12

 

Gabriel holte Niki auf der rückwärtigen Veranda ein. Die Kälte versengte ihm die nackte Haut. Bis auf seine nassen Jeans hatte er nichts an, nicht einmal ein Hemd, das er ausziehen und benutzen konnte, um ihr damit das Messer zu entwinden. Sie wirbelte herum, holte mit dem Messer aus, und er machte einen Satz nach hinten. Sie war nur ein Schatten in der Dunkelheit. Allein sein Instinkt und die Erfahrung, die er mit fürs Gefecht ausgebildeten Männern hatte, halfen ihm, der Klinge zu entgehen. Sie stand unter Drogen, war unberechenbar und tödlich wie der Teufel.

Er wünschte, er hätte Zeit, um etwas zu packen, irgendetwas, das sich als Waffe verwenden ließ, um dieses Metzgermesser abzuwehren. Als Lolly seinen Namen gerufen hatte, da hatte er sofort reagiert, ohne innezuhalten und sich umzusehen. Er hatte ohne die Spur eines Zweifels gewusst, dass dieses mörderische Miststück nicht nur den Sturz den Abhang hinunter überlebt hatte, sondern es auch noch aus dem demolierten Auto zurück ins Haus geschafft hatte. Sein einziger Gedanke war gewesen, vor Niki bei Lolly zu sein.

Niki schnellte vor, ging mit dem Messer auf ihn los, schnellte zurück. Sie verfehlte ihn, aber nur um Haaresbreite. Sie attackierte ihn erneut, und er sah, wie die Klinge des Messers auf seinen Bauch abzielte. Er machte einen Satz zur Seite, fasste dann nach ihrem Arm – und verfehlte ihn. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich an der Tür etwas bewegte, und ihm blieb fast das Herz stehen. Lolly!

»Nicht!«, brüllte er.

Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, dass sie heraus in die Dunkelheit kam, wo er sie nicht von Niki unterscheiden konnte – Niki hingegen ganz genau wusste, wo Lolly war. Niki wirbelte herum, und er hörte ihr Lachen, als sie einen Satz machte. Er wusste, dass er sie nicht rechtzeitig erreichen konnte, um sie am Arm zu packen; er wusste, dass er nicht schnell genug wäre, um Lolly wegzureißen, aber er wollte es zumindest versuchen, obwohl sein Herz ihm zuflüsterte, dass es zu spät war, zu spät …

Lolly schwang den Hammer. Sie konnte kaum den dunklen Schatten erkennen, der da auf sie zukam, aber Gabriel brüllte irgendwo drüben links, und da wusste sie, dass nicht er es war. Es war so finster, dass sie die Entfernung absolut nicht abschätzen konnte, aber sie holte so weit aus, wie sie nur konnte, und war fast erstaunt, als der Hammer mit einem ekelhaften Geräusch auftraf, ein dumpfer Schlag.

Dann war Gabriel da, packte sie und katapultierte sie beide mit einem Bodyslam rasch zurück in den Windfang. Sie wusste, dass er es war, sie kannte seinen Körpergeruch, fühlte seine nackten Arme und seine nackte Brust. Sie stürzten auf den Boden, und durch den Aufprall fiel ihr der Hammer aus der Hand. Er rollte sich sofort weg, sprang auf die Beine und machte sich für Nikis nächsten Angriff bereit, aber … nichts passierte. Keine mit Drogen zugedröhnte Irre kam durch die Tür. Auf der rückwärtigen Veranda herrschte Stille.

»Hol mir die Taschenlampe«, sagte Gabriel schwer atmend, und Lolly rappelte sich auf die Beine. Die Decke … Irgendwie hatte sie ihre Decke verloren, und sie war splitternackt, aber darüber wollte sie sich später Gedanken machen. Eisige Luft wehte durch die offene Tür und stach ihr ins Fleisch, als sie die Treppe hinaufhetzte, wo Gabriel bei der Ankunft seinen Mantel fallen gelassen hatte. Das Kaminfeuer im Wohnzimmer brannte und sorgte für genügend Licht, sodass sie den Mantel problemlos fand; sie kramte in der Manteltasche herum, zog die große Taschenlampe heraus, schaltete sie ein und stürzte damit wieder auf die Veranda hinaus.

Gabriel nahm ihr die Taschenlampe ab und leuchtete damit auf den Haufen, der da vor ihnen lag. Niki war zusammengebrochen; sie lag auf dem Bauch, atmete flach, das Gesicht von ihnen abgewandt. Das Messer lag auf dem Boden neben ihrer Hand. Gabriel machte einen Satz, verpasste dem Messer einen Tritt, sodass Niki nicht mehr herankam, und bückte sich erst dann, um es aufzuheben. Der Lichtstrahl der Taschenlampe zeigte ganz klar, welchen Schaden der Hammer ihrem Kopf zugefügt hatte.

Doch sogar noch, als die beiden auf sie herabstarrten, versuchte Niki, auf die Knie zu kommen. Was war denn das für eine – der Terminator?

»Warum stirbt sie denn nicht?«, flüsterte Lolly, deren Gedanken offensichtlich in die gleiche Richtung gingen. »Was müssen wir denn noch tun? Sie in einen Bottich mit flüssigem Eisen stecken?«

Und dann starb Niki schließlich doch: Ihre flache Atmung hörte einfach auf.

Gabriel nahm Lolly am Arm, führte sie ins Haus, bückte sich nach der Decke und legte sie ihr um. Sie zitterte wie Espenlaub, und obwohl es viel zu tun gab, war es ihm in diesem Moment wichtiger, Lolly festzuhalten – wichtiger als alles andere sonst. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Alles wunderbar«, flüsterte sie.

»Nein, im Ernst, schau mich mal an.«

Sie blickte zu ihm auf, und ihrem Aussehen zufolge war wirklich alles in Ordnung mit ihr – soweit jemand, der an Gewalt nicht gewohnt war, in so einer Situation eben »in Ordnung« sein konnte. Sie war nicht glücklich, brach unter der Last der vermeintlichen Schuld aber auch nicht zusammen. Sie hatte getan, was erforderlich gewesen war, und akzeptierte dies.

Er küsste sie, dann ließ er sie mitten in der Küche stehen, die Decke an den zitternden Körper gedrückt, und trat wieder hinaus auf die Veranda. Er kniete sich neben Niki, tastete ihren Hals ab, um ihr den Puls zu fühlen. Nichts. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Der Eisregen wehte auf die Veranda, fiel auf Nikis Leiche und seine bloße Haut. Er fühlte sich fast so durchgefroren wie eine Stunde zuvor. Schnell ging er wieder ins Haus hinein.

Als er die Tür des Hintereingangs schloss, nahm er sich noch einen Moment Zeit, um sie abzusperren. Konnte ja nicht schaden.

Die Sekunden schleppten sich dahin. Lolly lauschte aufmerksam. Eigentlich sollte sie sich bewegen, etwas tun, Gabriel folgen oder davonrennen. Doch sie musste feststellen, dass sie nur dastand, die Decke umklammerte und auf ihren Herzschlag horchte, während sie wartete. War es vorbei? Würde Niki wieder aufstehen und dem Tod ein Schnippchen schlagen? Lolly wollte Frieden; sie wollte, dass diese Nacht ein Ende nahm.

Sie hörte, wie die Hintertür ins Schloss fiel, der dumpfe Schlag entsprach dem ihres Herzens. Einen Augenblick später kam Gabriel in die Küche, zum Glück allein und unversehrt.

»Ist es wirklich vorbei?« Ihr zitterte die Stimme.

»Es ist vorbei. Sie ist tot«, erwiderte Gabriel, wobei er auf sie zuging, die Decke fester um ihren unterkühlten Körper zog und sie in die Arme schloss.

»Bestimmt?«

»Ganz bestimmt.«

Lolly durchpulste schiere Erleichterung. Sie legte ihren Kopf an Gabriels Schulter, schwelgte in seiner Wärme und Kraft. »Ich habe sie umgebracht«, flüsterte sie.

Gabriel machte einen Schritt nach hinten, zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. Wie konnte er derart ruhig sein? So ausgeglichen? Die Flamme im Ofen flackerte und warf seltsame Schatten auf sein Gesicht.

»Gute Arbeit«, sagte er knapp, eine überaus subtile Würdigung ihrer Schlagkraft, die nichts beschönigte.

Lolly zog die Schultern hoch. »Es tut mir nicht leid«, erklärte sie. »Sie war mit einem Messer hinter dir her. Sie hätte uns beide umbringen können.«

Lolly ging ein paar Schritte zum Ofen hinüber und drehte am Regler, sodass die Flamme erlosch und der Raum in Dunkelheit getaucht wurde. »Ich will keine Suppe, ich will absolut gar nichts, das aus dieser verdammten Küche kommt«, murmelte sie.

»Wir müssen etwas essen«, wandte er ein.

»Ich habe noch Müsliriegel vom Frühstück«, sagte sie, drapierte die Decke um ihren ausgekühlten Körper und ging davon. Sie wollte nie mehr einen Fuß in diese Küche setzen müssen.

Gabriel folgte ihr, und als sie auf halbem Weg ins Wohnzimmer über ihre Decke stolperte, war er da, um sie aufzufangen. Nach allem, was passiert war, schien das Stolpern über das lose Ende einer Decke eigentlich kein traumatisches Erlebnis zu sein, doch es stiegen ihr die Tränen in die Augen. Gabriel sah sie und nahm Lolly in die Arme. Sie ließ es ohne ein Wort des Protests zu, ohne zu sagen, dass sie sehr gut allein auf sich aufpassen könne. Dazu fühlte sie sich in diesem Moment wahrhaftig nicht in der Lage. Er flüsterte beruhigende Worte. Sie achtete nicht darauf, was genau er sagte, sondern spürte nur seine Absicht, den Trost bis auf den Grund ihrer Seele.

Das Wohnzimmer war wie eine andere Welt: warm, vom Kaminfeuer erhellt, friedlich. Was vom Unwetter noch übrig war, tobte jenseits des Fensters, jenseits der massiven Mauern, doch zum ersten Mal an diesem Abend war der Eissturm von ihnen losgelöst und unwichtig. Sie waren am Leben. Sie hatten eine Gefahr überstanden, die schlimmer war als das Unwetter.

Gabriel brachte Lolly zum Sofa und setzte sich neben sie, drückte sie sanft an sich. Lolly wollte aufhören zu zittern, brachte es aber nicht fertig. Es war nicht die Kälte, die sie erbeben ließ, diesmal nicht.

»Ich glaube, ich beauftrage jemanden, herzukommen und die restlichen Sachen zusammenzupacken«, sagte sie, den Blick ins Feuer gerichtet.

»Vermutlich keine schlechte Idee.«

»Wenn ich glauben würde, dass wir es heute Nacht noch sicher bis in die Stadt schaffen, dann wäre ich innerhalb von fünf Minuten durch die Tür. Ich kann nach allem, was passiert ist, nicht mehr zurückkommen. Ich möchte dieses Haus nie mehr wiedersehen.«

»Wie schade.« Seine Stimme war ein raues Flüstern, als würde er laut denken.

Lolly hob den Kopf und schaute ihn an. »Wie bitte?« Bestimmt hatte sie sich verhört. »Im Ernst?« Wie konnte er meinen, dass sie dieses Haus je wieder als ihr Heim betrachten könnte? Weshalb sollte jemand mit einem Funken Verstand nach einer solchen Nacht je wieder hierher zurückkehren wollen?

»Wilson Creek ist ohne ein Mitglied der Familie Helton nicht, was es mal war – selbst wenn es nur zeitweise ist.«

»Wilson Creek wird’s überleben«, widersprach sie ihm.

Gabriel seufzte. »Wohl schon, aber wie soll ich dich, wenn ich hier zu Besuch bin, denn einladen, wenn du in Portland lebst und nicht hier?«

Sie wusste nicht, was sie mehr schockierte: Dass er sie einladen wollte oder dass er über ihre derzeitigen Lebensumstände Bescheid wusste. »Woher weißt du denn, dass ich in Portland lebe?«

Er zuckte mit beiden Schultern. »Hat wohl jemand erwähnt. Mom vermutlich. Und da fällt mir ein: Du bist herzlich eingeladen, bei uns zu Hause zu wohnen, bis die Straßen wieder passierbar sind.«

»Das ist sehr nett«, sagte sie, denn es bestand kein Zweifel, dass die Einladung Valerie McQueens Idee gewesen war.

Sie drehte sich in Richtung Kaminfeuer und stellte fest, dass Gabriels Gesicht irgendwie verstört wirkte; dann fiel ihr Blick auf die Drogen und Spritzen, die auf dem Tisch lagen. Sie sprang von der Couch auf, um alles ins Feuer zu werfen, doch Gabriel hielt ihre Hand fest, noch bevor sie etwas anfassen konnte.

»Beweismittel«, sagte er einfach. »Lass alles genau so, wie es jetzt ist.«

Sie drehte sich zu ihm um, auf irrationale Weise verärgert. »Ich soll diesen Mist die ganze Nacht auf dem Tisch meiner Mutter liegen lassen?«

»Ja.«

»Das ist ja lächerlich. Das ist … ein Skandal! Wenn Niki in der Küche gestorben wäre, hättest du sie die ganze Nacht dort gelassen?«

»Ja. Ich bin Polizist, mein Schatz – beim Militär, aber dennoch Polizist. Am Tatort wird nichts verändert, solange die Ermittlungen nicht beendet sind.«

Es tat ihr gut, neben ihrer Angst noch ein anderes Gefühl zu empfinden, deshalb ließ sie ihrem Ärger vollen Lauf. »Dann sind Niki und Darwin also tot, haben aber trotzdem noch das Sagen.«

Gabriel schniefte entnervt. »Nein, ich habe hier das Sagen, und mein Dad zieht mir das Fell ab und dir auch, wenn ich an den Beweismitteln herumfummle.«

»Dann muss ich also die ganze Nacht hier sitzen mit diesem Zeug da im Blickfeld.« Sie deutete auf den Tisch und dankte heimlich ihrem Schutzengel, dass Niki den Anstand gehabt hatte, draußen zu sterben. Wenn die Leiche in der Küche läge, unter ihrem Dach, dann würde sie noch in dieser Nacht den Berg hinuntersteigen, Eis hin oder her.

Gabriel stand auf. Sie rechnete damit, dass er sie wieder in die Arme nehmen würde, doch das tat er nicht. Er legte ihr seine beiden Hände fest auf die Schultern und sah ihr in die Augen. »Ich gehe jetzt nach oben und hole ein Betttuch, um den Tisch damit abzudecken – und ein paar Decken und Kissen für uns bringe ich auch noch mit. Du nimmst dir ein paar trockene Klamotten und ziehst dich an. Dann mache ich Suppe heiß …«

»Ich gehe nicht noch mal in diese Küche …«, erklärte Lolly bestimmt.

»… und bringe sie hierher«, fuhr er ohne Pause fort, »damit wir etwas Warmes in den Bauch kriegen. Die Müsliriegel heben wir uns für den Abstieg auf.«

»Wie kannst du nur so ruhig sein?«, fragte sie verärgert und dankbar zugleich, aber auch wütend über sich selbst, weil etwas in ihr noch immer Angst hatte.

»Welche Wahl bleibt mir denn?«, antwortete er.

Lolly spürte, wie eine Woge der Erleichterung sie durchpulste. Natürlich hatte er recht. Wenn sie beide in Panik gerieten, dann würden sie jetzt bloß gleich die nächste Katastrophe heraufbeschwören, und sie hatte weiß Gott in den vergangenen Stunden mehr als genug Katastrophen gehabt.

»Ich ziehe mich an«, sagte sie gefasster. »Tu, was notwendig ist.«

Gabriel beugte sich zu ihr herunter und küsste sie. Es war kein Kuss im Stil von »Komm, nun machen wir mal voran«, es war eine beruhigende, warmherzige, überaus angenehme Kontaktaufnahme, die sie daran erinnern sollte, dass sie nicht alleine war – und die sie gleichzeitig effizient von den Schrecken dieser Nacht ablenkte, ein paar kostbare Sekunden lang.

Sie fühlte den Kuss in ihrem tiefsten Inneren. Ihre Panik, die in ihr geflattert war wie ein Wesen, das zu entkommen versuchte, löste sich auf.

Sie schaffte das. Sie beide schafften das.

Der Kuss dauerte nicht lange, jedoch lange genug, um diese Wirkung zu erzielen. Sie legte Gabriel ihre Hand an die Wange, spürte die rauen Bartstoppeln. »Nun gut«, sagte sie sanft. »Es ist jetzt alles in Ordnung mit mir.«

Sie wandte sich zum Kamin mit seinem einladenden Feuer, lauschte, wie Gabriel die Treppen hinaufeilte.

Realistisch gesehen war das Abenteuer längst noch nicht vorbei. Der Fußmarsch in die Stadt am nächsten Tag war gefährlich und schwierig. Aber noch war nicht morgen, und diesen Abend war sie in Sicherheit, im Warmen und in Obhut.

Lolly fühlte sich ein bisschen wie Scarlett O’Hara – vom Winde verweht. Um das Morgen würde sie sich kümmern, wenn die Zeit gekommen war.