9

 

Niki rappelte sich auf die Beine. Als dieser Mann wie ein Dämon aus dem Dunkel aufgetaucht und auf Darwin losgegangen war, hatte sich ihr Selbsterhaltungstrieb eingeschaltet, und sie war auf und davon gerannt, als ob der Teufel hinter ihr her wäre, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, Darwin zu Hilfe zu kommen. Sie hatte einen Blick über die Schulter geworfen, anstatt aufzupassen, wo sie hintrat, und war in einer flachen Mulde gelandet. Ihre Beine hatten sofort nachgegeben, und sie stürzte schwer auf den Rücken – so schwer, dass ihr die Luft wegblieb und sie einen Augenblick dalag, zu perplex, um sich zu bewegen.

Als sie schließlich in der Lage war, sich wenigstens aufzusetzen, hockte sie bloß auf dem gefrorenen Boden und schaute zu, wie Darwin und der Mann miteinander rangen. Sie hatte keine Munition mehr, konnte also rein gar nichts machen, um Darwin zu helfen. Das Beste, was sie noch tun konnte, so dachte sie, war, sich um ihren ganz besonderen Liebling zu kümmern; wahrscheinlich hätte sich Darwin ja auch nicht gerade überschlagen, um ihr zu Hilfe zu kommen, wäre die Situation andersherum gewesen.

Sie konnte wegen der Bäume nicht sonderlich viel sehen, außerdem war ihre Taschenlampe auch nicht mehr da, sie musste sie verloren haben; aber während sie den Zweikampf beobachtete, ging ihr durch den Kopf, dass Darwin verletzt werden könnte. Dieser Mistkerl, der Lorelei befreit hatte, war groß und kräftig. Sie dachte, dass Darwin den Kampf durchaus gewinnen könnte, denn er war viel stärker, als er aussah, und hatte miese Tricks drauf. Es war so eine Situation, bei der man lediglich abwarten konnte, wobei sie allerdings nicht zu viel Zeit damit vertun wollte. Sobald es für Darwin schlecht aussah, wollte sie sich lieber um ihre eigene Haut kümmern. Sie musste zurück ins Haus, den Stoff nehmen, den sie auf dem Tisch liegen gelassen hatten … Eigentlich brauchte sie sofort welchen. Dann würde es ihr viel besser gehen, und sie würde dieses kribbelige, fickrige Gefühl los.

Aber sie musste bei dem Sturz dumm aufgekommen sein, denn ihr war ein bisschen schwindelig. Es wäre also nicht sonderlich klug, direkt weiterzumarschieren und womöglich noch einmal zu stürzen und sich dann wirklich zu verletzen. Sie wollte noch einen Augenblick sitzen bleiben, sehen, was mit Darwin passierte. Vielleicht könnte sie ja zuschauen, wie er diesen Kerl erledigte.

Sie saß also ganz still da, obwohl der Boden so eisig war, dass die Kälte wie ein scharfes Messer durch ihre Kleidung schnitt, obwohl sie einen nassen Hintern bekam. Sie sah, wie Lorelei aus dem Dunkel auftauchte, einen Stecken in der hoch erhobenen Hand, und ihn Darwin über den Kopf schlug. Das schien ihn nicht sonderlich zu beeinträchtigen, lenkte ihn aber ab, und plötzlich war Niki klar, dass Darwin kein gutes Ende nehmen würde. Zwei gegen einen, das war nicht fair.

Dann fing Lorelei an, mit ihrem Stecken auf Darwin einzudreschen, immer wieder, drauf, drauf, drauf. Er hatte den Lulatsch zu Boden gerungen, Lorelei aber ließ er auf sich zukommen, um dann auf sie loszugehen. Niki schloss angewidert die Augen. Darwin konnte nie etwas planen, das auch nur das Geringste taugte. Auf diese Weise kam der Typ frei, und das war wirklich verdammt idiotisch. Dann war der Kampf natürlich zu Ende, und Darwin winselte auf eine Weise, die ihr total auf die Nerven ging. Sie konnte nur den Kopf schütteln. Helfen konnte sie ihm nicht, sie hatte nichts bis auf eine Pistole ohne Munition. Darwin war auf sich allein gestellt, dieses blöde Arschloch.

Ihr Kopf fühlte sich besser an, das Schwindelgefühl hatte nachgelassen. Vorsichtig kam sie auf die Beine, während die anderen noch mit Darwin beschäftigt waren, und machte sich davon. Die Geräusche des wiederaufgenommenen Kampfes ließen sie innehalten und sich noch einmal umschauen. Und da sah sie, wie der große Kerl Darwin seinen Ellbogen ins Gesicht rammte, sie sah, wie Darwin wie ein leerer Sack zu Boden plumpste, und sie wusste: Er war tot. Sie hatte schon genug Tote gesehen, um zu erkennen, dass sie in sich zusammensanken, als hätten sie keine Knochen im Leib.

Sie war nie von dem Blödmann abhängig gewesen, aber jetzt war er hinüber, hatte sich umbringen lassen. Das war noch mal etwas anderes.

So geräuschlos wie nur möglich, kämpfte sie sich aus dem Wald heraus. Zweimal knackte es wirklich laut, und sie erschrak zu Tode, bis ihr klar wurde, was los war. Von den verfluchten Bäumen brachen die Äste herunter. Überall um sie herum gaben sogar dicke Äste unter dem Gewicht des Eises nach; jeden Moment konnte einer auf sie stürzen. So ein Mist, echt gespenstisch.

Als sie die Straße erreichte, war sie so froh, aus dem verfluchten Wald draußen zu sein, dass sie das Eis vergaß und losrannte. Sofort rutschten ihr die Füße davon – und sie stürzte schwer auf die Knie. Der Schmerz war fürchterlich. Niki stieß ein paar Flüche aus, als sie sich langsam aufrappelte. Sie verharrte einen Moment in gebeugter Haltung, um sich die Knie zu reiben, bis sie meinte, wieder gehen zu können. Diesmal wechselte sie auf den Seitenstreifen hinüber – oder was davon noch vorhanden war –, denn dort war es nicht so glatt. Sie ging nun erheblich langsamer bergauf.

Die Kälte, die Dunkelheit, der scharfe Wind, das gespenstische Eis … all das machte ihr bewusst, wie allein sie war, wie schrecklich allein, ohne eine Menschenseele, an die sie sich wenden konnte. Mit Darwin war nicht viel los gewesen, aber zumindest war er da gewesen. Jetzt war er tot, weil dieser Typ ein Mistkerl von Mörder war. Er war tot, sie war allein, und die anderen waren in der Überzahl. Von Vorteil war, dass der Blazer jetzt ihr gehörte. Es sah nicht so aus, als würde Darwin das Auto noch einmal brauchen.

Während sie so dahinstapfte, nahm Nikis Ärger zu. Wenn diese Schlampe von Lorelei nicht gewesen wäre, hätte Darwin die Auseinandersetzung vielleicht gewonnen, und anstatt allein zurück zum Haus zu laufen, hätte sie ihn an ihrer Seite. Sie würden sich aufwärmen, mit Meth ihren Sieg feiern und vielleicht in Loreleis Bett noch eine Runde vögeln.

Eis prasselte ihr ins Gesicht, und das passte ihr gar nicht. Hier draußen war es einfach saukalt, verdammter Mist, und alles war schiefgegangen. Alles! Sie hätten einfach am Nachmittag den Gemischtwarenladen ausrauben und dann, zum Teufel noch mal, die Stadt verlassen sollen. Nichts hatte geklappt, und zwar von dem Augenblick an, als sie die Schlampe in ihrem schicken Mercedes gesehen hatte.

Niki schnappte einen Stimmfetzen auf, den der Wind zu ihr herüberwehte, und drehte sich um, um die lange, kurvige Auffahrt hinunterzuschauen. Lorelei und der Kerl waren hinter ihr, auf dem Weg in die – vermeintliche – Sicherheit. Einen Moment sah sie einen Lichtstrahl aufblitzen, dann war er schon wieder verschwunden. Wie sie hielten sich die beiden am Straßenrand im Dunkeln.

Plötzlich kam ihr eine Idee, und ein Lächeln machte sich breit, obwohl ihr in diesem Moment ein heftiger Windstoß ins Gesicht blies. Wenn alles gut ging, wenn sie hier rauskam, dann würde sie den Mercedes fahren und nicht Darwins alten Blazer, und die beiden hätten dann nur einen Wunsch: Sich nie mit ihr eingelassen zu haben … eine Weile jedenfalls, dann würden sie sich überhaupt nie mehr was wünschen.

»Sobald wir um diese Kurve sind, müssten wir die Lichter sehen«, sagte Lolly.

Gabriel wusste nicht, ob sie ihm Mut machen wollte oder sich selbst. Mühsam stapften sie weiter, nahmen die Kurve. Lolly blieb stehen, als sie die Dunkelheit nach dem Licht der Veranda absuchte, das sie ermutigen würde, den restlichen Weg zu schaffen, um das warme, sichere Haus zu erreichen.

Da war nichts. Es herrschte absolute Finsternis. »Der Strom ist ausgefallen«, sagte sie mit dünner Stimme.

»Ja.«

Gabriel drängte sie weiter, mit dem Arm trieb er sie regelrecht an. Ihn wunderte der Kurzschluss nicht, obwohl er sich gewünscht hätte, es bis zum Haus zu schaffen, bevor sämtliche Leitungen herunterkamen. Auf ein warmes, hell erleuchtetes Haus zuzugehen war eher ein psychologischer Kick, als am Ende der Straße nur ins Dunkel zu stieren. Er brauchte etwas, um durchzuhalten, denn seine Kräfte verließen ihn immer schneller.

Lolly drosselte ihr Tempo, ihre Schritte wurden schwerer und mühevoller; beide hatten sie ziemlich an Koordinationsfähigkeit eingebüßt, sodass er sich Sorgen machte. Die Kälte raubte ihr die Kraft. Sie war nahe dran aufzugeben. Aber er konnte ihr nicht gestatten, stehen zu bleiben, nicht so kurz vor dem schützenden Haus. Schutz bedeutete Überleben, und andere Gedanken konnte er sich nicht leisten.

Er gab Lolly Halt, stellte sicher, dass sie weitermarschierten, und hielt gleichzeitig nach Niki Ausschau, die, wie ihm schien, nicht weniger gefährlich war als ihr Freund. Ob sie es ohne Waffe wagen würde, sich mit ihm anzulegen? Aufgrund seiner Erfahrung mit Meth-Süchtigen lautete seine Antwort: Ja. Sie könnte versuchen, ihn auszutricksen, um an Lolly heranzukommen. Selbst eine leere Pistole konnte töten, wenn man sie jemandem auf die verletzlichen Schläfen schlug. Lolly war durch die Klamotten geschützt, die sie sich um den Kopf gebunden hatte, aber eine Garantie, dass sie nicht verletzt oder gar getötet werden könnte, war das trotzdem nicht.

Logischerweise musste es Niki klar werden, dass sie ebenso Schutz brauchte wie sie beide. Vielleicht war sie ja bereits im Haus und wartete auf sie. Womöglich war der Strom gar nicht ausgefallen. Sie könnte die Lichter ausgeschaltet haben, um sie zu überraschen, was von Vorteil für sie war. Er konnte sich keine solchen Gedankenspiele leisten – ob sie draußen in der Kälte war oder im Haus. Er musste mit allem rechnen, wahrhaftig mit allem, und durfte keinerlei Vermutungen anstellen, die sich als Irrtum erweisen könnten – sonst würde er kalt erwischt. Bis über Niki nicht Klarheit bestand, durfte seine Wachsamkeit nicht nachlassen.

Die Nacht war erfüllt vom Brechen der Äste und dem Knarren der Bäume. Das Geräusch war nicht konstant vorhanden, hörte jedoch auch nie ganz auf. Keiner der Bäume, die dicht an der Straße standen, war umgestürzt – noch nicht. Aber das würde noch kommen, und zwar bald. Die Bäume im Wald waren am schlimmsten betroffen; sie stürzten um, denn man hatte sie seit ewigen Zeiten vernachlässigt. Zumindest die dicht am Straßenrand hatte man gelegentlich zurückgeschnitten.

»Ich nehme an, dass am Hintereingang Holz fürs Kaminfeuer gestapelt ist«, sagte er in dem Versuch, Lolly abzulenken und sie zu animieren, sich das gemütliche Haus vorzustellen, das sie erwartete.

»Kein Holz«, sagte sie keuchend, weil sie sich so abmühte weiterzugehen. Er zuckte zusammen, verabschiedete sich von seinem Traum von einem Kaminfeuer, und sie fügte hinzu: »Wir sind vor Jahren auf Gas umgestiegen.«

Umso besser. »Hallelujah. Auch auf einen Gasofen?«

»Ja.«

»Boiler?«

»Mh-hm.«

Welch ein Glück, ein Riesenglück. Dann gab es ja Möglichkeiten, sich aufzuwärmen, und sie konnten die Nacht relativ behaglich verbringen. »Es ist nicht mehr weit, Lolly, und dann haben wir ein Dach über dem Kopf, Wärme und etwas zu essen.«

»Was ist, wenn sie da ist?«, fragte Lolly mit Panik in der Stimme. Offensichtlich waren ihre Gedanken in die gleiche Richtung gegangen wie die seinen.

Gabriel zuckte die Schultern. Äußerlich war er ruhig, innerlich jedoch besorgt. »Wenn Niki da ist, dann regle ich das. Das verspreche ich dir.«

Sie nickte zustimmend, schien aber nicht völlig überzeugt zu sein. Wer konnte ihr das verdenken? Die Situation, in der sie sich befanden, war nicht gut – das Wetter, die Dunkelheit und noch dazu diese Irre, die ohne Vorwarnung aus dem Wald oder aus irgendeinem Schrank oder unter dem Bett hervor auftauchen konnte.

Über ihnen sprang plötzlich röhrend ein Motor an.

Gabriel hob den Kopf, als er das Geräusch hörte. »Nun, dann wissen wir ja jetzt, wo Niki ist«, murmelte er.

Lolly ging näher an ihn heran. »Ja.« Sie klang nervös und wachsam.

War Niki wirklich dumm – oder durchgeknallt – genug, um zu versuchen, mit dem Auto den Berg hinunterzufahren? Sie würde den Blazer nicht anlassen, nur um sich aufzuwärmen, wenn sie bloß ins Haus zu gehen brauchte. Weshalb verriet sie einfach so, wo sie war?

Das Motorengeräusch veränderte sich, ein anderer Gang wurde eingelegt. Scheinwerfer gingen an, schnitten durch die Dunkelheit; die Lichtkegel erfassten den fast ätherischen Nebel, brachten ihn zum Leuchten.

Niki lächelte. Der Blazer war von einer Eisschicht bedeckt, und allein schon, die Tür aufzukriegen, war ein fürchterlicher Kraftakt gewesen, aber sie hatte es schließlich geschafft. Sie war allein, sie hatte keine Munition mehr, aber Lorelei Helton und ihr Kerl hatten keine Chance gegen ihren Blazer. Sie würde die beiden überfahren, als wären sie zwei Straßenköter.

»Für Darwin«, sagte sie.

Sie bekam wässrige Augen, als sie sich daran erinnerte, wie viele Meilen sie miteinander in diesem Blazer zurückgelegt hatten. Vielleicht war der Typ ja nicht perfekt gewesen, vielleicht hatte er sie ein paar Mal betrogen. Aber dennoch hatte er ihr gehört, und jetzt war er tot. Darwin – tot. Sie konnte es einfach nicht glauben.

Sie ließ den Motor an und hielt auf den Berg und die Mitte der schmalen Zufahrtsstraße zu. Das Heck des Wagens kam sofort ins Schlittern, und sie focht mit dem Steuerrad einen Kampf aus, um ihn unter Kontrolle zu bringen, was ihr auch gelang – aber dann rutschte er erneut weg, einen Augenblick später hatte sie ihn wieder im Griff. Zumindest fuhr sie in die richtige Richtung. Sie hatte den Hof kaum verlassen, als die Scheinwerfer schon ihr Ziel erfassten – dort, am Straßenrand. Die beiden Mörder standen nebeneinander, ganz nah, glotzten dämlich den Berg hinauf, schauten sie an. Es war ihnen wohl nicht klar, was sie im Sinn hatte. Vermutlich meinten sie, sie würde abhauen – sie wäre ein Feigling, der aufgab und ihnen den Sieg überließ, ein Feigling, der sie nicht für ihre Tat bezahlen ließ.

Dann schien der Kerl zu durchschauen, was sie im Schilde führte, denn er hob die Schlampe hoch und machte mit ihr einen Satz in den Wald. Ein Dunstschleier aus Hass vernebelte Nikis Augen. Die zwei würde sie sich mit Sicherheit nicht entgehen lassen, verdammt, diese paar Scheißbäume würden sie bestimmt nicht aufhalten. Sie mussten bezahlen. Sie mussten dafür bezahlen, dass sie Darwin umgebracht hatten. Lorelei musste dafür bezahlen, dass sie sich durch ihre Flucht durch das Fenster im ersten Stock über sie lustig gemacht hatte; sie musste dafür bezahlen, dass sie Darwin angemacht hatte, bis der an nichts anderes mehr denken konnte, als ihr an die Wäsche zu gehen. Sie würde die beiden kriegen und sie gegen einen Baum schleudern, ihre Körper dort zerschmettern. Und sie würde lachen, während die zwei verendeten. Das wollte sie. Sie wollte das ebenso sehr, wie sie ihren nächsten Trumpf ausspielen wollte, in nur ein paar Minuten, sobald sie diese kleine Aufgabe abgehakt hatte.

Die Zufahrtstraße führte nun steiler nach unten, bis zur ersten scharfen Kurve. Niki achtete kaum auf den Straßenbelag; sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf den Punkt gerichtet, wo die beiden im Wald verschwunden waren. Sie drehte das Steuer nach links, und der Wagen brach rechts seitlich aus. Fluchend steuerte sie gegen, um das Fahrzeug wieder zu stabilisieren. Der alte Blazer reagierte, dann schwang das Heck herum, und verdammt, jetzt schleuderte sie nach links. Wütend rang sie mit dem Auto. Wie zum Teufel sollte sie ihre Pläne umsetzen, wenn dieser verdammte Karren nicht wieder geradeaus fuhr? Wozu taugte ein Vierradantrieb, wenn er auf Eis nicht funktionierte? Sie riss das Steuer nach links, und die beiden rechten Reifen verloren den Bodenkontakt.

»Scheiße!«, kreischte sie, denn es wurde ihr plötzlich klar, wie nah das Ende der Straße und der steile Abhang auf der anderen Seite der Zufahrt waren. »Scheiße!«

Der Blazer kam wieder auf alle vier Räder; die großen Reifen versuchten, Bodenhaftung zu bekommen, drehten auf dem Eis jedoch hoffnungslos durch. Der Wagen schlitterte und drehte sich, ohne dass sie irgendetwas ausrichten konnte, um die eigene Achse, immer und immer wieder, und gewann an Tempo, als er auf den Abgrund zurutschte. Niki drängte sich plötzlich der absolut irre Gedanke auf, dass das Ganze etwas von einer Fahrt mit dem Teetassen-Karussell in Disneyland hatte.

Sie schrie auf, aus Wut und Angst vor dem ungerechten, blöden Eis, dann verloren die Reifen des Balzer endgültig den Bodenkontakt, und sie kippte seitlich um.

Lolly krallte sich an Gabriels nassem Mantel fest, während sie zusah, wie der Blazer mit einem Mal aus ihrem Blickfeld verschwand. Es folgte ein kurzer Augenblick, in dem alles still war, dann das schreckliche Aufkreischen von Metall, das zertrümmert und zerbeult wird.

»Ach du meine Güte!«, sagte sie zuerst geschockt, um dann hinzuzufügen: »Gut!«

Sie glaubte nicht, dass sie plötzlich ein schlechter Mensch war, nur weil ihre erste instinktive Reaktion Erleichterung war. Darwin war tot, und Niki war mit ihrem Auto über den Fahrbahnrand den Berg hinuntergeschossen. Zum ersten Mal seit Stunden – sie waren ihr wie Tage vorgekommen – war Lolly plötzlich klar, dass der Schrecken nun ein Ende hatte. Ihr war kalt bis auf die Knochen, sie zitterte, sie war geschockt … aber sie waren in Sicherheit.

»Bleib da«, wies Gabriel sie an, während er eine erheblich größere Taschenlampe aus seiner Jackentasche zog, sie einschaltete und dann vorsichtig auf die Straße hinaustrat.

Er war für sie in den letzten paar Stunden ein Fels in der Brandung gewesen. Alles in ihr protestierte, sich auch nur ein paar Sekunden von ihm zu trennen, aber sie tat, wie geheißen. Es machte keinen Sinn, wenn sie beide nachschauen gingen. Davon abgesehen, konnte sie kaum gehen, so kalt war ihr. Sie wollte sich nur hinsetzen und die Augen schließen.

Der Straßenbelag war noch tückischer geworden, die Eisschicht noch dicker. Gabriel rutschte mehrmals aus, fand aber wieder ins Gleichgewicht und hielt sich auf den Beinen. Lolly stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er die andere Straßenseite erreichte und mit seiner Taschenlampe den Abhang hinunterleuchtete.

Nach einer guten Weile kämpfte er sich wieder die Zufahrtstraße zu Lolly hinauf. Er schaltete die Lampe aus, verstaute sie in der Manteltasche und nahm nun die schwächere Taschenlampe zur Hand. »Der Blazer ist an die fünfzig Meter hinuntergestürzt. Er ist gegen einen Baum geprallt. Der Baum war der Stärkere. Wenn Niki nicht tot ist, dann muss sie ernstlich verletzt sein, aber ich kann jetzt nicht hinuntersteigen, um nachzuschauen.« Er zog die Stirn kraus, weil es ihm nicht passte, wenn er etwas nicht mit Sicherheit wusste.

Lolly hätte nicht gedacht, dass sie jemals über die Nachricht vom Tod eines anderen Menschen hätte Erleichterung empfinden können; und eine verletzte Frau in einem total demolierten Auto einfach erfrieren oder verbluten zu lassen – zumindest hatte sie immer geglaubt, dass sie so etwas niemals übers Herz bringen könnte. Darwin und Niki hatten ihre Überzeugungen in vielfacher Hinsicht verändert.

»Danke, lieber Gott«, flüsterte sie.

Sie hatte das Gefühl, als wäre die Welt um sie ein wenig wärmer geworden. Ihre Angst, Niki im Haus vorzufinden, wo sie schon auf sie wartete, ihre Angst, dass diese süchtige Frau hinter einem Baum hervorspringen könnte oder aus einer dunklen Ecke, war verflogen. Sie hätte sich am liebsten auf den Boden sinken lassen, um vor Erleichterung zu schluchzen, aber sie entschied sich dann, doch lieber nur tief durchzuatmen. Es war zu früh, um den Sieg zu verkünden, denn schließlich waren Gabriel und sie noch nicht im Hause und frei. Sie mussten weiter den Kampf mit dem Eis aufnehmen, und das Eis konnte man nicht beeinflussen. Das Eis war real, und sie mussten sich ihm stellen.

»Vorwärts«, sagte Gabriel, »schauen wir, dass wir in die Wärme kommen.«

Er legte wieder einen Arm um sie, hielt sie in der Senkrechten, während er sie immer weiter antrieb. Ohne seine Hilfe hätte sie sich nicht zu bewegen vermocht. Die ersten paar Schritte waren eine Übung in Sachen Schmerz und fehlender Koordination; sie konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie an Ort und Stelle festgefroren, als könnte sie nichts anderes tun, als einfach nur stehen zu bleiben. Sie spürte, wie Gabriel an ihrer Seite heftig zitterte. Er war in einem besseren Zustand als sie, aber das hatte nicht viel zu sagen.

»Soll ich dich tragen?«, fragte er.

Sie war entsetzt über den Vorschlag. Er konnte kaum gehen, und da dachte er, er könnte sie tragen? »Nein, ich komme schon klar«, erwiderte sie.

Er ließ einen barschen Laut hören, der besagte, dass er ihre Einschätzung nicht teilte, aber er hob sie dann doch nicht einfach hoch, um sie sich über die Schulter zu werfen.

In völliger Dunkelheit, nur mithilfe der schwach leuchtenden Taschenlampe, deren Schein ihnen den Weg wies, kämpften sie sich vorsichtig über den vereisten Hof. Die Entfernung, die ihnen nie übermäßig weit vorgekommen war, schien jetzt fast nicht zu bewältigen, aber sie schleppten sich dahin, und jeder Zentimeter, den sie schafften, wurde mit Agonie bezahlt. Schließlich konnte Lolly schwach das dunkel vor ihr aufragende Haus ausmachen, und erst in dem Moment glaubte sie, dass sie es wahrhaftig schaffen würden.

»Tut mir leid«, sagte sie sanft, unsicher, ob Gabriel sie bei diesem heulenden Sturm überhaupt hören konnte.

Er blickte zu ihr hinunter. »Was tut dir leid?«, fragte er sachlich, während sie die letzten paar Meter zurücklegten – um den mit einer Eisschicht bedeckten Mercedes herum.

Die Treppenstufen ragten wie der Mount Everest vor ihnen auf. Lolly war sich ehrlich nicht sicher, ob sie sie erklimmen konnte. »Es tut mir leid, dass du in dieses Schlamassel hineingeraten bist. Es tut mir leid, dass du diesen Mann hast umbringen müssen. Es tut mir leid, dass du hier mit mir festsitzt, da ich doch weiß, dass du viel lieber bei deinen Eltern zu Hause wärst – mit deinem Sohn.«

»Du weißt von Sam?«, fragte er überrascht. Seine Stimme klang atemlos. Irgendwie hatte er nicht erwartet, dass sie etwas über sein Leben wusste, nachdem er die Highschool abgeschlossen und zum Militär gegangen war.

»Ich habe mich über die Neuigkeiten hier auf dem Laufenden gehalten.«

Sie erreichten die Treppe, und Gabriel packte das Geländer mit der linken Hand. Mit seinem rechten Arm umfasste er Lolly fester und hievte sie fast die Stufen hinauf, vor Schmerz aufstöhnend. Dann standen sie auf der Veranda, doch der heulende Sturm ließ noch immer den Regen auf sie einprasseln, es war also nicht viel gewonnen.

»Es tut mir nicht leid«, sagte er, wobei er sie freigab, um sich nach vorne zu beugen und Atem zu schöpfen, Kräfte zu sammeln.

Lolly umklammerte mit einem Arm eine Säule und zwang sich, auf den Beinen zu bleiben. »Das nehme ich dir nicht ab.« Sie schaffte es sogar, ein glaubwürdiges Schnauben von sich zu geben.

»Im Ernst, Lollipop, meinst du, ich wäre froh, mit meinem Sohn in einem schönen warmen Haus zu sitzen, eine Suppe zu essen und am Kamin Kaffee zu trinken, wenn ich mich mit dir hier oben zu Tode frieren kann, während wir vor zwei durchgeknallten Meth-Süchtigen davonrennen? Was ist mit deiner Abenteuerlust?«

»Die habe ich nie gehabt«, sagte sie und lachte plötzlich schallend – fast hysterisch. Sie war wackelig auf den Beinen, und sie wusste nicht recht, wie lange sie sich noch aufrecht halten konnte, aber was er da soeben von sich gegeben hatte, war das Witzigste, was sie je gehört hatte. »Und sag nicht Lollipop zu mir.« Wenn er schon alles über sie vergessen hatte, warum nicht diesen dämlichen Spitznamen?

»Lollipop«, erwiderte er prompt, wie schon damals in der Highschool. Er richtete sich auf, keuchte ob der Anstrengung und fügte hinzu: »Wir sind ganz schön blöd, hier draußen herumzustehen. Gehen wir rein.«

»Leichter gesagt als getan«, erwiderte sie, und da gaben plötzlich ihre Beine nach, und sie stürzte zu Boden.

»Verdammt, jetzt lass mich bloß nicht im letzten Moment im Stich, Lollipop«, knurrte er, als er in Richtung Tür schwankte. »Ich hab dich nicht den ganzen Weg hier heraufgezerrt, damit du mir jetzt auf der Veranda erfrierst.«

Es machte ihr Angst, dass diese Überlegung gar nicht so weit hergeholt war. Es wäre so simpel, sich einfach auf der Veranda zusammenzurollen und zu entspannen, aber sie wusste, wenn sie das tat, würde sie es nie mehr bis ins Haus hineinschaffen. Furcht veranlasste sie, auf alle viere zu gehen, aber das war es auch schon: Weiter kam sie nicht; sie konnte nicht aufstehen. Sie begann, in Richtung Tür zu kriechen.

»Schau, dass du die Tür aufkriegst, Rambo«, keuchte sie, »dann schaffe ich das letzte Stück auch noch.«

Am Waldrand ertönte ein schrecklicher Knall wie ein Gewehrschuss, und ein zwei Meter hoher Baum knickte unten am Stamm ab; er krachte mit einer solchen Wucht zu Boden, dass die Welt erschüttert zu werden schien. Sie beide erstarrten eine Sekunde, dann fingerte Gabriel wieder am Türknauf herum, und Lolly kroch unbeholfen langsam weiter.

Sie hätte diese Nacht nie überlebt, wenn Gabriel nicht gewesen wäre. Sie wäre schon tot, erschossen oder erfroren oder von einem eisbedeckten Baum erschlagen. Sie wäre eines gewaltsamen Todes gestorben, hätte ihre letzten paar Stunden in panischer Angst und mit Schmerzen verbracht – mit den letzten Gedanken an diesen schrecklichen Mann, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen, und es fast auch geschafft hätte. Doch kaum war die Gefahr vorbei, da fingen sie beide auch schon an, sich zu kabbeln. Es war nicht zu glauben. Manche Dinge änderten sich nie. Das Gefühl, wenn sie sich zankten, hatte sich allerdings sehr wohl verändert. Sie war nicht verärgert, nicht beunruhigt. Sich mit Gabriel zu streiten hatte etwas Angenehmes – fast wie heimkommen.

Heim. Sie war jetzt wirklich daheim. Sie musste nur noch ins Haus hineingehen, dann war sie in Sicherheit. Sie zitterte nicht mehr, schon seit … Ja, wie lange eigentlich schon nicht mehr? Da sie in Maine geboren war, wusste Lolly, dass das kein gutes Zeichen war. Sie konnte noch denken, litt nicht an Desorientierung, die oft mit einer schlimmen Unterkühlung einherging, und so dachte sie, es sei alles in Ordnung mit ihr. Aber dennoch: Wenn ihr Denkvermögen beeinträchtigt wäre, würde sie das überhaupt bemerken?

Gabriel versuchte, die Tür zu öffnen, konnte mit seinen vereisten Handschuhen jedoch den Türgriff nicht fassen. Er fluchte still vor sich hin, zog sich mit den Zähnen den Handschuh herunter. Der Türknauf drehte sich, und die Tür schwang auf zu einem Hort der Wärme und Geborgenheit. Er wandte sich um, packte Lolly am Arm und zerrte sie über die Schwelle so weit ins Haus, dass er die Tür wieder zuschieben konnte. Lolly ließ sich seitlich auf den Boden fallen, und auch seine Beine hatten keine Kraft mehr, er fiel neben ihr nieder. Er fluchte noch mehr, rappelte sich auf Hände und Knie, dann umfasste er den Treppenpfosten und zog sich hoch, bis er halbwegs zum Stehen kam. Lolly schloss die Augen. Sie wollte einfach nur hier auf dem Boden liegen bleiben …

»Steh auf«, sagte Gabriel mit barschem Befehlston.

Sie öffnete einen Spalt die Augenlider. »Ich will nicht aufstehen.«

»Wie schade.«

Er fuhr sich unbeholfen mit der Hand über den Kopf, aus seinem Haar sprühten winzige Eiskristalle. Er legte Jacke und Handschuhe ab, beugte sich dann nach unten und packte sie wieder am Arm. Da sie nicht auf die Beine kam, schleifte er sie bis zur ersten Treppenstufe.

»Ich brauche bloß eine Minute …«, setzte Lolly an.

»Du musst trocken werden und dich aufwärmen«, erklärte er, wobei er an der obersten Schicht Kleidung herumnestelte. Er riss ihr den Poncho herunter, dass die Eiskristalle abgesprengt wurden, auf den Boden und auf einen Tisch in der Nähe fielen, wo sie sofort schmolzen.

»Lass mich in Ruhe«, sagte sie mürrisch und gab ihm einen Klaps auf die Hand. »Wir sind jetzt im Haus. Lass mich bloß noch eine kleine Weile rasten.«

»Erst wenn du dich aufgewärmt hast.«

Er fuhr fort, sie aus ihren Klamotten zu schälen, und sie ließ ihn machen. Ein Teil von ihr wollte kämpfen, rein aus Prinzip, aber sie war zu müde, und es fiel ihr so schwer, sich zu bewegen, dass es ihr unmöglich war, gegen ihn anzugehen. Er zog sie auf die Beine, und sie schloss die Augen und stand da – schwankend. Es war herrlich, der Kälte entronnen zu sein, dem Eis. Sie konnte die Wärme spüren, die sie umgab – die restliche Wärme, die noch verblieben war, bevor dann der Strom ausgefallen war. Aber sie konnte sie wirklich spüren.

»Mach die Augen auf, Lollipop«, herrschte Gabriel sie an.

Mit einiger Mühe öffnete sie ihre Lider und schaute ihn mürrisch an. »Warum kann ich nicht einfach bloß schlafen?«

Im Licht der Taschenlampe – er hatte sie so auf dem Boden platziert, dass sie nach oben leuchtete, wo sie von der Decke reflektiert wurde – sah sie die Sorge in seinem Gesicht, den Ärger. »Noch nicht.«

Und mit einem Mal wusste sie, was er da machte, weshalb er sie Lollipop nannte, fast schon Streit suchte. Er versuchte, sie zu verärgern, um sie am Leben zu halten!

Gerührt spürte sie, wie ihr Inneres weich wurde wie Mus, und sie griff nach oben und legte ihm ihre kalte Hand an die raue Wange. »Tut mir leid, dass ich dich angeblafft habe«, sagte sie.

»Du hast mich angeblafft? Ist mir gar nicht aufgefallen. Du bist wohl aus der Übung. Jetzt hör mit deinen Entschuldigungen auf und schau, dass du aus diesen Klamotten rauskommst«, befahl er ihr. »Und zwar aus allen.«