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Der Ort veränderte sich nie.

Eigentlich gefiel Gabriel McQueen das an seiner Heimatstadt Wilson Creek in Maine. Ihm gefiel diese Kontinuität, die Sicherheit, die Solidarität der Bewohner. Ihm gefiel, dass sein siebenjähriger Sohn Sam die Stadt fast genauso sah, wie er selbst sie gesehen hatte, als er herangewachsen war. Ihm gefiel, dass Sam so ähnliche Erinnerungen hütete wie er.

Ihm gefiel, wie die Kleinstadt im Laufe der Jahreszeiten aussah: Das Knospen des Frühlings, das Grün des Sommers, die Farbenpracht im Herbst, wenn die Doppeltürme der Kirche in den tiefblauen Himmel stießen. Seine liebste Jahreszeit war aber eigentlich jetzt. Die letzten Wochen vor Weihnachten waren etwas ganz Besonderes, denn alle schienen irgendwie von Vorfreude gepackt, und die kleinen Kinder waren außer sich vor Aufregung. Gabriel konnte es kaum abwarten mitzuerleben, wie sich Sam über die gleichen Dinge freute wie er in diesem Alter.

Er steuerte seinen schwarzen Ford F-250, einen Pick-up mit Vierradantrieb, über den Stadtplatz und lächelte, als er sah, dass sämtliche Schaufenster mit Lametta und leuchtend bunten Lichtern dekoriert waren. Die große Tanne vor dem Gerichtsgebäude war mit so vielen Lichtern geschmückt, dass selbst der schauerliche Sprühregen und der scheußlich graue Himmel diese Pracht nicht zu trüben vermochten.

Vor dem Gerichtsgebäude fand sich ein freier Parkplatz, und Gabriel quetschte seinen großen Ford hinein. Nachdem er sich seine wetterfeste Kappe auf den Kopf geklemmt hatte, stieg er aus und fütterte die altmodische Parkuhr mit ausreichend vielen Münzen für zwei Stunden. So lange würde er wohl nicht brauchen, aber er wollte auf der sicheren Seite sein, denn es wäre für den Sohn des Sheriffs absolut peinlich, an seinem ersten Tag zu Hause vor dem Gerichtsgebäude gleich einen Strafzettel zu kassieren – nicht so sehr für ihn als vielmehr für seinen Vater. Seinem Vater eine derartige Peinlichkeit zu ersparen war ihm ein paar Vierteldollarmünzen wert.

Der Sprühregen blies ihm ins Gesicht; der letzte Wetterbericht, den er abgefragt hatte, sagte für später am Abend, wenn die Temperaturen zurückgingen, Schnee vorher. Gabriel zog den Kopf wegen des Windes ein und sprintete die Stufen zum Gerichtsgebäude hinauf, öffnete die Glastür und nahm dann die Treppe rechts ins Basement hinunter. Das Büro des Sheriffs befand sich noch immer im Tiefgeschoss des Gerichtsgebäudes, während das Gefängnis im obersten Stockwerk untergebracht war – eine Verteilung, die verdammt unbequem war; aber so war es schon immer gewesen, und er nahm an, dass es auch nach dem Tod seines Vaters noch so sein würde.

Gabriel klopfte an die erste Tür links. Sie gab ein Areal mit vier Schreibtischen – an dreien davon saßen arbeitseifrige Frauen – frei. Weiter hinten befand sich eine Tür, auf der HARLAN MCQUEEN, SHERIFF geschrieben stand. Die Schrift war fast dreißig Jahre zuvor angefertigt worden, und an einigen Stellen waren die Buchstaben nicht mehr lesbar, aber Gabriel wusste, dass sein Vater sich mit dem Gedanken trug, in Pension zu gehen. Das tat er schon seit fünf oder zehn Jahren, und da er nun mal ein knauseriger Mainer war, machte es für ihn keinen Sinn, den Schriftzug an der Tür noch in Ordnung bringen zu lassen.

Die drei Frauen schauten hoch als Gabriel eintrat, und ihre Gesichter verzogen sich auf der Stelle zu einem Lächeln. Sie sprangen mit mädchenhaftem Gekreische auf, bedachte man, dass die jüngste gut fünfzehn Jahre älter war als er, und stürzten auf ihn zu; man hätte meinen können, er habe diese Frauen seit Jahren nicht mehr gesehen und nicht nur seit zwei Monaten. Gabriel schaffte es nicht, sie alle auf einmal zu umarmen; er war ein großer Kerl, aber drei Frauen waren für jeden Mann viel, vor allem wenn eine von ihnen üppig gebaut war.

Judith Fournier und Evelyn Thomas trugen die braunen Uniformen, wie sie im Büro des Sheriffs Vorschrift waren. Die beiden waren Geschwister und ähnelten sich so sehr, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, wenn sie ihre Haare hinten fest zusammengebunden hatten, wie es von ihnen erwartet wurde. Patsy Hutt, die Königin des Vorzimmers, war weich und rund und hatte schneeweißes Haar. An diesem Tag trug sie Stiefel mit dicken Sohlen, Jeans und einen Wollpulli mit aufgestickten Schneeflocken. Sie sah wie die gütigste Frau auf Erden aus, aber Gabriel erinnerte sich noch sehr gut, dass sie ihm einmal den Hintern versohlt hatte, als er etwa sieben war und sich total wichtig genommen hatte, weil sein Dad der Sheriff war.

Gemeinsam kontrollierten die drei Frauen das Vorzimmer und den Zutritt zum Sheriff – sie wussten einfach alles über jeden in diesem County.

»Es wurde aber auch Zeit, dass Sie endlich hier eintreffen«, schalt ihn Patsy. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weil Sie ja mit dem Auto unterwegs waren und mitten in dieses Unwetter hätten hineingeraten sein können.«

»Unwetter?« Gabriel ging in Alarmbereitschaft, sein Adrenalinpegel stieg. »Ich habe mir die Wettervorhersage angesehen, bevor ich losgefahren bin; der Regen sollte heute Abend in Schnee übergehen, aber das war’s auch schon.«

Das war der Stand am Morgen in einem Motel in Pennsylvania gewesen. Bevor er North Carolina verließ, hatte er bei seinem Ford noch die Winterreifen aufgezogen, denn Winter in Maine bedeutete Schnee. Das wusste jedes Kind. Nachdem er losgefahren war, hatte er allerdings Radio XM gehört, und deshalb war er über die aktuelle Wettervorhersage nicht informiert.

Patsys Sorge war jedoch nicht von der Hand zu weisen. Die Leute in Maine waren Winterwetter gewohnt und wussten, wie sie damit umzugehen hatten. Weckte ein bevorstehendes Unwetter ihre Aufmerksamkeit, musste es also schon schwerwiegend sein – und das wiederum sagte ihm viel über das Gefahrenpotenzial.

Bevor Patsy noch antworten konnte, ging die Tür hinter ihnen auf, und alle vier schauten sich um.

»Gabe«, sagte sein Vater. Sein zerfurchtes Gesicht ließ unglaubliche Zuneigung und schon fast so etwas wie Erleichterung sehen. Gabriel befreite sich aus den Klauen der Vorzimmertyrannen, um auf ihn zuzugehen. Er tauschte mit seinem Vater eine kurze Umarmung aus, sie klopften einander auf den Rücken, dann sagte Harlan: »Ich bin froh, dass du es geschafft hast. Das Wetter wird jeden Moment umschlagen, es soll grauenhaft werden, und ich brauche Hilfe.«

Gabriels Alarmbereitschaft rauschte noch ein paar Grad nach oben. Wenn Harlan McQueen zugab, dass er Hilfe brauchte, dann braute sich ernstlich etwas zusammen.

»Darauf kannst du zählen«, sagte er, als sie in Harlans Büro hineingingen – es war eher beengt als geräumig. Das County hatte die Büros der Dienststelle nicht gerade üppig bemessen, das stand mit Sicherheit fest. »Was ist los?«

Der scharfe Blick seines Vaters verriet, dass er Gabriels spontane Unterstützung und seine Bereitschaft zum Handeln zu schätzen wusste. Als er jünger war, hatte seine natürliche Neigung, ständig irgendetwas für irgendjemanden zu tun, ihm manchmal den »Hintern auf Grundeis gehen« lassen, wie man in Maine zu sagen pflegte. Als Sergeant bei der Militärpolizei war er dann in der Lage gewesen, seine Aggression und Entschlossenheit auf den Job zu richten; das war gut für ihn und für die Armee auch.

»Diese verfluchte Wetterfront kommt uns in die Quere«, sagte Harlan kurz angebunden. »Wir sollten Schnee kriegen, das Eis sollte im Nordosten bleiben, aber jetzt sagt das Wetteramt, dass es einen Eissturm geben wird – und was für einen! Sie haben vor gut einer Stunde eine Unwetterwarnung herausgegeben, und wir bemühen uns, dass wir in die Gänge kommen; außerdem ist ein Unfall passiert, der gleich drei Hilfssheriffs beschäftigt, und dabei kann ich noch nicht mal einen entbehren.«

Verdammt, ein Eissturm. Gabriel war jetzt in höchster Alarmbereitschaft. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, seine Haltung vollzog langsam eine Veränderung, als würde er es mit dem Unwetter bei einer Schlägerei ohne Boxhandschuhe aufnehmen. Ein Eissturm war zehnmal schlimmer als ein Schneesturm, jedenfalls was die Schäden anging. In den letzten zehn oder zwölf Jahren war Maine zweimal mit Eis geschlagen gewesen, aber in beiden Fällen hatte das Unwetter ihre Gegend verschont. Damals war das gut, jetzt allerdings schlecht, denn es bedeutete, dass ein Großteil der morschen, geschwächten Bäume, die es damals nicht erwischt hatte, nun unter dem Gewicht des Eises zusammenbrechen und Autos und Häuser zertrümmern, elektrische Leitungen niederreißen und hunderte Quadratmeilen in Kälte und Dunkelheit tauchen würde. Ein Eissturm war wie ein Hurrikan aus Kristallen – er zerstörte alles, womit er in Berührung kam.

»Was kann ich tun?«

»Fahr zum Haus der Heltons raus und schau nach Lolly. Ich hab sie nicht an ihr Handy gekriegt, und womöglich weiß sie gar nicht, dass diese Wetterfront jetzt den Weg in unsere Richtung nimmt.«

Lolly Helton? Gabriel konnte ein Stöhnen gerade noch unterdrücken. Ausgerechnet die.

»Was macht sie denn hier?«, fragte er und versuchte, die plötzliche Feindseligkeit zu kaschieren, die Lolly Helton immer bei ihm auslöste. »Ich dachte, die ganze Familie wäre weggezogen.«

»Ist sie auch, aber sie haben das Haus für die Sommerferien behalten. Jetzt spielen sie mit dem Gedanken, es zu verkaufen, und Lolly ist hier, um die Möglichkeiten zu sondieren, aber, verdammt, was für einen Unterschied macht das schon? Sie ist allein da draußen und hat keinerlei Möglichkeit, Hilfe zu rufen, falls ihr etwas zustößt.«

Trotz seines Widerwillens, sich ausgerechnet für Lolly Helton einsetzen zu müssen, erfasste Gabriel sofort die Logik seines Vaters. Jemand, der nicht aus Maine stammte, war womöglich nicht in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen, er hingegen konnte das sehr wohl. Handys funktionierten in dieser Gegend bestenfalls hin und wieder. Wäre Lolly in der Stadt in Sicherheit, dann hätte Harlan sie telefonisch erreicht, aber draußen bei den Heltons taugte ein Handy zu gar nichts – außer um damit nach jemandem zu werfen, vielleicht. Und da momentan niemand in dem alten Haus wohnte, war die Festnetzleitung längst abgeschaltet worden. Vermutlich konnte man aus dem gleichen Grund nicht mal fernsehen. Wenn Lolly nicht gerade in die Stadt fuhr und Autoradio hörte, hatte sie von der drohenden Katastrophe keine Ahnung.

Mist. Da gab es keinen Ausweg. Er musste nach ihr schauen.

»Ich kümmere mich drum«, sagte er schon unterwegs zur Tür. »Wie viel Zeit bleibt mir?«

»Weiß ich nicht. Das Haus liegt weiter oben, der Eissturm wird dort also früher einsetzen als hier. Das Wetteramt sagt, dass es bei uns hier schon bei Sonnenuntergang losgehen könnte.«

Gabriel warf einen Blick auf seine Uhr. Drei Uhr nachmittags. So weit im Norden ging die Sonne gegen vier Uhr unter, ihm blieb also nicht viel Zeit. »Mist«, sagte er. »Dann reicht mir die Zeit ja nicht mehr, um Sam zu sehen.«

»Doch, wenn du dich beeilst. Man hat die Kids von der Schule nach Hause geschickt, als das Wetteramt die Vorhersage geändert hat. Deine Mom hat ihn also schon abgeholt. Ich ruf sie an, damit sie Kaffee und was zu essen für dich vorbereitet; mach kurz bei ihr Halt – und dann Volldampf voraus!«

Gabriel war schon durch die Tür und stürzte davon, bevor Harlan noch ausgeredet hatte. Der Kaffee und das Essen waren eher eine Notwendigkeit als ein Trost. Er hatte den ganzen Tag hinter dem Steuer gesessen, er war müde, und bei schwierigen Wetterverhältnissen konnten Nahrungsmittel und Getränke über Leben und Tod entscheiden. Er wusste nicht, in was für eine Situation er kommen würde, sobald er die Hauptstraße verließ und die lange Serpentinenstraße zum Haus der Heltons hinauffuhr; es war also besser, Proviant dabeizuhaben und ihn nicht zu brauchen, als ihn nicht zu haben und womöglich aus diesem Grund sterben zu müssen.

Der Wind schlug ihm ins Gesicht, als er die Tür des Gerichtsgebäudes öffnete und ins Freie trat. Das war nicht gut. Es war windig gewesen, als er hineingegangen war, aber jetzt, keine zehn oder fünfzehn Minuten später, stürmte es ganz schön heftig. Der Wind bewirkte, dass Äste und Oberleitungen schneller herunterbrachen, außerdem entzog er jedem armen Schwein, das sich jetzt noch draußen aufhielt, die Körperwärme. Oder einem, der losgeschickt wurde, um eine übellaunige, aufmüpfige Zicke zu retten, die ihn vermutlich zum Teufel schicken würde, wenn er von ihr erwartete, ihren feinen Hintern in seinem Pick-up zu platzieren.

Dennoch machte sich auf Gabriels Gesicht ein unheiliges Grinsen breit, als er zu seinem Ford hetzte und ihn schon mit der Fernbedienung entriegelte, obwohl er noch über drei Meter entfernt war. Er riss die Tür auf und sprang in sein Auto. Lolly Helton! Verdammt noch mal, mit niemandem hatte er sich je so in die Haare gekriegt wie mit Lolly, und niemand war ihm je so auf die Füße getreten. Seinen Erfolg in der Armee hatte er vermutlich der frühen Ausbildung zu verdanken, die sie ihm hatte zukommen lassen; welchen Ärger konnte der zänkischste Rekrut schon machen, verglichen mit dieser hochnäsigen Miss Helton?

Lollipop, Lollipop, oh lolli, lolli, lolli … Der Songtext kam ihm vage in den Sinn.

Gabriel legte den Rückwärtsgang ein und schoss so aus der Parklücke, dass er in die gewünschte Fahrtrichtung kam. Sein Lächeln wurde breiter, als er die Automatik auf Fahren stellte und mit seinem Stiefel aufs Gaspedal trat. Die Erinnerung hallte in seinem Kopf wider wie ein Echo, sein Spott, der sie, wie er gewusst hatte, in den Wahnsinn treiben würde, das Gelächter seiner Kumpels, ihre zugeknöpfte, unfreundliche Miene, die noch zugeknöpfter wurde, als sie ihn anstarrte, als wäre er ein Insekt, das sie zertreten hatte.

Darum ging es bei Lolly Helton. Selbst als kleines Mädchen war sie schon so überzeugt, viel besser als alle anderen in der Stadt zu sein, dass nichts, was er – oder sonst jemand – zu ihr sagte, dieser Überlegenheit einen Dämpfer hätte verpassen können. Ihr Vater war der Bürgermeister, und das vergaß sie nie – und sie ließ es auch nicht zu, dass andere es vergaßen. Wäre sie besonders hübsch oder besonders klug gewesen oder sonst irgendwie außergewöhnlich, dann wäre sie in der Schule vielleicht beliebter gewesen; doch es war nichts Besonderes an ihr. Er erinnerte sich an ihre lockigen braunen Haare, und dass kein Kleidungsstück, das sie trug, je sonderlich gut an ihr ausgesehen hatte; und das war es dann auch. Nun, einmal abgesehen von der Art, wie ihr Gesichtsausdruck ihm gesagt hatte: Verpiss dich, Blödmann.

Es musste mit ihm etwas nicht stimmen, weil er neben seinem Unmut so etwas wie Aufregung empfand, sie nun zu sehen – um wahrscheinlich bloß wieder mit ihr zu streiten.

Gabriel hielt das Steuer mit einer Hand fest und wechselte im Radio mit der anderen das Programm. Statt XM wollte er einen Lokalsender mit der aktuellen Wettervorhersage hören. Nach nur wenigen Minuten ließ er die Stadtgrenze von Wilson Creek hinter sich und trat aufs Gas, um Zeit zu gewinnen, selbst wenn es lediglich ein paar Sekunden waren. In ihm baute sich eine andere Art Vorfreude auf, scharf und stark. Sam. In ein paar Minuten würde er seinen Jungen wiedersehen, und sein Herz schlug schneller vor Freude.

Vier Meilen die Straße hinunter bog er zwischen zwei riesigen Fichten in eine betonierte Auffahrt ein. Hinter den Bäumen lag ein weißes Haus mit gediegenen schwarzen Fensterläden und einer Garage für drei Autos.

Die Eingangstür flog schon auf, als er schlingernd zum Stehen kam. Ein kleines dunkelhaariges Energiebündel stürzte aus dem Haus und brüllte: »Dad! Dad!«

Gabriel ließ den Motor seines Ford laufen und sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Wagen, da machte Sam auch schon einen Satz. Er fing das Kind in der Luft auf, und dürre Ärmchen schlangen sich ihm so fest um den Hals, dass er kaum noch atmen konnte. Aber er musste ja auch nicht atmen. Er musste seinen Sohn nur festhalten.

»Wir durften früher von der Schule heimgehen!«, sagte Sam und strahlte ihn an. »Es soll einen Eissturm geben. Granny macht schon jede Menge Suppe; sie hat gesagt, dass wir sie vielleicht brauchen werden.«

»Klingt gut«, erwiderte Gabriel.

Sam trug einen Mantel, dessen Reißverschluss jedoch offen stand, und die Kapuze war ihm nach hinten gerutscht, sodass ihm der kalte Regen, der nun viel stärker geworden war, auf den Kopf prasselte. Gabriel zog zuerst Sams Kapuze hoch, dann machte er die hintere Autotür auf, um nach seinem Seesack zu greifen, und drückte dann mit der Schulter die Wagentür zu. Seinen Sohn in einem Arm und den Seesack im anderen, rannte er durch den Regen zur rückwärtigen Veranda. Seine Mutter stand in Jeans und Stiefeln da, sie wirkte bodenständig und tüchtig – das breite Lächeln auf ihrem Gesicht vermochte die Sorge in ihren grünen Augen allerdings nicht so recht zu verbergen.

»Er wollte nicht abwarten«, sagte sie und umarmte Gabriel stürmisch, dann drückte sie auch Sam einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Ach, Granny«, sagte er verlegen, wischte sich die Wange jedoch nicht ab.

Gabriel grinste; er erinnerte sich noch, wie kränkend es immer für ihn gewesen war, wenn sie ihm in dem Alter einen Kuss gab. Vielleicht würde Sam sich ja auch daran gewöhnen, denn nichts vermochte Valerie McQueen davon abzuhalten, die Menschen zu küssen, die sie liebte.

Gabriel ließ seinen Seesack fallen und stellte Sam auf die Beine; dann ging er in die Hocke und fing an, in seinem Gepäck nach einem Messer und einer Taschenlampe zu suchen.

»Der Kaffee ist fast fertig«, sagte seine Mutter. »Ich habe schon eine Thermoskanne mit Suppe vollgefüllt, und hier ist noch einer der imprägnierten Regenponchos deines Vaters.« Sie reichte ihm den Poncho, machte kehrt und eilte in die Küche.

»Danke«, sagte er in der Hoffnung, das Ding dann doch nicht zu brauchen.

Gabriels Stiefel waren imprägniert und für jedes Wetter geeignet, somit müssten seine Füße also warm und trocken bleiben, aber er stopfte sich ein extra Paar Socken in die Manteltasche, nur für den Notfall. Sein Mantel war dick und schwer, und im Ford hatte er Handschuhe und auch eine Decke liegen; Sam hatte sie vor über einem Jahr unter den Rücksitz geschoben, und er war nie dazu gekommen, sie wieder herauszuziehen. Wie ihm schien, war er für seinen kurzen Trip den Berg hinauf nun bestens gerüstet.

»Wohin fährst du?«, fragte Sam, der ihm bei den Vorbereitungen zusah. »Du bist doch gerade erst gekommen.« In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Er schmollte.

»Ich muss eine Frau in ihrem Haus auf einem Berg oben retten«, erwiderte Gabriel betont energisch, damit Sam wusste, dass für eine Auseinandersetzung jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war; aber er legte den Arm um ihn, um ihn kurz und fest zu drücken. »Ich möchte auch nicht schon wieder wegfahren, aber wenn etwas getan werden muss, dann muss eben jemand ran und die Sache erledigen.«

Sam dachte darüber nach. Da Gabriel bei der Armee Karriere gemacht hatte und sein Großvater Sheriff war, hatte er in seinem kurzen Leben schon ein großes Verantwortungsbewusstsein entwickelt und gesehen, wie Dinge, die notwendig waren, in die Tat umgesetzt wurden. Selbst wenn es ihm nicht passte, verstand er, worum es ging. »Ist sie verletzt?«

»Ich glaube nicht, aber dein Großvater will, dass ich sie hole, bevor sie wegen des Eissturms dort oben festsitzt.«

Sam nickte feierlich. »Na schön«, sagte er schließlich. »Wenn es sein muss. Aber sei vorsichtig.«

»Klar doch«, versprach Gabriel. Er wollte lächeln, schaute aber weiter ernst drein. Sein Junge lernte gerade, wie man sich verantwortungsvoll verhielt.

Valerie kam zurück, und ihr Sohn nahm die beiden großen Thermosflaschen von ihr in Empfang. »Sei vorsichtig«, sagte sie unnötigerweise – es klang wie Sams Echo. Doch seit Gabriel selbst Vater war, verstand er, dass Eltern nie aufhörten, sich Sorgen zu machen, ungeachtet wie alt und wie fähig ihre Sprösslinge waren.

»Bin ich das nicht immer?«, fragte er. Er wusste, dass sie jetzt gleich mit den Augen rollen würde, und so war es auch. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann ging er in die Knie, um Sam noch einmal besonders fest zu umarmen. »Ich bin so schnell wieder da, wie ich nur kann. Kannst du bis dahin auf deine Granny aufpassen?«

Sam straffte seine dünnen Schultern. »Ich tue mein Bestes«, erwiderte er, doch aus dem Blick, den er seiner Großmutter zuwarf, ließ sich schließen, dass er Zweifel hegte, sie wirklich beaufsichtigen zu können. Gabriel biss sich auf die Zunge, um ein Grinsen zu unterdrücken.

»Bring Lolly mit zu uns«, sagte Valerie energisch. »Versuch nicht, sie in die Stadt zu schaffen und dann wieder zu uns herauszufahren. Wir haben genügend Platz und genügend zu essen, es macht also keinen Sinn, bei diesem Wetter etwas zu riskieren.«

»Ja, Madam«, sagte er gehorsam, aber innerlich grollte er. Er würde Lolly Helton länger am Hals haben, als ihm lieb war.

Vielleicht war sie aber auch gar nicht da. Vielleicht war sie ja in der Stadt an einem sicheren Ort und hatte bloß ihr Handy ausgeschaltet. Vielleicht würde er von der Fahrbahn abkommen und müsste dann zu Fuß zurücklaufen – womöglich würde er es gar nicht den Berg hinauf bis zum Haus der Heltons schaffen. Vielleicht würde sie sich, selbst wenn sie da war, weigern, mit ihm mitzufahren. Ja, das wäre vorstellbar.

Dann stieg in ihm wieder dieses seltsame Gefühl auf, diese Aufregung, das Kribbeln, das er verspürte, wenn er wusste, dass ein Gefecht bevorstand, auf das er sich eigentlich freute. Er war schon in viel schlimmeren Situationen gewesen als in dieser. Er war in Handgreiflichkeiten geraten mit nichts als seinen bloßen Fäusten, hatte irgendwelchen Leuten eine Abreibung verpasst und alles unbeschadet überstanden. Lolly hatte ein Mundwerkzeug wie ein Skorpion, aber das war es auch schon. Er würde mit ihr schon klarkommen – und mit ihren Animositäten auch.

»Danke«, sagte er zu seiner Mutter. »Ich bin dann so etwa in einer Stunde wieder da.« Dann hastete er wieder hinaus in den kalten Regen und in die immer tiefere Finsternis, um die verzogene Prinzessin oben auf dem Berg zu retten.