das über ihr lag und ihre Bewegungen einschränkte.

»Ich habe sie!«

Hanna kannte die Stimme. Sie gehörte Wikor, dem großen Flusshüter. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass er sich geweigert hatte, als sie ihn dazu hatte zwingen wollen, gegen Akink zu marschieren. Sie hatte die frisch verwandelten Schatten dazu benutzt, König Farank zu stürzen, und Wikor hatte sich quergestellt – war es nicht so gewesen? Auch diese Erinnerung war unvollständig, denn Mattim fehlte in allen Bildern, die vor ihren Augen tanzten.

»Verräterin!«, zischte Wikor. »Du kannst dich nicht an Kununs Seite stellen und glauben, dass Mattims Freunde das hinnehmen.«

Er riss sie in die Höhe, und Hanna versetzte ihm einen Tritt gegen das Knie. »Ich bin nicht eure Feindin! Ich muss euch unbedingt …«

Er hörte ihr gar nicht zu, sondern bog ihren Arm brutal nach hinten. »Ich kann dich nicht töten ohne Feuer, aber kampfunfähig machen kann ich dich ganz gewiss.«

Sie schrie vor Schmerz auf, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Allein die Ungerechtigkeit des Ganzen war ihr zu gut bewusst, dass Mattims Verbündete sie gerade jetzt, da sie Kununs Pläne vereiteln wollte, geschnappt hatten.

»Hanna, so sehen wir uns also wieder.« Hinter ihnen stand der König. Und neben ihm … Mária?

»Du bist nicht tot?« Fassungslos starrte Hanna sie an. »Sie haben dich rechtzeitig in einen Schatten verwandelt?«

»Wie man sieht«, meinte Mária kühl. »Während du es ja nicht für nötig gehalten hast, mich darüber aufzuklären, was du bist … du Mörderbraut!«

»Sie muss sterben, bevor Mattim mit der Armee angreift«, sagte Wikor.

»König Farank!« Hanna wagte nicht, sich zu bewegen. Wikor war kurz davor, ihr die Schulter auszukugeln. »Ich muss mit Euch sprechen, bitte! Hört mich an!«

»Es tut mir leid, dass dies geschehen muss«, sagte Farank ernst. »Bevor du stirbst, sollst du wissen, dass es für die Sache des Lichts ist. Du wirst Mattim nicht daran hindern, Akink zu zerstören.« Er winkte, und ein paar Schatten mit Öllampen traten neben ihn.

»Nein!«, rief Hanna. »Es gibt ein Lichtkind!«

Farank hob die Hand. »Wartet. Was sagst du da? Ein Lichtkind? Meinst du etwa Mária? Dann täuschst du dich. Dieser Weg hat sich als Sackgasse erwiesen.«

»Nein, ich …« Sie wollte ihm die Wahrheit erzählen, aber Wikor hielt sie unerbittlich fest. Dabei musste sie den König doch ansehen, ihm in die Augen blicken, damit er merkte, dass sie nicht log! »Bitte, hört mich an! Ich kann Magyria retten!«

»An deiner Stelle würde ich mir auch rasch eine Geschichte ausdenken«, meinte Mária abfällig.

»So ist es nicht, ich …«

Farank ließ sie nicht ausreden. »Wer im Angesicht des Todes Geheimnisse preisgibt, wird dadurch nicht gerade glaubwürdig.« Hatte sie ihn nicht schon einmal bis aufs Blut gehasst, weil er ihren Tod befahl?

»Ihr wollt immer nur das Beste für das Licht, wie?« Ihre Stimme klang höhnisch und anklagend. »Zählt denn gar nicht, was ich für Elira getan habe? Zählt das nicht als Beweis dafür, dass ich meinen eigenen Kopf habe und meine eigenen Entscheidungen treffe? Kunun hat mir verboten, allein in den Wald zu gehen, aber hier bin ich, auf dem Weg zu Euch.«

»Hören Sie ihr nicht zu«, mahnte Mária. »Sie ist eine falsche Schlange. Kunun hat sie geschickt, um genau das zu sagen, wetten? Um Sie abzulenken, während Sie den Angriff befehligen. Während wir uns mit ihr beschäftigen, stampft er unsere Truppen in Grund und Boden.«

Mit wildem Kampfschrei sprang eine schwarzgekleidete Gestalt zwischen sie. Ein Tuch vor dem Gesicht verbarg alles, bis auf die Augen. Sie ging auf Wikor los, der die Gefangene zur Seite stieß, um sein Schwert zu ziehen. Hanna wartete keine Sekunde, sondern drehte sich um und rannte los.

Sie lief wie der Wind, duckte sich immer wieder, wich Baumstämmen und Lianen aus. Der Kampf hinter ihr endete so unvermittelt, wie er begonnen hatte.

»Haltet sie!«

»Das muss einer von Kununs Schatten sein, ihm nach!«

»Gleich hab ich sie!«

Schreie und Rufe. Hanna versteckte sich unter einem Gebüsch und wartete, bis Wikor wie ein Wildschwein an ihr vorbeigepoltert war, dann lief sie weiter, mitten in die dunkle Gestalt, die plötzlich vor ihr auftauchte. Geistesgegenwärtig schluckte sie den Schrei in ihrer Kehle herunter.

»Du gehörst nicht zu Kunun«, flüsterte sie.

Schlanke Hände nahmen die Maske ab. Eine Frau. Blondes Haar stahl sich aus der Kapuze. »Ich bin Goran.«

Goran. Eine vage Erinnerung übermannte Hanna. Kununs Haus, Goran an der Tür, Goran brachte sie nach oben in ihre Wohnung. Wie seltsam, es kam ihr vor, als wäre es damals schon ihre Wohnung gewesen! Wieder ein Bild, das nicht passte, das sie ratlos und wütend zurückließ.

»Mattim hat uns aufgetragen, Akink zu verbrennen«, wisperte die Flusshüterin. »Wir haben bereits angefangen, um Kunun abzulenken, doch wenn Mattim mit dem Heer kommt, wird es ernst.«

»Akink verbrennen?«, fragte Hanna entsetzt.

»Magyria zerfällt, und dabei zerstört es Budapest. Aber wenn es tatsächlich ein Lichtkind gibt, darf Mattim das nicht tun! Du musst es verhindern, Hanna!«

»Ich?« Vorher war sie nur erschrocken gewesen, jetzt war sie entsetzt.

»Lass dir was einfallen. Ich muss jetzt zurück zu meinen Leuten.« Hastig entledigte sich Goran des dunklen Mantels.

»Warum hilfst du mir? Hältst du mich denn nicht für eine Verräterin, so wie alle anderen?«

»Ich kenne dich«, sagte Goran. »Mattim hat dich geliebt, das hätte er nie, wenn du zu so etwas wie Verrat fähig wärst.«

»Jeder ist zu Verrat fähig«, widersprach Hanna. Dann fügte sie leise hinzu: »Attila ist das Lichtkind. Selbst wenn mir etwas geschieht – sorge dafür, dass Mattim ihn findet und nach Magyria bringt.«

Goran nickte ernst. »Ich weiß, was dir dieser Junge früher bedeutet hat. Du würdest ihn nie ohne einen guten Grund ins Spiel bringen. Und der König hat sich schon öfter geirrt. Irgendwann wird dieser halsstarrige alte Narr das auch erkennen. Und jetzt lauf! Wir brauchen dich in Akink, wenn die Schlacht beginnt.«

Als weitere Personen durchs Dickicht brachen, schob Goran das Kostüm unter eine Wurzel. »Beeile dich!«

Hanna hörte nur noch, wie die junge Frau rief: »Verdammt, ich habe die Spur verloren!«, dann hetzte sie weiter auf den Fluss zu, den ein schwaches Nachleuchten zwischen den Bäumen ankündigte. Ein Stück weiter war schon die Brücke. Entgegen ihrer Befürchtung wurde dort nicht gekämpft. Aus der Stadt war Geschrei zu hören, die Hörner riefen, Brandgeruch wehte zu ihr herüber. Hanna nahm all ihren Mut zusammen, als sie ihre Deckung verließ, und rannte auf die Brücke zu.

Ein Trupp Bewaffneter kam ihr auf halber Höhe entgegen. »Prinzessin, wir warten schon auf Euch!«

»Ich wurde aufgehalten.« Ihre Hosen waren zerrissen, und irgendwo musste sie ihre Schuhe verloren haben, wie ihr erst jetzt auffiel. Hastig strich sie sich die Haare glatt. »Berichtet. Wie ist die Lage?«

Aus eigener Kraft wäre Mirita nie aus dem Fluss herausgekommen. Der Wolf fand sie, zog sie am Kragen durch die Wellen und schleppte sie ans Ufer.

»Geh weg«, stöhnte Mirita, nachdem sie das Wasser ausgehustet hatte.

Natürlich gehorchte er ihr nicht. Dieser verdammte Wolf!

»Du bist schuld.« Sie spuckte schmutziges Flusswasser aus.

Ihr Mund hätte bluten sollen, aber es floss kein Blut. Die Schmerzen hätten so schlimm sein müssen, dass sie davon ohnmächtig wurde, dass sie schrie, bis sie heiser war, aber sie fühlte rein gar nichts – außer einer dumpfen, verzweifelten Resignation.

»Du hast mich verwandelt, du dämliches Vieh. Bela!« Sie spie ihm seinen Namen vor die Füße. »Oder soll ich Prinz sagen? Prinz Bela? Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich längst tot. Nun kann ich nicht mehr sterben. Schau mich doch an, wie könnte ich so leben? So?«

Er winselte leise, als er sich neben ihr ausstreckte, den Kopf auf die Vorderläufe gelegt. Seine Augen waren klüger, als sie sein sollten. Sie wollte keinen Trost, und sie hatte auch nicht um seinen Beistand gebeten. Sie wollte allein sein mit ihrem Elend. Aber er blieb und tat, als wäre er ihr Freund.

»Ich war ziemlich hübsch, wenn ich das mal so sagen darf im Rückblick. Hoffentlich warst du nicht in mich verliebt – immerhin ist kaum noch etwas von mir übrig.«

Bela blinzelte nicht einmal. Er schloss die Augen und rückte ein wenig näher.

Mirita gab es auf, ihn zu vergraulen, und legte sich in ihrem Schlammbett zurecht. Kühles Wasser umspülte ihren verbliebenen Fuß. Über ihr nahm der grauschwarze Himmel ein fahles Schwefelgelb an, als die letzten leuchtenden Nebelwolken sich von der Oberfläche des Flusses lösten und nach oben stiegen.