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Als Gabriel die Abzweigung von der Hauptstraße erreichte, lagen die Wolken so tief, dass er kaum noch etwas sehen konnte. Auch der Regen war stärker geworden. Der Sturm schüttelte die Bäume und pfiff um den Ford, als wollte er ihn umstürzen. Sturm war schlecht; die Äste würden noch früher brechen, die Bäume eher umstürzen.

Er wäre jetzt viel lieber bei Sam, aber er dachte nicht einen Augenblick daran, umzudrehen und einfach seinem Dad zu sagen, dass er es nicht auf den Berg hinaufgeschafft hatte. Aufgeben war in seinem Gencode nicht angelegt. Er würde Lolly von diesem Berg herunterholen, und wenn er sie an den Haaren herunterzerren musste – was sein Vater wohl kaum im Sinn gehabt hatte, als er Gabriel zu seiner Mission losschickte, aber der Sheriff kannte Lolly nicht so gut, wie Gabriel sie kannte.

Sie war schon immer eine verzogene Göre gewesen, hochnäsig, überzeugt, etwas Besseres zu sein als alle anderen. Manche Kinder konnten gut damit umgehen, wenn man sie frotzelte. Lolly nicht. Feindseligkeit hatte sich in ihr breitgemacht. Einmal hatte sie ihn mit absoluter Geringschätzigkeit angesehen und gesagt: »Wurm!« Er hatte seine Reaktion zu verbergen gewusst, aber tief im Innern war er wütend gewesen, weil sie ihn mit diesem einen Wort so total abgelehnt hatte. Er war der Sohn des Sheriffs, er war beliebt und sportlich und überall gern gesehen, und sie hielt ihn für einen Wurm? Wer meinte sie denn, wer sie war? Ach ja, sie war eine Helton, und sie pflegte mit Leuten wie ihm keinen Umgang.

Sie hatte sich von allen anderen ferngehalten, gehörte nicht mit zur Meute, nahm nie an einer Party teil. Rückblickend fragte sich Gabriel, ob man sie überhaupt je zu einer eingeladen hatte. Wohl schon – aber nur, weil sie die Tochter des Bürgermeisters war. Von den Kids hatte sie jedenfalls keiner gemocht und sie deshalb auch nicht eingeladen. Er wusste nicht, ob ihr das etwas ausgemacht hatte, denn sie war ja nun wahrhaftig kein geselliges Mädchen gewesen. Die einzige schulische Aktivität, bei der sie mitgemacht hatte, war, ihre Nase in die Bücher zu stecken – insofern das denn zählte.

Gabriel fragte sich, ob sie immer noch so war: anders und allein. Aufgrund des Abstands von mehreren Jahren konnte er sich nun auch fragen, was zuerst dagewesen war – ihre Einstellung oder die Frotzeleien. Seine eigenen Eltern schienen sie ganz gern zu mögen. Hätte sein Dad ihn losgeschickt, wenn es um jemand anders gegangen wäre und nicht um Lolly Helton, deren Handy keinen Empfang hatte und die möglicherweise nicht wusste, was auf sie zukam? Harlan McQueen war sein Leben lang mit den Heltons befreundet gewesen, und das hatte sich nicht geändert, nur weil die Heltons nach Florida gezogen waren und Eisstürme und Schnee gegen hin und wieder mal einen Hurrikan eingetauscht hatten.

Sie nach all den Jahren wiederzusehen könnte interessant sein, dachte er. Er hoffte nur, sie würde ihm keinen Ärger machen, wenn es darum ging, mit ihm in die Stadt zurückzufahren.

Im Radio kam eine neue Wettervorhersage, und er drehte den Ton lauter, um besser hören zu können. Es hatte offensichtlich den Anschein, als würde der Sturm sich verschlimmern und schneller kommen als erwartet. Gabriel verringerte das Tempo und versuchte zu erkennen, ob die Bäume schon vereist waren. Sicher würde sogar Lolly einsehen, dass es klug wäre, den Berg zu verlassen, bevor sie womöglich wochenlang ohne Strom dort oben festsaß. Wenn sie keine Vorräte angelegt hatte, würde ihr bald auch das Essen ausgehen. Sobald die Eisschicht auf den Bäumen dick genug war, würden einige umfallen und die Straße blockieren. Da das Haus der Heltons das einzige weit und breit war, würde das County den Aufräumarbeiten keine hohe Priorität einräumen. Früher standen hier noch zwei andere Häuser, aber eines war ein paar Jahre zuvor abgebrannt, und das andere war so verfallen, dass das County schließlich seinen Urteilsspruch gefällt und es hatte einreißen lassen.

So oder so, er wollte auf diese Aufgabe nicht eine Minute mehr Zeit verschwenden als nötig. Er wollte tun, worum man ihn gebeten hatte, und dann schleunigst seinen Pick-up von diesem Berg herunterschaffen, solange es noch möglich war. Ihm fehlte Sam jeden Tag, aber beim Militär konnte er sich mit Arbeit eindecken. Jetzt, da sein Sohn in seiner Nähe war, verursachte ihm die Trennung fast physischen Schmerz.

Die Straße machte eine scharfe Kurve und schlängelte sich dann steil nach oben. Seine Reifen schlitterten auf dem Straßenbelag, und er nahm den Fuß vom Gas, sodass der Ford an Tempo verlor und nun langsam den Berg hinaufkroch. War die Straße schon vereist, oder war er nur ins Schleudern gekommen, weil es auf dem nassen Straßenbelag so steil nach oben ging? Winterreifen brachten auf Eis rein gar nichts. Nichts brachte etwas, von Ketten einmal abgesehen, aber selbst hier in Maine hatten nicht viele Schneeketten. Bei derart üblen Wetterverhältnissen war es am klügsten, seinen Hintern einfach nicht mehr zu heben und die Sache auszusitzen.

Verdammt, warum konnte diese Frau nicht in einem Haus wohnen, das sich leichter erreichen ließ? Diese verdammte Straße war kaum breiter als sein Ford, und einige Äste hingen so tief über der Fahrbahn, dass er schon bei ihrem Anblick vorsichtig wurde. Sie waren nicht nur tödlich, wenn es mit dem Eis wirklich schlimm wurde, sondern sie machten die Straße noch dunkler, weil sie das wenige verbliebene Licht abhielten.

Laut Temperaturanzeige seines Pick-up lag die Außentemperatur jetzt bei null Grad Celsius. Super, echt super. Während er noch auf das Thermostat schaute, fiel die Digitalanzeige auf minus ein Grad. Die Straße führte nach oben, und dementsprechend ging die Temperatur in den Keller. Es war Eis auf der Straße, nun gut. Er drosselte sein Tempo noch mehr, das Gewicht des Ford musste für die notwendige Bodenhaftung sorgen.

Einfach umzukehren war jedenfalls keine Alternative mehr. Sein Pick-up war zu groß, die Straße war zu schmal, und auf der linken Seite ging es steil bergab. Die erste Stelle, wo er wenden konnte, war am Helton-Haus. Er steckte hier fest wie eine Ratte in einer Tretmühle, es gab kein Entrinnen.

Gabriels Frustration nahm zu. Wenn er da oben ankam und keiner da war, wenn Lolly am Nachmittag die Stadt verlassen hatte und der Sheriff das nur nicht mitbekommen hatte, dann wäre Gabriel wahrhaftig stinksauer. Seinem Vater konnte er nicht böse sein, aber bei Lolly stand die Sache anders. Er hätte nicht übel Lust, sie aufzuspüren, bloß um ihr mitzuteilen, was für ein rücksichtsloses Miststück sie war.

Aber es bestand ja auch die Möglichkeit, dass er sie wirklich da oben antraf – cool und unbeteiligt wie immer und überrascht, dass er inmitten eines beschissenen Eissturms vor ihrer Tür stand, wo er doch zu Hause bei seinem Sohn sitzen könnte. Verflucht, er setzte hier sein Leben aufs Spiel, um sie da runterzuholen! Und diese Tatsache machte ihn gleich noch wütender. Er wollte schließlich für Sam am Leben bleiben; sein kleiner Junge hatte schon seine Mutter verloren, und für einen Vierjährigen war das damals eine arg schwere Zeit gewesen. Gott sei Dank hatten sie einander, als Mariane starb. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er das alles ohne Sam durchgestanden hätte. Was würde Sam machen, wenn ihm jetzt etwas zustieße? Gabriel wollte lieber gar nicht weiterdenken.

Der Ford kämpfte sich langsam die Bergstraße hinauf, aber er spürte, wie die Räder immer wieder durchdrehten, spürte, wie der Wagen rechts ausbrach, als der Straßenbelag glatter wurde. Je höher er hinaufkam, desto übler würde es werden.

Dieser Gedanke hatte sich gerade bei ihm manifestiert, als er vorsichtig eine Rechtskurve nahm. Die Reifen schlitterten, der Wagen brach seitlich aus, erst die Straßenneigung, so geringfügig sie auch war, brachte ihn am Ende der Kurve wieder auf Kurs. Dann verloren die linken Reifen den Kontakt mit dem Asphalt, und er schlitterte auf den Seitenstreifen, gefährlich nah an den äußeren Rand, wo nichts weiter war als der steile Abhang.

Gabriel stellte die Gangschaltung auf neutral, damit die Reifen nicht mehr griffen, und ließ den Ford wieder in Richtung Innenkurve gleiten. Er hatte keine Bodenhaftung, die Möglichkeit zu bremsen bestand also nicht, er musste mit dem Schwung des Wagens arbeiten, um ihn vom Abgrund weg in Richtung Berg zu lenken. Mit einem dumpfen Geräusch fuhr das rechte Vorderrad auf den unbefestigten Randstreifen, der sich innen an der Straße entlangzog. Gerade als Gabriel aufatmete, merkte er, wie der Wagen sich neigte. Ein Graben. Bevor ihm klar wurde, was das bedeutete, grub sich die Stoßstange des Ford in den weichen Morast, und er kam zum Stehen.

Gabriel fluchte, als er durch die vereiste Windschutzscheibe auf die Straße vor sich starrte. Sein Pick-up würde es niemals diesen Berg hinaufschaffen, und er wollte es auch gar nicht mehr versuchen. Es fiel noch immer Regen, jetzt so tückisch leicht, dass er nicht abfloss, sondern direkt zu Eis gefror. Dies war der schlimmste Regen überhaupt – ein langsamer, leichter Regen, bei dem man unmöglich Auto fahren konnte.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube warf Gabriel einen Blick über die Schulter auf die Straße hinter sich. Verfluchter Mist! Wenn er eine Stunde früher in der Stadt angekommen wäre, hätte er den Weg zum Haus der Heltons und wieder zurück problemlos geschafft. Wenn er eine Stunde später eingetroffen wäre, wäre es bereits unmöglich gewesen, überhaupt so weit zu kommen. Stattdessen war er genau zu dem Zeitpunkt angekommen, der ihn auf halber Höhe in eine solche Scheißsituation hatte geraten lassen.

Er würde den restlichen Weg zu Fuß gehen müssen.

Gabriel tauschte seine Kappe, die er bei jedem Wetter trug, gegen eine Wollmütze aus, die er sich über die Ohren ziehen konnte, zwängte sich in den Regenponcho mit Kapuze, den ihm seine Mutter mitgegeben hatte und zog dann seine Handschuhe an. Seine Stiefel waren wasserdicht und warm, sodass er für das Wetter zumindest anständig angezogen war.

Er packte die Taschenlampe und stieg aus dem Ford; die Tür knallte er zornig zu, noch immer vor sich hinfluchend. Er benutzte alle Schimpfwörter, die er im Laufe der Jahre beim Militär gelernt hatte – und das waren jede Menge. Warum auch nicht? Keiner konnte ihn hören, weil ja schließlich jeder mit einem Funken Verstand im Hirn irgendwo im Innern eines Hauses war und sich auf den Sturm vorbereitete. Nur er nicht. Nein, er musste bei diesem verdammten Sturm draußen sein und den edlen Ritter spielen, der ein verfluchtes Weib rettete.

Gabriel senkte den Kopf, zog sich die Mütze weiter herunter, um seine Ohren zu schützen, und zurrte den Riemen der Ponchokapuze fest, damit sie ihm nicht vom Sturm weggerissen wurde. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, einen nassen Kopf zu bekommen. Er ging zum Straßenrand, denn er fand auf dem schmalen, von Unkraut bestandenen Seitenstreifen besseren Halt beim Gehen als auf der glatten Straße; so stapfte er weiter, wobei ihm mit einem flauen Gefühl im Magen bewusst wurde, dass er die Nacht im Haus der Heltons würde verbringen müssen. Er käme jetzt nie und nimmer wieder von diesem Berg herunter, außer vielleicht zu Fuß – aber der Rückweg in die Stadt bei einem Eissturm war der reinste Selbstmord. Die Nacht bei Lolly Helton zu verbringen war noch die bessere Alternative … Der Gedanke an Sam kippte für einen Moment die Überlegung, oben zu bleiben, aber es war absurd.

Selbst auf dem Seitenstreifen gestaltete sich das Gehen gefährlicher, als Gabriel gedacht hatte. Verdammt, wie war er überhaupt so weit gekommen, ohne von der Straße abzukommen? Mehrmals rutschte er aus und musste nach einem der überhängenden Äste greifen, damit er nicht stürzte. Eine üble Vorahnung ergriff ihn, als er den Lichtstrahl der Taschenlampe über die Äste wandern ließ und die Eisschicht sah, von der sie bereits bedeckt waren.

Zumindest würde er es auf den Berg hinaufschaffen. Die Straße führte ein Stück bergab, vollzog dann eine weitere Kurve, und man konnte die Lichter vom Haus der Heltons schon sehen. Dann war sie also zu Hause und hatte sich nicht zu früherer Stunde davongemacht. Gabriel wusste nicht, ob er froh war, dass sein idiotischer Ausflug nicht umsonst war, oder verärgert, weil er diese Sache jetzt komplett durchziehen musste. Wahrscheinlich beides gleichzeitig. Er war jedenfalls stinksauer und hatte vor, auch weiterhin stinksauer zu sein.

Obwohl das Haus noch immer fast zweihundert Meter weit weg war, konnte man die Lichter deutlich erkennen. Es lag auf einer Lichtung, die an drei Seiten von Wäldern umgeben war. Jetzt auf dem Gipfel – fast zumindest – wurde Gabriel klar, wie sehr der Berg ihn vor den eisigen Windstößen bewahrt hatte, denn sie droschen jetzt mit solcher Kraft auf ihn ein, dass er torkelte. Einen Augenblick ließ der Sturm nach, bis ein weiterer Windstoß ihn peitschte. Trotz seiner zig Schichten Kleidung und dem Poncho, der ihn trocken hielt, entzog ihm der Wind in kürzester Zeit die Körperwärme, und er fröstelte.

Die beiden Thermosflaschen hatte er im Ford gelassen. Er würde jetzt viel für eine Tasse Kaffee geben, aber es war gar nicht daran zu denken, deswegen noch einmal umzukehren. Unwillig wischte er die Eiskristalle weg, die ihm der Sturm ins Gesicht gepeitscht hatte. Vielleicht hatte Lollipop ja Kaffee. Wenn ja, wahrscheinlich so einen aromatisierten Mist, aber solange er heiß war, würde er das Gebräu schon trinken.

Vorausgesetzt, sie ließ ihn herein.

Als sich Gabriel dem Haus näherte, zügelte er seinen Ärger, ein bisschen zumindest. Es waren viele Jahre vergangen, seitdem Lolly diese verzogene, eingebildete Göre von einem Teenager gewesen war, an die er sich erinnerte. Er war nicht mehr der Gleiche, und sie war es vermutlich auch nicht. Und es war nicht ihre Schuld, dass der Sheriff seinen Leuten gegenüber so ein Kontrollfetischist war. Die meisten Hüter des Gesetzes würden sich schon mit der Annahme zufriedengeben, dass seine Schäfchen in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, insofern keine andere Information vorlag. Nicht jedoch Harlan McQueen.

Es schienen alle Lampen im Erdgeschoss eingeschaltet zu sein, ebenso ein Licht im ersten Stock, in dem Zimmer vorne rechts. Neben dem Haupteingang war ein Mercedes geparkt, und dahinter stand ein alter, schäbiger Chevrolet Blazer. Er konnte sich vorstellen, dass Lolly den Mercedes fuhr, aber wem zum Teufel gehörte der Blazer?

Mist, vielleicht verbrachte sie ja gerade romantische Stunden zu zweit. Was sollte er jetzt tun? Sie würde bestimmt nicht gern gestört werden, und er wollte ja auch gar nicht stören, verdammt. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, war dann aber, wieder zu seinem Ford zurückzustiefeln und die Nacht im Auto zu verbringen; und hoffentlich war ausreichend Benzin im Tank, damit er den Motor die meiste Zeit laufen lassen konnte, denn sonst würde er sich zu Tode frieren. Gleichzeitig konnte er noch beten, dass er – und der Pick-up – nicht von einem umgestürzten Baum erschlagen würden. Was sollte er also machen?

Schöne Scheiße.

Doch dann hielt er im Schatten eines Baumes inne. Es war seltsam. Warum war der Mercedes bei einem Eissturm draußen geparkt, wenn sich direkt hinter dem Haus eine Garage befand? Warum hatte sie ihr Auto nicht dort abgestellt, um den Wagen zu schützen?

Instinktiv schaltete Gabriel seine Taschenlampe aus.

Eiskristalle tanzten um ihn herum, sprenkelten sein Gesicht, hefteten sich an seinen Mantel, an seine Stiefel und Handschuhe. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte. Er hatte lange für die Justiz gearbeitet, wenn auch beim Militär, und er hatte gelernt, auf seine Intuition zu vertrauen. Momentan sagte alles in ihm, vorsichtig näher ans Haus heranzugehen. Vielleicht war ja nur eine Vögelei im Gang, aber er wollte sich lieber vergewissern, bevor er an diese Tür klopfte. Zumindest hatte sein Dad sich darin geirrt, dass Lolly hier oben allein war.

Gabriel ging bis zum Ende der Veranda und stieg die Treppen hinauf. Es war eine alte Veranda aus Holz, und er trat vorsichtig auf, hielt sich am Rand der Planken, wo sie vermutlich weniger knackten. Er ging an keines der Fenster heran, sondern reckte sich, um durch die ein Stück weit aufgezogenen Vorhänge ins Wohnzimmer zu spähen, wo mehrere Lampen brannten. Ihr Schein fiel auf einen Mann und eine Frau.

Der Mann sah aus, als wäre er der Besitzer des Blazer. Der Typ war schmuddelig, wirkte grob und ungepflegt und steckte in Klamotten, die an ihm herumschlotterten, als würden sie ihm gar nicht gehören. Die Frau – Gabriel konnte sie nur von hinten sehen – war spindeldürr. Strähnige Haare fielen ihr über den Rücken. Die ausgewaschenen Jeans waren zu weit und mit einem Gürtel zusammengezurrt.

Lolly hatte braunes Haar, aber hatte sie fünfzehn Kilo abgenommen und sich mit so einer Niete eingelassen? Gabriel nahm das übrige Zimmer in Augenschein, und sein Blick fiel auf das Chaos, das überall verstreut lag. Er fluchte. Er wusste, was er da sah, und seine Eingeweide krampften sich zusammen. Wenn das wirklich Lolly war, dann hatte sie auch noch angefangen, Meth zu nehmen. Kein Wunder, dass sie so jämmerlich dürr war.

Niemals. Seinem Dad wäre das aufgefallen; er wüsste, wenn Lolly auf Eis wäre. Die Droge kursierte im ganzen Land, und sogar bei der Armee musste er sich mit diesem Scheißzeug auseinandersetzen. Sie machte aus den Leuten ein Wrack, die Zähne verfaulten ihnen im Mund; Meth bestimmte ihr Leben und brachte sie oftmals um.

Der Mann streckte seine Hand aus, um die Frau an der Stelle zu packen, wo ihr Hintern hätte sein sollen, doch anstatt wegen seiner Avancen pikiert zu sein, lachte sie rau auf. Gabriel hörte ihr überlautes, raues Gelächter, als sie sich umdrehte und strauchelte. Und dann sah er, was sie in ihrer Hand hielt. Es war ein Revolver, ein großer, Kaliber 357, wenn nicht gar 44. Adrenalin schoss ihm durch die Venen, was seine Wachsamkeit mit einem Mal aufs Höchste steigerte. Er hatte keine Waffe bei sich. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass er bewaffnet hätte herkommen sollen.

Die Frau näherte sich dem Fenster, und er machte einen Schritt nach hinten, damit sie ihn nicht sah. Erleichterung machte sich breit. Das schmale, ausgemergelte Gesicht gehörte niemandem, den er kannte. Er hatte Lolly zwar seit Jahren nicht gesehen, aber kein Mensch konnte sich so sehr verändern – selbst mit Meth nicht.

Das war nicht Lolly.

Allerdings bedeutete es nicht, dass alles in Ordnung mit ihr war. Ob die beiden Freunde von ihr waren? Hatte sich Lolly Helton in anderer Hinsicht verändert, vielleicht nicht physisch, sondern charakterlich? Wenn sie eine Drogendealerin war und mit diesem Scheißzeug zu tun hatte, würde er kehrtmachen; dann war er in seinem Ford besser dran. Was sonst konnte er tun? Irgendwie glaubte er, dass das Paar im Wohnzimmer auf eine Störung nicht gerade freundlich reagieren würde. Meth-Süchtige waren gewalttätig, unberechenbar. Sie würden wahrscheinlich auf ihn schießen, wenn er nur an die Tür klopfte.

Aber wo war Lolly? Er konnte nicht weggehen, ohne sich zu vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Der draußen im Unwetter geparkte Mercedes löste ein ungutes Gefühl in ihm aus. Waren die beiden eingebrochen, hatten sie sie umgebracht? Bei Meth-Süchtigen war alles möglich – nur sicher nichts Gutes.

Als ihm der Lichtschein im Obergeschoss einfiel, verließ er die Veranda so leise, wie er gekommen war, und ging ein Stück zurück, damit er die Fenster in Augenschein nehmen konnte. Die Vorhänge der vorderen Fenster waren zugezogen, er ging also ums Haus herum. Zumindest waren die Vorhänge am Seitenfenster offen. Er musste ziemlich weit in den Hof hinausgehen, um durch das Fenster im ersten Stock etwas zu sehen … Und da war sie!

Lolly ging im Zimmer herum, kam hin und wieder am Fenster vorbei. Ihr Gesicht war nicht so ausgemergelt wie das der Frau unten, und selbst von hier konnte er erkennen, dass sie etwas … vorhatte. Sie zog sich ein Sweatshirt über, obwohl sie bereits eines anhatte. Sie sah seltsam unförmig aus. Als hätte sie jedes Kleidungsstück übergezogen, das sie nur auftreiben konnte.

Als hätte sie vor zu fliehen …

Gabriel atmete tief durch, ignorierte die Kälte in seinen Lungen und die Eiseskälte, die ihn umgab. Sein Dad hatte recht gehabt. Wieder einmal. Lolly brauchte wirklich Hilfe.

Er warf einen Blick auf die Garage. Vielleicht fand sich dort ja eine Leiter.