14

 

Es gab Augenblicke, da dachte Lolly, sie könnte keinen einzigen Schritt mehr gehen. Die Füße taten ihr weh. Alles tat ihr weh. Eine Weile hielten Gabriel und seine Geschichten sie aufrecht, doch jetzt war es das Geräusch einer Kettensäge, das für weitere Motivation sorgte. Es ließ sich unmöglich sagen, von wo genau das Geräusch kam. Vielleicht waren ja Hilfsmannschaften in der Stadt am Werk, und das Geräusch schallte nur herauf. Aber womöglich waren die Arbeiter auch hier, auf dieser Straße. Womöglich hinter dem nächsten Hügel … oder dem übernächsten …

»Wenn ich mir ein Haus in Portland kaufe, dann im absoluten Flachland. Mit Nachbarn in der Nähe. Und flächendeckendem Handyempfang.«

Gabriel warf einen Blick über die Schulter. »Du hast vor, ein Haus zu kaufen?«

»Ich spiele mit dem Gedanken«, erwiderte sie. »Ich habe eine schöne Wohnung, aber wenn man Miete zahlt, spült man sein Geld praktisch den Gully runter. Außerdem soll der Zeitpunkt zum Kaufen momentan günstig sein.«

Er ließ einen Laut hören – wie ein leichtes Knurren aus dem tiefsten Inneren. »Ich wusste nicht, dass du planst, dich in Portland zu verwurzeln.«

»Ich habe dort einen guten Job. Freunde. Ich … fühle mich wohl dort.«

Wieder gab er diesen seltsamen Laut von sich.

In diesem Augenblick hörte sich »wohlfühlen« für Lolly ganz eindeutig prima an. Sie mochte es, wenn sie sich wohlfühlte. Sie erfreute sich eines Lebens ohne Überraschungen.

Doch dann bekam sie ihre Überraschung.

»Bevor du ein Haus kaufst, solltest du mich in North Carolina besuchen kommen. Vielleicht gefällt es dir dort ja besser.«

Diese Bemerkung machte sie sprachlos, aber sie hatte keine Zeit, zu viel in diese Einladung hineinzuinterpretieren, denn Gabriel langte am Gipfel des Hügels an und hielt inne. Sie befand sich unmittelbar hinter ihm, so nah, dass sie ihn um ein Haar über den Haufen gerannt hätte. Sie stellte sich neben ihn. In der Ferne – aber zum Glück nicht zu weit weg – parkte ein riesiger Kranwagen. Ein Team von vier Männern zersägte Äste und Baumstämme und schaffte sie mithilfe des Krans von der Straße. Eine Spur der Straße hatten sie bereits freigelegt.

Lolly war so erleichtert, dass ihr fast die Knie einknickten. Sie lehnte sich an Gabriel, er nahm ihre Hand und drückte sie. »Fast geschafft, Lollipop.«

Sie wollte Gabriel noch ein paar Fragen zu seiner spontanen Einladung stellen, doch der Zeitpunkt für diese Frage war schnell verstrichen – und sie hatte ihn verpasst.

Das Wissen, dass Hilfe nah war, spornte sie beide an. Gabriel hielt ihre Hand ganz fest. Ob er das tat, damit sie nicht hinfiel, oder um die Verbindung zwischen ihnen nicht abreißen zu lassen, wusste sie nicht zu sagen. Und sie hatte Angst zu fragen. Ihre ganze Unsicherheit, ihre Schüchternheit, die sie glaubte, vor Jahren besiegt zu haben, brachen wieder hervor. Gabriel lud sie ja vielleicht zu einem Besuch ein, wenn bis auf sie keine Menschenseele auf Erden und die Überlebensfreude bei ihnen beiden noch frisch war. Aber jetzt … Was würde jetzt passieren, wenn die restliche Welt mit ins Spiel kam?

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie bei der Straßenwacht angelangt waren. Die Männer machten Gabriel und Lolly in der Ferne aus und winkten begeistert.

Als sie näher kamen, brüllte der Bursche ganz vorn – Justin Temple, der sich, seit Lolly von Wilson Creek weggezogen war, offensichtlich nicht sonderlich verändert hatte –, mit dröhnender Stimme: »Der Sheriff hat gesagt, dass wir über euch stolpern könnten, aber ich hatte nicht damit gerechnet, euch so bald zu sehen! Wir haben Kaffee und belegte Brote dabei«, fügte er noch hinzu und nahm dann sein Walkie-Talkie vom Gürtel, um mit jemandem am anderen Ende zu reden.

Diese Straße hätte nur geringe Priorität haben sollen, doch dank des Sheriffs war es anders gekommen. Lolly wusste, dass viele Hilfsmannschaften damit beschäftigt waren, die Straßen in der Stadt und in den angrenzenden Vierteln freizuräumen, und sie konnte nur froh sein, mit dem Sohn des Sheriffs zusammen zu sein – und dass Harlan McQueen so viel Achtung in Wilson Creek entgegengebracht wurde.

Der Kaffee war recht frisch, heiß und schmeckte besser als jeder Kaffee, den sie je getrunken hatte. Lolly war so erschöpft, dass sie nur ein paar Bissen von dem belegten Brot hinunterbrachte, das man ihr anbot, aber sie aß, was sie konnte. Dann setzten sie und Gabriel sich auf die Ladefläche des Pick-up und warteten auf den Sheriff, der, wie Justin erklärte, bereits unterwegs war. Jetzt, da sie sich nicht bewegte, empfand Lolly die Kälte umso schlimmer, aber gleichzeitig war es eine Wohltat, einfach nur so dazusitzen. Gabriel legte den Arm um sie, zog sie an sich.

Das Team setzte die Aufräumarbeiten fort, wobei Lolly vermutete, dass man die Leute sicher bald anderswohin beordern würde, in eine dichter besiedelte Gegend, da sie und Gabriel ja nun aufgetaucht waren. Dass sie in absehbarer Zeit zu ihrem Auto gelangte, damit war allerdings noch immer nicht zu rechnen.

»Ich denke, ich kann mit dem Bus nach Portland zurückfahren«, sagte sie. Sie hatte keine Ahnung, wann wieder welche den Betrieb aufnahmen, aber in ein paar Tagen bestimmt.

»Wozu die Eile?«, fragte Gabriel beiläufig.

»Ich kann mit dem Haus nichts anfangen, bis die Straßen nicht wieder befahrbar sind; ich komme ja nicht mal zu meinem Auto. Wenn es in der ganzen Stadt so aussieht, dann könnte es Tage dauern … Wochen sogar. Ich kann aber nicht wochenlang hierbleiben.«

»Warum nicht?«

Lolly machte den Mund auf, um ihm eine Antwort zu geben, sagte jedoch nichts. Sie war am Heiligen Abend bei einer Freundin eingeladen, aber am ersten Weihnachtsfeiertag wäre sie dann allein. Das Büro würde erst nach Neujahr wieder öffnen, somit hätte sie diese eine Woche, um ein paar Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Sie hatte vor, ihre Wandschränke zu putzen und die Speisekammer durchzusehen und sämtliche verfallenen Lebensmittel wegzuwerfen, die sich dort im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Vielleicht würde sie noch einige Filme im Kino anschauen, ihre DVDs und CDs neu ordnen, ein paar neue Rezepte ausprobieren. Anders ausgedrückt: nichts, was wichtig wäre.

Gabriel berührte ihre Wange und zwang sie mit sanfter Gewalt, ihm in die Augen zu schauen. Ohne ein Wort küsste er sie, eine sachte, simple Berührung und so vertraut, als hätten sie sich schon tausendmal geküsst. Anschließend sagte er: »Bleib bei uns. Ich möchte gern, dass du Sam kennenlernst. Mom würde sich sicher sehr über unser Zusammensein freuen, und ich mich auch.«

»Du warst schon mit mir zusammen.« Die Worte kamen ihr über die Lippen, bevor sie ihnen Einhalt gebieten konnte.

Gabriel lächelte. »Das ist wohl wahr, und ich habe über eine Wiederholung nachgedacht. Wie sieht das bei dir aus?«

Was in der Dusche passiert war, ließ sich nicht leugnen, aber gleichzeitig fühlte sie sich so unbedarft. Ja, es war ihr eiskalt gewesen, sie hatte Angst gehabt, war verzweifelt gewesen … Aber sie hätte nicht irgendeinen x-Beliebigen so gewollt, wie sie Gabriel gewollt hatte. Dafür war sie nicht geschaffen.

»Also, was soll das jetzt im Klartext heißen?«, fragte sie.

Ihr Timing war ein weiteres Mal total daneben. In diesem Moment war nämlich das Dröhnen eines Motors und das laute Gerassel von Reifen mit Schneeketten zu hören, die über die vereiste Straße den Berg hinabfuhren. Gabriel grinste, als er den Geländewagen des Sheriffs sah, seinen Dad hinter dem Steuer. Er sprang vom Pick-up und drehte sich um, um seine Hände unter Lollys Mantel zu schieben und sie an der Taille zu umfassen; dann hob er sie herunter. Lolly lächelte ebenfalls, allerdings gezwungen.

Weil sie nämlich wusste, dass sie von diesem Augenblick an mit Gabriel nicht mehr allein sein würde. Das Abenteuer war vorbei; sie war zu früh gerettet worden.

Gabriel konnte es kaum mehr abwarten, bis der SUV endlich vor dem Haus seiner Eltern anhielt, und riss schon die Tür auf, als der Wagen noch ausrollte. Dann trat er vorsichtig auf die salzgestreute Zufahrt, neue Energie lag in seinem Schritt trotz aller Erschöpfung. Er und Lolly mussten offizielle Erklärungen abgeben, aber nicht einmal das würde ihn abhalten, zuerst seinen Sam zu sehen. Sein Dad hatte ihm erzählt, welche Sorgen sich sein Junge gemacht hatte, als er nicht wie versprochen in der vergangenen Nacht nach Hause gekommen war. Der Eissturm hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, die Angst des Jungen zu mindern.

Als Gabriel an der Tür anlangte, traf er auf seine Mutter – die Sam im wahrsten Sinne des Wortes im Zaum hielt. Sie hatte ihn am Kragen gepackt, wie sie es auch schon mit Gabriel ein- oder zweimal gemacht hatte.

Valerie sagte: »Schau, ich habe dir doch gesagt, dass mit ihm alles in Ordnung ist«, dann ließ sie Sam los.

»Dad!« Sobald er frei war, stürzte sich Sam in die Arme seines Vaters. Gabriel hielt ihn fest umschlungen, und Sam ihn auch. »Ich dachte, du würdest nicht mehr wiederkommen«, sagte Sam, seinen Kopf an Gabriels Schulter vergraben. Er fing an zu schluchzen. »Ich dachte, du hättest einen Totalschaden oder wärst erfroren oder ein Baum wäre auf dein Auto gestürzt. Granny hat gesagt, dass dir nichts fehlt; sie hat gesagt, du kannst auf dich selbst aufpassen, aber ich habe geträumt, dass du nie mehr wiederkommst.«

Gabriel krampfte sich das Herz zusammen. Ein Kind sollte nicht unter solchen Ängsten leiden, aber Verlust war für Sam ja nichts Neues. Er tätschelte Sam den schmalen Rücken, wiegte seinen Sohn instinktiv hin und her – eine tröstliche Bewegung, die auf der ganzen Welt die gleiche war, und ging mit ihm ins Haus.

»Es war nicht so schlimm. Ich saß bei Lolly zu Hause fest, weil die Straßen früher vereist sind, als ich erwartet hatte.«

Sam hob den Kopf und sah Gabriel unvermittelt an. Seine tränennassen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Lolly. Das ist der blödeste Name, den ich je gehört habe.«

»Das ist die Abkürzung von Lorelei.«

Gabriel wandte sich halb um und sah, dass Lolly und sein Vater hinter ihm die Küche betreten hatten. Er war so in sein Wiedersehen mit Sam vertieft gewesen, dass er gar nicht gehört hatte, dass die beiden hereingekommen waren. Lolly, die diese Erklärung für ihren Namen angeboten hatte, lächelte sanft und ließ äußerlich keine Anzeichen sehen, welch ein Trauma sie hinter sich hatte. Wegen Sam, wie er wusste – und er war ihr dankbar dafür.

Sam hatte sich noch nicht beruhigt. Er war außer sich gewesen, und offensichtlich war Lolly die Schuldige. »Wenn ich Lorelei heißen würde, dann würde ich mich auch anders ansprechen lassen. Der Name ist ja noch blöder als Lolly.«

»Sam«, sagte Gabriel mit sanftem Tadel. »Das ist unhöflich. Entschuldige dich.«

Er zog den Kopf ein, die Zähne zusammengebissen. »Tut mir leid«, murmelte er dann, ohne einen Funken Bedauern in den Worten. Er wollte nicht offen ungehorsam sein, aber bis hierher und nicht weiter.

Lolly war nicht beleidigt – zumindest machte sie nicht den Eindruck. Sie ging einen Schritt auf ihn zu, kam näher. »Ich kann mir schon vorstellen, dass du ganz schön sauer auf mich bist, weil ich deinen Dad bei diesem Unwetter aus dem Haus geholt habe.«

Ein mürrischer Sam nickte. »Du hättest vor dem Unwetter wegfahren sollen.«

»Ist mir schon klar«, sagte Lolly. »Aber … aber es ist was passiert, und dann konnte ich nicht mehr weg.« Sie setzte an, Sam eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. »Und weißt du, dein Daddy ist in einer Welt, die jeden wahren Helden gebrauchen kann, wirklich der reinste Superheld.«

»Ja«, stimmte ihr Sam bei. »Logo.«

Gabriel bemerkte, wie Lolly sich ein Lächeln verbiss. Sie verhielt sich genau richtig, legte sich nicht zu sehr ins Zeug, versuchte nicht, so zu tun, als wäre sie Sams beste Freundin, denn schließlich hatten sie sich ja eben erst kennengelernt.

»Du siehst deinem Dad sehr ähnlich. Bist du auch ein Held?«

Daraufhin richtete Sam sich kerzengerade auf. Da Gabriel ihn auf dem Arm hatte, konnte er Lolly einen Moment in die Augen schauen, bevor er nickte.

»Freut mich, das zu hören«, sagte Lolly mit einem freundlichen Lächeln. »Diese Welt kann nämlich Helden wie dich und deinen Dad gebrauchen.«

Sam schaute sich Lollys zerschundenes Gesicht genauer an. »Was ist dir da passiert?«

Er deutete auf ihre Wange, und Gabriel hielt den Atem an. Er konnte Sam nicht vor allen Widrigkeiten der Welt bewahren, aber der Junge musste nicht wissen, dass die Gewalt um ein Haar auf seiner Türschwelle angelangt wäre.

Lolly legte ihm sachte die Hand auf die Wange. »Ich bin hingefallen«, erwiderte sie einfach. »Und zwar noch bevor dein Dad gekommen ist, und ich muss dir sagen, dass er mich davor bewahrt hat, noch zig Mal zu fallen.«

»Eis ist glatt«, sagte Sam fast mit der Stimme eines Erwachsenen. »Granny wollte mir nicht erlauben, nach draußen zu gehen, auch nicht, um Dad willkommen zu heißen.«

»Deine Granny ist eine sehr kluge Frau«, sagte Lolly aufrichtig.

Gabriel konnte sehen, wie es im Kopf seines Sohnes arbeitete, als er die Situation und die Frau, die er da vor sich hatte, abschätzte. »Tut mir leid, dass ich mich über deinen Namen lustig gemacht habe«, sagte er diesmal aufrichtig.

»Da bist du nicht der Erste«, erwiderte sie vertraulich, als würden nicht drei weitere Erwachsene mithören. »Dein Vater hat mich immer …« Sie warf einen Blick in die Runde, neigte sich dann vor und flüsterte Sam ins Ohr: »… Lollipop genannt.«

Sam fing an zu kichern, und Gabriel stellte den Jungen auf den Boden. Sam blieb in der Nähe, lehnte sich an seinen Vater, hielt sich manchmal an seiner Kleidung fest oder an seiner Hand, um sich zu vergewissern, dass er auch nicht wieder fortging.

Valerie McQueen – allzeit bereit – hatte eine Jause für sie vorbereitet: Suppe, belegte Brote, Kaffee, Kekse. Gabriel und Lolly saßen am Küchentisch, Sam hockte auf Gabriels Knie, und sie ließen es sich schmecken, bis sie keinen Bissen mehr hinunterkriegen konnten. Es dauerte nicht lange, bis Sam ganz entspannt mit Lolly umging und seine Angst, dass sein Dad nie mehr nach Hause kommen würde, ganz nachließ. »Entspannt« bedeutete allerdings nicht unbedingt freundlich, aber selbst als Kleinkind hatte Sam immer eine Weile gebraucht, bis er Erwachsenen gegenüber nicht mehr fremdelte.

Für eine Frau, die keine Kinder hatte, machte Lolly ihre Sache jedenfalls gut mit Sam. Bevor er den Jungen nach Maine gebracht hatte, hatten Freunde von ihm und Mariane Sam mit ihrer Zuneigung schier erstickt. Diese Zuneigung war verdient, tat dem Jungen nach einer Weile aber nicht mehr gut. Lolly redete mit Sam fast wie mit einem Erwachsenen, und er antwortete.

Als sie anfing, Sam Geschichten über seinen Dad als Kind zu erzählen, musste Gabriel allerdings einschreiten. Er wollte nicht, dass sein Sohn – oder seine Eltern – hörten, wie er Lolly früher schikaniert hatte. Er sagte »Pause« – und Lolly lachte; es war ein echtes, herzliches Lachen, das ihn bis ins Mark erwärmte. Sam nannte sie einmal Lollipop, und beide bekamen einen Lachkrampf. Gabriel und seine Eltern blickten ebenso amüsiert wie erstaunt drein.

Und Gabriel wurde klar, dass sich irgendwann in den letzten vierundzwanzig Stunden seine Welt verändert hatte.

Lolly legte ihren Kopf in den Nacken und schloss die Augen; sie ließ das heiße Wasser auf ihren müden, überbeanspruchten und halb gefrorenen Muskeln sein Werk tun. Normalerweise sprang sie unter die Dusche – und sauber sofort wieder heraus. Es war lange her, seit sie sich so richtig genüsslich in einem Wannenbad geaalt hatte.

Das Badezimmer der McQueens war größer als das im alten Haus, denn es war später gebaut, zu einer Zeit nämlich, als viel Platz kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit war. Die Badewanne war breit und tief; die Abstellfläche auf der anderen Seite war lang und voll von Seifen, Handtüchern, Haarwaschmitteln und zwei flackernden Kerzen. Hier im Haus gab es noch Strom, was in einem Großteil von Wilson Creek nicht der Fall war. Lolly wollte allerdings kein Risiko eingehen, deshalb die Kerzen. Falls es zu einem Kurzschluss kam, würde sie nicht im Dunkeln sitzen – nicht an diesem Abend.

Nachdem Sam zu Bett gegangen war, hatten Gabriel und sie bei Sheriff McQueen ihre Aussage gemacht. Gabriels Vater war froh, weil sie beide wohlbehalten waren, aber gleichzeitig empört, weil Meth-Süchtige bis in sein County eingedrungen waren. Sobald es machbar war, sollten sich Straßen- und Elektrizitätstrupps zum Haus auf dem Berg oben begeben. Aber dennoch würde es Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, bis sie fanden, was von Darwin und Niki noch übrig war. Lolly würde noch eine Weile ohne ihr Auto auskommen müssen. Doch das war ihre kleinste Sorge …

Ein verhaltenes Klopfen riss sie aus ihrem Nickerchen, dann rüttelte jemand am Türknauf, den sie hinter sich verriegelt hatte.

»Komme gleich!«, rief sie und sammelte ihre Kräfte, um die Wanne mit dem immer noch warmen Wasser zu verlassen.

»Nicht bewegen!«, rief eine vertraute tiefe Stimme.

Es wurde wieder am Türknauf gerüttelt, das Schloss gab nach, und die Tür flog auf. Lolly packte einen nassen Waschlappen, um ihn sich quer über den Busen zu legen – ein armseliger Versuch in letzter Minute, sich in Anstand zu üben.

Gabriel schlüpfte ins Bad und schloss – verschloss! – die Tür hinter sich.

»Du hast soeben unter Beweis gestellt, dass das Türschloss zu gar nichts taugt«, meinte sie. Vielleicht sollte sie ja entsetzter sein, schüchterner. Aber sie war es nicht.

Er hielt ein geknicktes Stück Papier in die Höhe. »Ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Diese Türschlösser sind jemandem, der hinein möchte, bestenfalls eine Warnung, dass gerade besetzt ist.«

»Aber du hast diesen Hinweis nicht beachtet.«

Er schaute mit einem Lächeln auf sie hinunter, und sie wünschte, sie hätte noch ein paar Waschlappen mehr zur Hand. »Willst du, dass ich gehe?«

Sie wusste, er würde gehen, wenn sie Ja sagte. »Nein.«

Gabriel schaltete die grelle Deckenbeleuchtung ab, sodass das Bad fast in Dunkel getaucht wurde. Die Kerzen sorgten für einen flackernden Lichtschein. Er knöpfte sich das Hemd auf und streifte es ab, dann knöpfte er seine Jeans auf, zog den Reißverschluss herunter und entledigte sich seiner Hose. Es folgten die Socken und die Unterwäsche. Heiliger Himmel, war er ein Prachtkerl … und verführerisch.

»Deine Eltern …«

»Schlafen«, flüsterte er, als er in die Wanne stieg. »Völlig k.o., und Sam auch. Ich denke, sie haben gestern Nacht alle nicht viel Schlaf bekommen.«

»Du aber auch nicht«, meinte Lolly und rutschte nach hinten, damit Gabriel Platz hatte, sich ihr gegenüber hinzusetzen. Er ließ sich langsam ins Wasser hinab – und der Pegel in der Wanne stieg fast bis zum Rand. Die geringste Bewegung, und der Boden würde überschwemmt. »Warum schläfst du nicht?«

»Aus dem gleichen Grund, weshalb du hier bist und dich nicht in dein warmes Bett kuschelst, nehme ich an.«

In ihrem Kopf hörte es nicht auf, sich zu drehen. Sie wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Ihre Welt stand Kopf. Kein Wunder, dass sie nicht schlafen konnte!

Gabriel schaute Lolly in die Augen. Sie waren beide nackt, nass, vis-à-vis. Sie wünschte sich nichts mehr, als die Arme zu öffnen, um ihn festzuhalten, aber machte keine Bewegung.

»Warum bist du hier?« Eigentlich hätte das klar sein sollen, aber sie erkundigte sich nach mehr als nur nach dem Sex.

Er berührte ihre verletzte Wange mit seinen starken, jedoch erstaunlich sanften Händen. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie, wobei sie sich überlegte, um was für eine Art Gefallen es sich handeln könnte. Da sie beide nackt waren, kam ihr eine Idee …

»Geh noch nicht nach Portland zurück.«

Obwohl er das schon am Nachmittag während ihres Abstiegs vom Berg erwähnt hatte, hatte sie damit eigentlich nicht gerechnet. Die Realität hatte sich mit einem Paukenschlag eingestellt, und auch wenn ihr dieses Haus gefiel, dieses Heim, diese Familie, so gehörte sie trotzdem nicht hierher.

»Warum nicht?«

»Bleib hier, verbring Weihnachten mit uns.« Gabriel hielt inne und atmete tief durch. »Lass uns doch einfach schauen, wie es weitergeht.«

Innerlich machte sie einen Satz, tanzte.

»Schauen, wie es mit uns weitergeht«, stellte er klar, obwohl diese Klarstellung gar nicht notwendig war.

»Das lässt sich einrichten«, flüsterte sie.

Er beugte sich zu ihr vor, nahm den Waschlappen von ihren Brüsten und warf ihn beiseite; dann küsste er sie, dass das Wasser nur so über den Wannenrand schwappte. Sie bemerkte es kaum.

»Und hör auf, davon zu reden, dass du in Portland ein Haus kaufen willst. Zumindest bis du ein- oder zweimal in North Carolina zu Besuch warst. Dort ist es viel wärmer.«

»Und du bist dort.«

Er brummte zustimmend, während er sich weiter nach vorne schob.

Lolly fühlte, wie all ihre Kümmernisse, all ihre Sorgen sich auflösten. »Das scheint mir nicht zu viel verlangt, in Anbetracht der Umstände.«

Er legte seinen Mund auf den ihren, und der Kuss gewann rasch an Rhythmus. Lolly schwelgte in Gabriels Hitze und Härte, sie hieß seinen Kuss willkommen, die Verbindung, die Wärme, die sie miteinander erzeugten – eine Wärme, die ihr Innerstes umkrempelte.

Gabriel gab ihren Mund frei, blieb jedoch nah bei ihr. Seine Nase berührte die ihre, er war nur einen Atemzug entfernt. »Lollipop, willst du, dass ich dich …?«

»Ja«, sagte sie und schlang ihre Arme um Gabriels Hals, sodass noch mehr Wasser auf den Boden schwappte. »Aber sicher will ich.«