21

AKINK, MAGYRIA

Immer noch konnte Mattim sich kaum bewegen, sein ganzer Körper schmerzte so sehr, dass er in jeder Sekunde an die Kletterei über dem Abgrund und den wilden Ritt zurück nach Akink erinnert wurde. Am liebsten hätte er sich in eine dunkle Ecke verkrochen, nachdem sie die Pferde zurückgebracht hatten und Hanna in Richtung Burg verschwunden war. Doch nachdem seine Mutter in Sicherheit war, musste er sich um das nächste Problem kümmern.

Auf dem Weg zu Miritas Haus achtete Mattim sorgsam darauf, dass ihn kein anderer Schatten bemerkte.

»Mattim, wo warst du!«, japste sie, sofort nachdem sie die Tür geöffnet hatte. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Du siehst furchtbar aus, weißt du das?«

»Ich musste eine Weile untertauchen, um nachzudenken«, erklärte er. »Darf ich reinkommen?« Der Platz am Küchentisch war immer für ihn frei. »Du musst mir helfen.«

»Gegen Kunun?« Ihre Stirn umwölkte sich. »Wozu willst du mich jetzt schon wieder anstiften?« »Es geht nicht um Kunun«, versicherte Mattim, »sondern darum herauszufinden, was hier passiert und was man dagegen tun kann. Nicht für mich oder für sonst wen, für Akink. Für Magyria. Du weißt selbst, wie übel es ausgehen kann, wenn plötzlich Mauern verschwinden.« An ihrer verhaltenen Reaktion merkte er, dass er richtig lag. »Was ist?«, bohrte er nach. »Was ist noch vorgefallen?«

»Ein paar Häuser sind eingestürzt.« Unruhig wickelte Mirita sich eine Haarsträhne um den Finger, wieder und wieder. Es fehlte nur noch, dass sie darauf herumgekaut hätte. »Mattim, hör zu. Das geht dich nichts an. Du gehörst nicht hierher, du bist kein Schatten wie wir. Misch dich nicht ein, geh in die andere Welt und bleib dort.«

»Hier stürzen Häuser ein, und ich soll drüben in Budapest ein ganz normales Leben führen? Du kennst mich besser, Mirita.«

»Eben«, sagte sie. »Du glaubst jedes Mal, du müsstest etwas unternehmen, und dann geht alles erst recht schief und wird nur umso schlimmer.«

»Wenn ich weiterforsche, wird dann die Königsburg einstürzen oder in Budapest landen?«

»In Budapest landen? Wie meinst du das?«

»Mirita.« Er sah sie eindringlich an. »Was hier verschwindet, taucht dort auf. Es ist, als hätte sich eine Pforte geöffnet und die Dinge fallen einfach hindurch.«

»Das kann nicht sein«, flüsterte sie entsetzt.

»So ist es aber. Verstehst du jetzt endlich? Magyria fällt in die andere Welt, und was das für Konsequenzen hat, für jene Welt wie für diese, weiß niemand, nicht einmal Kunun. Ich kann unmöglich die Hände in den Schoß legen und zusehen.«

Sie hatte sich die nächste Locke vorgenommen. Ob ihre Haare so gewellt waren, weil sie eine Strähne nach der anderen bearbeitete? »Vorige Woche ist eine Schublade aus unserem Küchenschrank verschwunden. Lach nicht. Du meinst, sie ist irgendwo bei euch da drüben gelandet? Es ist ein unschönes Loch entstanden.«

Er blickte an ihr vorbei auf den Schrank. Tatsächlich, eine Schublade fehlte. Leider konnte er seine Erheiterung nicht völlig unterdrücken, was Mirita mit einem wütenden Fauchen beantwortete. »Ich habe gesagt, lach nicht! Mein bestes Messer ist weg und die Löffel, die von meiner Großmutter.«

»Ich nehme dich ja ernst, wirklich. Das ist nicht lustig, wenn Sachen in ominösen Pforten verschwinden. Ist hier jemand verwandelt worden? In eurer Küche?«

»Nein«, knurrte Mirita. »Hier ist keine Pforte! Auch da draußen auf der Straße war keine. Man muss ein Schatten sein, um durch die Übergänge zu kommen. Es ergibt keinen Sinn.«

Er ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen. »Kunun hat recht«, sagte er nachdenklich. »Magyria fällt auseinander.«

Er stützte das Kinn in beide Hände.

»Ach, ich wollte dir doch was anbieten! Ich vergesse langsam, dass Menschen trinken müssen.« Sie sprang eilfertig auf und suchte ein Gefäß in dem lädierten Küchenschrank. »Leider gibt es nur Brunnenwasser. Frisch geholt, meine Mutter sorgt dafür, dass wir jederzeit etwas dahaben.«

Mattim fiel auf, dass er Miritas Mutter noch gar nicht gesehen hatte. »Wo ist sie?«

Mirita zuckte die Achseln. »Sie hat Freunde gefunden. Einen speziellen, glaube ich. Ihr tut es gut, ein Schatten zu sein. Seit sie ihre anfängliche Depression überwunden hat, ist sie kaum wiederzuerkennen. Sie hat keine Scheu, mit Fremden zu reden, dabei war sie früher so schüchtern. Sie fängt Gespräche an, zieht sich hübsch an, geht sogar auf Kununs Bälle, und ich kann dir versichern, sie macht dabei eine überraschend gute Figur.«

Mattim dachte an Hanna und ihre auffallende Erscheinung an jenem Festabend, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Tatsächlich hatte sie etwas Strahlendes an sich gehabt – nein, strahlend war das falsche Wort. Eine dunkle Ausstrahlung. Erwachsener, damenhafter. Er konnte das Wort, nach dem er suchte, nicht fassen. Er wusste ja nicht einmal, ob es gut oder schlecht war. Und dann die Entführung der Königin, die Fahrt nach Jaschbiniad – woher nahm Hanna nur den Mut dazu? Nicht dass sie jemals feige gewesen wäre, aber vor Kunun hatte sie sich auf eine Weise gefürchtet, die viel tiefer ging als jede andere Furcht. Sie hatte sich regelrecht vor ihm gegruselt. Offenbar hatte ihr die Verwandlung in einen Schatten auf eine Weise gutgetan, die Kunun nicht hatte voraussehen können. Sie glaubte zwar, ihn zu lieben, hatte jedoch keinerlei Scheu davor, ihm zu trotzen. Hanna hatte den Mut in sich gefunden zu tun, was sie wollte, so wie Atschorek.

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er Hanna mit seiner unberechenbaren Schwester verglich.

»Und du?«, fragte er. »Was hat es mit dir gemacht?«

Mirita schwieg. Nachdenklich sah sie zu, wie er das Wasser trank. »Warum leuchtest du nicht?«

»Wie bitte?«

»Warum ist Akink nicht hell, wenn du hier bist? Du bist der Prinz des Lichts, also wo ist das Licht? Es sollte nicht so dunkel sein, wenn jemand wie du sich in Magyria aufhält.«

»Ich brauche Hanna dafür. Sie ist meine Lichtprinzessin.«

»Was?« Mirita starrte ihn an, sichtlich erschrocken. »Aber … ich dachte, du brauchst sie nicht mehr, ich dachte, es wäre sowieso sinnlos. Dass es sich nicht lohnt zu kämpfen. Ich dachte … oh beim Licht!« Sie wandte sich ab, rang um Fassung.

Er beobachtete sie und ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Also hatte sie ihren Teil dazu beigetragen, Hanna in einen Schatten zu verwandeln. Hatte sie es in dem Glauben getan, dass sich sowieso nichts mehr änderte?

»Könntet ihr beide nicht schnell ein Lichtkind zeugen?«

»Nicht du auch noch«, stöhnte er.

»Wieso? Das war meine beste Idee, um Akink zu retten.«

Seine Wangen röteten sich. »Tja, da Hanna mich vergessen hat, steht das nicht zur Debatte.«

»Niemand anders kommt in Frage, nur die Richtige. Das weiß ich doch. Außerdem, wenn Magyria weiter in dieser Geschwindigkeit zerfällt, haben wir sowieso keine Zeit, auf die Geburt des Babys zu warten.«

Elira konnte Farank nicht verwandeln, Mattim konnte Hanna nicht verwandeln, und sie würden auch kein Kind haben. Er kannte Hanna. Möglicherweise stand sie auf ihn – vielleicht, hoffentlich, eventuell –, aber so schnell würde sie sich nicht verführen lassen. Er brauchte beides, und zwar so rasch wie möglich: eine größere Armee und das Licht, nur woher sollte es kommen?

»Ja«, sagte er leise. »Wir haben keine neun Monate. Es wäre vielversprechender, ein anderes Lichtkind zu suchen.«

»Was für ein anderes?«

Hoffnung ist wie ein Angelhaken. Er spürte den scharfen Stich dieses Hakens, der ihn durchs Wasser schleifte, auf ein Ziel zu, das nur böse enden konnte.

»Kunun hat hundert Jahre in Budapest gelebt.«

»Du glaubst, Kunun …?« Ihre Augen wurden groß. »Er könnte ein Kind haben?«

»Ich glaube gar nichts. Allerdings könnte es nicht schaden, in dieser Richtung weiterzuforschen, denke ich.«

»In Kunun ist aber kein einziger Funken Licht«, wandte Mirita ein.

»Das scheint mir auch so«, gab Mattim zu. »Doch vielleicht irren wir uns da. Außerdem, wer weiß schon, wie er am Anfang war? Jung und verzweifelt. Er wollte nichts so sehr wie die Rückkehr nach Akink, und ausgerechnet das wurde ihm als Einziges verwehrt. Er war der Leuchtendste von allen, vor seiner Verwandlung in einen Schatten. Ein Prinz wie die Sonne, wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf. Und ein Jahrhundert ist eine lange Zeit. Vielleicht hat er irgendwann einmal die Richtige getroffen, als er noch zur Liebe fähig war.«

»Das wirst du ihn vermutlich nicht fragen, oder?«, fragte Mirita zweifelnd.

»Nein«, sagte Mattim leise. Ihm war klar, dass er von Kunun nichts erfahren würde. Außerdem durfte sein Bruder auf keinen Fall wissen, worauf er aus war. »Wir könnten Atschorek fragen. Sie und Kunun stehen sich sehr nah.«

»Sie wird sofort erraten, was du planst. Dann wird sie selbst nach diesem Kind suchen – und es womöglich umbringen!«

»Es wird kein Kind mehr sein«, sagte Mattim leise. »Angenommen, es war vor achtzig Jahren, dann müssten wir einen alten Mann suchen. Oder eine alte Frau. Vielleicht auch schon die zweite Generation, wer weiß?«

»An deiner Stelle würde ich Atschorek gegenüber nicht einmal Andeutungen machen«, meinte Mirita zweifelnd. »Das ist viel zu riskant.«

»Keine Sorge, das werde ich nicht«, sagte Mattim. »Das muss jemand anders tun.«

Die Wölfe rennen durchs Gras, und eine Stimme flüstert im Dunkeln: »Sieh hin. Sieh, was in deinem Herzen ist.«

Draußen glommen die Lichter der Stadt auf, der Verkehr rauschte. Eine neue Sommernacht begann. Hanna hatte den heißen Nachmittag verschlafen und wusste nicht, wofür sie sich mehr schämen sollte – für diesen lächerlichen Traum oder dafür, dass sie um diese Zeit noch schlief. Hoffe ich, dass ich auf diese Weise weniger Blut brauche? Dass ich der Jagd ausweichen kann, die mein Schicksal ist? Oder dass mich das Licht im Schlaf erwischt, dass es zärtlich zum Fenster hereinkriecht und mich verbrennt, ohne dass ich es merke?

Nein, sie war nicht lebensmüde. Noch lange nicht. Vielleicht würde das irgendwann kommen, wenn sie so alt war wie Kunun. Hundertzwanzig, mindestens. Oder hundertdreißig? Sie hatte ihn noch nicht darauf angesprochen, und sie würde ihn auch jetzt nicht damit behelligen. Kunun hasste nichts so sehr, wie ausgefragt zu werden. Weil du dich nicht verletzlich machen willst, beantwortete sie die Frage selbst. Weil du deine Seele nicht offen vor mir ausbreiten magst, wenn du dir nicht sicher sein kannst, wie ich sie behandle.

Benommen schüttelte sie den Schlaf ab. Heute wollte sie nicht grübeln, sondern tanzen. Kunun erwartete sie in der Burg.

Er machte eine gute Figur in seinem schwarzen Anzug. Obwohl er nur reglos im Schatten hinter der Balustrade stand, spürte sie seine dunkle Energie.

Geschmeidig trat er neben Hanna an die Brüstung. »Nach dieser langen Trennungszeit haben wir uns ein Fest verdient.« Trotz der frohen Worte klang er verärgert. Nein, das war kein Ärger in seiner Stimme. Es war Angst. Hatten ihm die wenigen Tage ohne sie so zugesetzt? Hatte er etwa befürchtet, sie könnte nicht zu ihm zurückkehren? »Bist du glücklich?«

Er gab ihr die Macht, ihm wehzutun. Das bedeutete ihr mehr als jede Demonstration von Stärke.

»Ja«, flüsterte sie.

Diesmal küsste er sie anders als sonst. Zurückhaltend, als wäre es eine Frage, deren Antwort er noch nicht kannte.

»Meine Hanna«, flüsterte er, und sie widersprach ihm nicht. Es fühlte sich richtig an, neben ihm zu stehen und an seiner Seite die Gäste zu beobachten. Unter ihnen im Saal war das Fest in vollem Gange. Hanna stützte die Hände auf und beugte sich über das Geländer, auf der Suche nach einem blonden Haarschopf.

»Hältst du nach jemandem Ausschau?«

Tatsächlich, da waren sie: beide, Mirita und Mattim, Seite an Seite. Sie tanzten, Mirita den Kopf an seine Schulter gelehnt, während Mattim sich wachsam umsah. Ihre Blicke trafen sich. Hanna starrte zurück, ohne ein Zeichen, dass sie ihn kannte, dabei krampfte sich alles in ihr zusammen. Wie konnte Mattim dieses Mädchen im Arm halten, nach allem, was geschehen war? Sie rief ihre eigenen Gedanken zur Ordnung. Er ging sie nichts an, weder was er tat noch mit wem er zusammen war. Ihre Liebe gehörte Kunun, ihm und niemand sonst.

»Er sieht ständig her«, sagte sie.

»Lass dich nicht von ihm stören. Du bist eben sehr hübsch, deshalb kann er nicht anders.« Kunun klang zufrieden. »Willst du tanzen?«

»Ja, möchte ich, am besten die ganze Nacht hindurch. Lass uns die anderen in Grund und Boden tanzen.«

Hanna spürte Mattims Blicke, als sie an der Seite des Königs die Wendeltreppe in den Saal hinabstieg. »Mein Bruder ist übrigens nicht der Einzige, der gerne an meiner Stelle wäre«, sagte Kunun zufrieden. »Wenn du magst, dann gönn ihm ruhig einen Tanz. Ich habe nichts dagegen.«

Mirita schoss giftige Blicke in ihre Richtung, als Hanna ihr die Hand auf die Schulter legte. »Darf ich?«

Mattim schien sich ebenfalls nicht sonderlich zu freuen, vielleicht tat er jedoch auch nur so. »Was verschafft mir die Ehre?«

Hanna wollte, dass er lächelte. Dann war es, als würde er leuchten, und in seinen strahlenden grauen Augen wohnte eine ganze Welt. Merkwürdigerweise war sie mit Stummheit geschlagen. Krampfhaft suchte sie nach Worten, aber sie konnte ihn nur anschauen. Dabei war sie sich allzu deutlich der Stellen bewusst, an denen ihre Körper einander berührten. Er hielt beim Tanzen ihre Hand, hatte die andere Hand an ihre Taille gelegt. Es war, als würde seine Haut brennen, als würde sie sich an seiner Nähe versengen. An seinem ernsten Blick, an diesem finsteren Gesicht.

Habe ich dich verletzt?, wollte sie fragen. Habe ich dich irgendwie beleidigt? Was habe ich getan? Doch das Einzige, woran sie sich erinnerte, war die Brücke und wie sie einander geholfen hatten, aus der Schlucht herauszukommen. Erst nach der Hälfte des Liedes fiel ihr endlich ein, worüber sie reden könnten.

»Du hast gesagt, du kannst nicht tanzen. Aber du machst gar keine schlechte Figur dabei. Hast du geübt?«

»Ja«, knurrte er. Und dann lächelte er doch, jedenfalls beinahe, peinlich berührt und überwältigt von seinem eigenen Mut.

Auf einmal war es, als wären sie nie aus Jaschbiniad zurückgekommen. Die Verbundenheit war immer noch da, die Möglichkeit, gemeinsam über Dinge zu lachen, die schrecklich waren.

»Hast du es ihm gesagt?«, fragte er leise. »Ihr wirkt so vertraut miteinander. Weiß er von unserem kleinen Ausflug?«

Hanna wollte nicht über Kunun reden. Tausendmal lieber hätte sie Sätze ausgesprochen, die mit »Weißt du noch, in Jaschbiniad« begannen. Stattdessen sagte sie: »Er ist … anders als vorher. Vielleicht habe ich ihm unrecht getan. Er scheint seine Mutter wirklich zu vermissen. Mich hat er wohl auch ziemlich vermisst.«

Auf Kununs sanftere Seite ging Mattim nicht ein. »Was ist mit deiner Schramme? Wie hast du ihm die erklärt?«

»Unachtsamkeit. Ich bin eben manchmal ein richtiger Tollpatsch.«

»Vorsicht, Mundwinkel runter! Nicht dass jemand glaubt, du genießt es, mit mir zu tanzen.«

Sofort war sie wieder ernst. »Stimmt. Es ist eine unglaublich große Überwindung für mich.«

»Mein Kompliment für deine angewiderte Miene. Höchst glaubwürdig«, sagte er heiter. »Oder wir machen uns dünne, und du zeigst mir dein Zimmer. Dein strenger Herr und Meister ist gerade nirgends zu sehen, und meine böse Hexe hat sich schmollend verkrochen. Lass uns verschwinden, solange die Luft rein ist.«

»Du bist unglaublich.«

»Ja«, meinte er bescheiden, »das ist mir auch schon aufgefallen, irgendwie. Ich kann nichts dafür, es ist angeboren.«

»Ich nehme dich garantiert nicht auf mein Zimmer mit! Das hättest du wohl gerne. Und jetzt hör auf zu grinsen, sonst trete ich dir auf den Fuß.«

»Aua«, sagte er.

»Gut«, fand sie.

»Hast du überhaupt ein eigenes Zimmer?«, fragte er plötzlich, und auf einmal war da wieder dieser bittere, dunkle Zug um seinen Mund, der alles Leuchten erstickte.

»Du wirst mir sofort sagen, was los ist«, befahl Atschorek. »Bilde dir ja nicht ein, du könntest erst herkommen und dann einen Rückzieher machen. Also, was ist? Was musst du mir so dringend sagen? Egal was es ist, es wird dir Kunun nicht zurückbringen, das weißt du hoffentlich.«

Réka schrumpfte unter dem strengen Blick der schönen Schattenfrau zu einem Nichts zusammen. Sie saß auf der äußersten Kante des Sofas. Eigentlich komisch, dachte sie. Es war immer die Liebe, die sie hin und her getrieben hatte, von einer Hoffnung zur nächsten, von einer Entscheidung zur anderen. Nie hätte sie gedacht, dass die Liebe, diese verrückte, selbstmörderische, nicht auszulöschende Liebe, die ihr Leben zerstört hatte, sich in etwas anderes verwandeln könnte – in Hass.

Sie war hier, weil sie hasste, wie nie zuvor ein Mensch gehasst hatte. Und alles nur wegen Hanna.

Hanna, die es von Anfang an auf Kunun abgesehen hatte. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, flüchtig bei einem Stadtbummel, hatte sie geplant, ihn zu erobern. Und Kunun hatte endlich sein wahres Gesicht gezeigt. Irgendwann kam die Wahrheit immer ans Licht, und diesmal sah die bittere, schmerzhafte Wahrheit so aus: Kunun hatte Réka nie geliebt, sonst hätte er sie nicht so gnadenlos fortjagen können. Sie hatte sogar Mattim für ihn verraten, hatte ihm seinen aufmüpfigen Bruder auf einem Silbertablett serviert, und wofür? Damit Hanna und Kunun zusammen sein konnten?

Was sie auch unternahm, es würde ihr Kunun nicht wiedergeben, da hatte Atschorek recht. Doch ihn zu vernichten – das konnte durchaus gelingen.

»Ich spüre Hannas Glück«, sagte Réka. »Ich weiß, in wen sie verliebt ist, und es ist nicht Kunun.«

Atschorek schnellte aus ihrem Sessel hoch und warf dabei das Tablett mit den Wassergläsern um. Die alte Gewohnheit, Gäste zu bewirten, ließ sich anscheinend nicht ausrotten, nicht einmal unter Schatten.

»Was? Woher weißt du das?« Ihre Hand schnellte vor und legte sich mit hartem Klammergriff um Rékas Kehle.

Das Mädchen ächzte vor Schmerz, dann hörte es auf zu atmen und erwiderte den scharfen Blick der Schattenprinzessin mit einem trotzigen Funkeln.

»Sie liebt Mattim«, sagte Réka. »Ich kann es spüren. Es ist, als wären wir Zwillinge. Als träumten wir denselben Traum.«

Zu Rékas Überraschung begann Atschorek leise zu lachen. »Hanna und Mattim. Hanna im Glück. Wie lange geht das schon so?«

»Ich weiß es nicht. Die Sache ist nicht so klar, wie es sich anhört. Sie war sich lange unsicher. Das Gefühl in ihr wächst, und erst seit kurzem ist es stark genug, dass ich es mit Gewissheit sagen kann.«

»Du spürst also ihr Glück.« Atschorek verengte die Augen, während sie nachdachte. »Und Kunun? Er macht sie nicht glücklich?«

Davon träumst du wohl, Kunun, dass du irgendjemanden glücklich machen könntest.

»Darf ich es ihm persönlich sagen?«

»Du glaubst, dies sei eine gute Botschaft? Das glaubst du wirklich?«

Atschorek starrte Réka eine Weile an, dann packte sie das Mädchen am Handgelenk und zerrte es aus dem Raum.

»Wohin gehen wir?«, jammerte Réka. »Was soll das?«

»Still!«, befahl Atschorek. »Wir gehen nach Akink. Hier ist die nächste Pforte.«

Réka fühlte sich wie in Trance, während sie durch die dunklen Straßen marschierten und Atschorek mit raschen, entschlossenen Schritten vorausging. Die Wächter an der Burg grüßten die Prinzessin ehrerbietig. Drinnen fand ein Fest stand, Musik füllte die Räume. Atschorek ging immer schneller, und als sie endlich die langen, stillen Flure der Burg erreicht hatten, rannte sie fast und schleifte das Mädchen hinter sich her. Die Hand der Schattenprinzessin umfing Rékas Gelenk wie eine stählerne Klammer.

Atschorek stürmte in Kununs Salon. Im ersten Moment dachte Réka, er sei gar nicht da. Bestimmt tanzte er auf seinem eigenen Fest. Es war völlig finster im Zimmer, finster und still, und sie wollte schon erleichtert aufatmen, als sie seine Stimme hörte.

»Was willst du?«

Atschorek ließ Réka los. Etwas ratschte, ein Zündhölzchen flammte auf, die Öllampe flackerte leicht und begann mit einem leisen Zischen zu brennen.

Kunun saß in einem Sessel am Fenster. Réka fragte sich, warum, denn draußen war absolut gar nichts zu sehen. Hatte er im Sitzen geschlafen? Er beschattete seine geröteten Augen mit der Hand. Heute trug er keine Handschuhe.

»Was soll das?«, knurrte er.

»Hanna und Mattim sind wieder zusammen«, sagte Atschorek und versetzte Réka dabei einen Stoß, auf Kunun zu.

Sie fing sich gerade noch ab, bevor sie gegen den Sessel stürzte, und stand dann vor ihm, klein und verzagt. Allein der Hass verlieh ihr die Kraft, seinem finsteren Blick standzuhalten. Sie war wie eine Hülle, papierdünn, in der die Flamme des Zorns brannte. Hanna liebt dich nicht!, wollte sie ihm entgegenschmettern, aber sein Schweigen war tief und dunkel, und Réka wagte es nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben.

»Das kann nicht sein«, sagte Kunun. »Das ist sogar völlig unmöglich. Hanna kann sich an nichts erinnern, unwiderruflich. Ich habe Mattim aus ihrem Leben gelöscht. Selbst wenn man es ihr sagte, würde sie es nicht glauben. Nicht glauben können. Der Gedanke würde ihr so absurd vorkommen, als wenn ich dir sagen würde, dass du deine Kindheit auf dem Mond verbracht hast.«

»Ach, Kunun«, meinte Atschorek, ihre dunklen Augen wie erloschene Sterne.

»Sie liebt Mattim«, versuchte Réka es noch einmal. Der Satz sollte wie ein Dolchstoß in seine Brust dringen und ihn vernichten. Stattdessen verpuffte die Nachricht wie eine Silvesterrakete, die man anzündete und die trotzdem nicht losging.

»Ich dulde es nicht, dass du so über meine Braut redest«, sagte er. »Hinaus mit dir. Deine Verdächtigungen kannst du dir sparen. Ich vertraue Hanna voll und ganz.«

»Réka kann Hannas Gefühle spüren«, sagte Atschorek. »Das wusstest du doch, oder? Die beiden sind miteinander verbunden. Hör auf, blind zu sein, Kunun. Du wusstest von Anfang an, dass es ein großes Risiko ist, Mattim am Leben zu lassen. Du hättest mir erlauben sollen, es viel früher zu beenden.«

»Was willst du?«, fragte er. Nichts an seiner Stimme oder seinem Gesicht verriet, ob er ihr glaubte oder nicht.

»Ich will sie jagen«, sagte Atschorek. »Alle beide. Gib mir die Erlaubnis, und ich bringe sie zur Strecke.«

»Dazu kenne ich dich zu gut, liebe Schwester. Du bist zerfressen vor Eifersucht. Die Sache kommt dir doch gerade recht.«

Atschorek senkte den Kopf zu einem Nicken. Wut sprühte aus ihren Augen, aber sie beherrschte sich. »Dieses Miststück Hanna führt dich an der Nase herum, Kunun. Du willst es bloß nicht merken. Du willst blind sein. Nun denn, es ist deine Wahl. Wir sehen uns.« Sie brachte die Andeutung einer Verbeugung zustande und rauschte aus dem Zimmer.

»Und du, Réka? Was soll ich davon halten, dass du angekrochen kommst, um Hanna anzuschwärzen? Was versprichst du dir davon?« Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. »Hast du denn einen Beweis? Das würde mich sehr wundern.«

»Ich habe viele widersprüchliche Gefühle von Hanna empfangen. Glück, Liebe, aber auch Unglück, Zweifel und Schuldgefühle.«

»Vielleicht hat sie mich geliebt, wenn sie glücklich war, vielleicht hat sie sich schuldig gefühlt, wenn sie jemanden gebissen hat. Das heißt gar nichts.«

»Sie liebt dich nicht!«

»Wenn es Mattim nie gegeben hätte, dann hätte sie mich gewählt«, sagte er. »Den Beweis habe ich erbracht, nicht wahr? Ich habe Hanna zu nichts gezwungen, und sie ist trotzdem bei mir geblieben. Wenn sie sich an nichts erinnert … und das tut sie doch nicht, oder?«

»Nein«, bestätigte Réka leise, »tut sie nicht.«

»Wo Mattims Name war, habe ich Leere zurückgelassen. Ich habe ihn aus ihr herausgebrannt. Jetzt bin ich ihr Glück. Wenn du spürst, dass sie glücklich ist, dass sie verliebt ist, dann in mich. Das erste Mal in meinem Leben werde ich geliebt als derjenige, der ich bin.«

»Ich habe dich auch geliebt!«

»Das zählt nicht«, sagte er. Es klang nicht einmal schroff, bloß erschreckend endgültig. »Ich habe dich so oft gebissen … Du hattest keine Wahl.«

»Nein«, protestierte sie, »seit ich dich das erste Mal gesehen habe …«

Er unterbrach sie mitleidslos. »Du kannst diese Liebe zwischen mir und Hanna nicht ertragen, genau wie Atschorek sie nicht ertragen kann.« Als er die Fäuste ballte, zog Réka ihre Hand vorsichtig zurück. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie ihre Finger auf seine gelegt hatte.

»Ich bin das Schicksal«, sagte er. »Ich bin derjenige, der die Macht hat, darüber zu entscheiden, wen Hanna liebt!«

»Liebt?«, schrie Réka.

Er sprang auf, versetzte dem Sessel einen Fußtritt, der ihn mehrere Meter weiterrutschen ließ, und trat vor den neuen, üppig umrahmten mannshohen Spiegel. Darin war seine hochgewachsene Gestalt zu sehen und dahinter zusammengekauert das junge Mädchen mit den kurzen dunklen Haaren und dem bleichen Gesicht – ein Dämon mit einer gruseligen Fratze und eine liebliche Elfe aus einer anderen Welt.

Kunun blickte auf sie herab und schwieg. Das Schweigen breitete sich um ihn aus, und Réka erschrak vor den vielen Antworten in der Stille, die sie nicht hören wollte und denen sie dennoch nicht entgehen konnte. Es war nicht möglich, dass Kunun sich ernsthaft in Hanna verliebt hatte. Ganz und gar unmöglich, dass er sie liebte. Ausgerechnet Kunun!

Er konnte überhaupt nicht lieben. Niemanden.

Sie zwang sich dazu, sich so hoch aufzurichten wie nur möglich und im Spiegel eine junge Frau erscheinen zu lassen, die selbstbewusst und kämpferisch wirkte. Trotzdem zitterte ihre Stimme, als sie seinen Namen aussprach. »Kunun, offensichtlich bist du unbelehrbar. Nur beschwer dich später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Wie kannst du es wagen herzukommen, um mir das Einzige kaputtzumachen, was ich jemals hatte? Das Einzige, was meinem Leben Bedeutung verleiht? Hast du vor, das Licht meines Lebens dunkel zu machen? Denn das ist sie für mich. Sie. Und nicht du.«

Sie zwang sich, aufzustehen und das Kinn nach vorne zu recken. Die Frau im Spiegel wirkte nun schon weniger kleinlaut, weniger verzweifelt. Sie sah tatsächlich beinahe nach einer Frau aus, nicht nach einem wimmernden Mädchen.

Réka machte einen Schritt auf ihn zu. »Warum muss es Hanna sein?«, fragte sie mutig. »Warum ausgerechnet Hanna?«

»Sie ist schön«, sagte Kunun leise. »Sie hat alles, was ich von der Frau an meiner Seite erwarte.«

Das tat weh, gerade weil es stimmte. Hanna machte eine extrem gute Figur als Kununs Prinzessin, als seine Schattengeliebte. Sie war ein Blickfang auf jedem Fest.

Unverhofft sprang er auf und packte Réka am Arm.

»Wohin gehen wir?«

»Sie ist auf dem Fest. Sie tanzt. Wenn sie Mattim liebt, wie du sagst, müsste man das nicht erkennen können? Wenn er sie doch ach so glücklich macht?«

Er schleifte Réka durch die Gänge. Die Musik dröhnte ihnen entgegen, und kurz darauf erreichten sie die Treppe, die hinauf zur Empore führte. Von hier oben überblickten sie die Tänzer. »Hast du sie schon entdeckt?«

»Da«, flüsterte Réka.

Hanna tanzte mit Mattim und wirkte dabei äußerst gelangweilt. Ihre Miene hellte sich erst auf, als ein anderer Mann sie zum Tanz aufforderte. Ihr Blick wanderte zur Galerie, und sie lächelte, als sie Kunun dort stehen sah.

»Für mich wirkt es so, als hätte sie mich vermisst, meinst du nicht? Dabei hatte sie meine ausdrückliche Erlaubnis, mit Mattim zu tanzen. Ich habe sie quasi darum gebeten.«

Das lief definitiv nicht so, wie es sollte.

»Hast du die beiden jemals zusammen gesehen?«

»Nein«, musste sie zugeben.

»Wie funktioniert das mit eurer Verbundenheit? Weißt du, was Hanna denkt? Bist du dabei, wenn sie spricht, wenn sie träumt, wenn sie Entscheidungen trifft?«

»Manchmal. Selten.« Réka senkte den Kopf.

»Was macht dich dann so sicher, dass nicht ich derjenige bin, der sie glücklich macht? Und jetzt geh. Raus aus meiner Burg.«

Réka schlich zur Tür und schlüpfte hinaus auf den Gang. Das Unglück wollte über sie hereinbrechen, eine solch tiefe, nachtschwarze Verzweiflung, dass ihr Herz stehenbleiben wollte, wenn es nicht sowieso schon tot und kalt gewesen wäre. Sie stolperte davon, die Augen blind vor Tränen, und kam sich vor wie eine müde, zerrupfte Krähe, die über einer Wolke aus Licht schwebte und nicht abstürzen konnte.