13

 

Gabriel lehnte seinen Kopf an die Couch und schloss die Augen. Noch nie hatte Nudelsuppe mit Hähnchen aus der Dose so gut geschmeckt. Das einfache Vergnügen, nicht in der Kälte draußen zu sein, ein Kaminfeuer zu haben, zu wissen, dass er und Lolly in dieser Nacht in Sicherheit waren – das war ein wundervolles Gefühl.

Der mit Gas betriebene Kamin knisterte nicht wie ein Holzofen, aber dafür musste man sich auch keine Gedanken wegen des Nachlegens der Holzscheite machen – der Handel schien ihm fair. Lolly wusste nicht genau, wie viel Propangas noch im Tank war, hatte ihm jedoch mitgeteilt, dass er seit geraumer Zeit nicht gewartet worden war. Ihrer Einschätzung nach würde das Gas noch eine Weile ausreichen, und somit müssten sie diese Nacht gut klarkommen. Noch ein paar Stunden – mehr war nicht erforderlich.

»Erzähl mir von deinem Sohn.«

Lolly schmiegte sich an ihn. Ihr Körper war endlich wieder warm – und bekleidet. Das war so ein gutes Gefühl. Ein toter Junkie auf der rückwärtigen Veranda und ein zweiter im Wald, und einen beschwerlichen Fußmarsch hatten sie auch noch vor sich – da war es irgendwie fatal, von einem guten Gefühl zu sprechen. Aber sie mussten die Situation genießen, solange sie konnten.

»Was möchtest du gern wissen?«

»Sieht er dir ähnlich oder seiner Mutter? Mag er Baseball oder Kunst oder Musik? Ist er ein ruhiges Kind oder lebhaft?« Ihr Kopf ruhte behaglich an seiner Schulter. »Ist es hart für dich, dass er so weit weg wohnt?« Die letzte Frage kam nach einem kurzen Zögern in ihrer Stimme, als wüsste sie nicht recht, ob man so etwas überhaupt fragen durfte.

Gabriel hatte nie etwas dagegen, über Sam zu sprechen. Es gab Zeiten, da war ihm klar geworden, dass er zu viel geredet hatte, dass er seine Zuhörer gelangweilt hatte – wenngleich die meisten zu höflich waren, dies auch zu sagen. Da Lolly die Frage gestellt hatte, antwortete er nur zu gern.

»Sam sieht aus wie ich, aber die Augen hat er von Mariane. Er ist für sein Alter nicht groß, aber auch wieder nicht zu klein. Er ist ganz klar ein Baseballfan – und ein Basketballfan. Ob du es glaubst oder nicht, aber er ist das reinste Mathegenie. Nun, ein Genie für einen Siebenjährigen, natürlich. Ich weiß nicht recht, von wem er das hat, da Mathe in der Schule nicht mein bestes Fach war, und Mariane ist schon durchgedreht, wenn sie unsere monatlichen Ausgaben addieren musste.« Es kam ihm seltsam vor, von seiner verstorbenen Frau zu reden, ohne wie sonst von einer Woge des Kummers erfasst zu werden. Seltsam, aber gut. »Ruhig ist er sicher nicht. Hast du schon einmal eine gute Weile mit einem Siebenjährigen verbracht?«

»Nein«, sagte sie sanft.

»Na ja, sie sind Energiebündel, und mein Sam macht da keine Ausnahme. Bei ihm läuft alles mit Volldampf voran – außer er schläft.« Gabriel atmete tief ein, bevor er fortfuhr: »Und dass er so weit von mir weg wohnt, ist mehr als hart für mich, es ist die reinste Tortur.«

Er hörte sich plötzlich erklären, wie Marianes Eltern versucht hatten, ihm nach dem Tod ihrer Tochter zu helfen, wie sein Schwiegervater nach Texas versetzt worden war, und wie er sich bemüht hatte, eine andere Arbeit zu finden, eine, die es ihm erlaubte, näher bei Frau und Enkel zu sein; aber letztendlich hatte er keine andere Wahl gehabt, als umzuziehen. Umzug oder Arbeitslosigkeit, so einfach war das. Gabriel erzählte Lolly, wie er versucht hatte, als alleinerziehender Vater alles auf die Reihe zu kriegen, etwas, wovon er zuvor noch nie jemandem gegenüber ein Wort hatte verlauten lassen, nicht einmal seinen eigenen Eltern gegenüber.

»Babysitter, Nachbarn, Marianes Freunde, die Ehefrauen meiner Freunde … alle taten, was sie nur konnten, um zu helfen, aber letztendlich war mein Einsatzplan so unregelmäßig, dass er zum Problem wurde. Sam fehlte es an Kontinuität. Er wusste nie, wo ich war, wer auf ihn aufpassen würde, wann ich Nachtschicht hatte oder plötzlich wegbeordert wurde. Hier hat er diese Sicherheit. Er weiß, wo er in der Nacht schlafen wird.«

»Der Preis ist allerdings hoch«, sagte Lolly. »Für euch beide.«

Er hatte sich eingeredet, die Situation sei nur vorübergehend – er würde ein Kindermädchen finden, das er sich leisten konnte, damit sein Sohn die Nacht zu Hause verbringen konnte. Aber mit jeder Woche, die verging, nahm seine Angst zu, dass er nie in der Lage wäre, eine angemessene Lösung zu finden. Er war Sergeant in der Armee, und wenn er auch anständig verdiente, so war es doch nicht genug, um jemandem an die zwanzig Riesen pro Jahr hinzublättern, ein Betrag, der für eine Vollzeitkinderbetreuung das Minimum war.

Er wollte nicht, dass sein Sohn mit einem abwesenden Vater aufwuchs, der zu Besuch kam, wenn es ihm möglich war, doch er sah keinen Ausweg, zumindest momentan nicht. Sams Großeltern waren praktisch seine Eltern, und sein Vater war so eine Art gelegentlicher Gast, der den Alltagstrott unterbrach. Lolly hatte recht; er zahlte einen hohen Preis, um seinem Sohn ein beständiges Leben bieten zu können.

»Wir bemühen uns, dass alles so klappt«, sagte er. »Was für Sam am besten ist, das tun wir.« Er wollte unbedingt das Thema wechseln. »Was ist mir dir? Verheiratet, verlobt, geschieden …?«

»Nichts von alledem. Ich treffe mich gelegentlich mal mit einem Mann, habe aber seit Langem nichts Ernstes.«

»Warum nicht?«

Sie war hübsch, intelligent, und nach dem, was in der Dusche passiert war, zu schließen, war sie wirklich eine heiße Nummer. Sie hatte ihn überrascht, aber eigentlich hatte ihn so ziemlich alles überrascht, was sie getan hatte, seitdem er ein paar Stunden zuvor diese wackelige Leiter hinaufgeklettert war. Wer hätte gedacht, dass er Lolly Helton je bewundern würde? Sie war vom ersten Augenblick an fehl am Platz gewesen, aber sie hatte sich durchgebissen und war ihm sogar zu Hilfe gekommen – sowohl bei seinem Zweikampf mit Darwin als auch mit Niki. Ihre innere Stärke, vor allem wegen dem, was mit Niki passiert war, ließ ihn tiefen Respekt empfinden. Es war ihr sicher nicht leichtgefallen, aber sie hatte getan, was notwendig war, ohne zusammenzuklappen.

Er mochte sich allerdings nicht eingestehen, dass er weniger von ihr erwartet hatte, denn eines wollte er keinesfalls: Ihre Gefühle verletzen oder auf ihre negative Seite zu sprechen kommen. Zu seiner Überraschung hatte er sie verdammt gern, mochte alles, was er in dieser Nacht von ihr kennengelernt hatte.

»Vielleicht bin ich zu wählerisch.« Ihre Antwort lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frage, die er gestellt hatte. Sie seufzte. »Vielleicht habe ich auch nur kein Glück. Ich weiß nicht. Die Antwort lautet ganz schlicht und ergreifend, dass es bei mir nie geklappt hat.« Und weicher fügte sie hinzu: »Das mit der Liebe, meine ich. Ich habe bestimmte Erwartungen, und ich will mich nicht mit dem nächstbesten halbwegs anständigen Mann einlassen, nur weil ich jetzt schon dreißig bin und langsam Torschlusspanik bekomme.«

Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Lolly von früher, aber auch nicht die Frau, die er am heutigen Abend kennengelernt hatte, sich um jeden Preis einen Mann angeln wollte. Sie hatte eine prekäre Situation durchgestanden, ohne die Nerven zu verlieren, und auch wenn sie sich jetzt so an ihn lehnte – im wahrsten Sinn des Wortes, aber auch im übertragenen Sinn –, war sie weit davon entfernt, fragil und schutzbedürftig zu wirken.

Und er würde nie das Bild vergessen, wie sie hinter Niki hergerannt war, ihm zu Hilfe gekommen war, obwohl die Angst sie fast um den Verstand brachte – und noch dazu nackt.

»Was ist mit dir?«, fragte sie, als hätte sie gerade einen Geistesblitz gehabt. »Ist seit dem Tod von Mariane eine andere Frau in dein Leben getreten?«

Er vernahm einen Anflug von Unbehagen in ihrer Stimme, da sie sich wohl fragte, ob sie mit einem Mann Sex gehabt hatte, der anderweitig gebunden war.

»Nein.«

Lolly rechnete bestimmt nicht damit, dass ihre Erleichterung für ihn so offensichtlich war. Doch ihr Seufzer und die Art, wie ihr Körper sich plötzlich entspannte, sprachen Bände. Somit war sie also hübsch, intelligent, nicht auf Männerfang – und sie hatte Moral. Andernfalls hätte der Gedanke, dass sie spontan Sex mit einem Mann gehabt hatte, der anderweitig gebunden war, sie absolut nicht gekümmert.

»War es dir ernst mit dem, was du vorhin gesagt hast?«, fragte sie. »Dass du gern mit mir ausgehen würdest, wenn du Heimurlaub hast und ich hier in der Gegend wohnen würde?«

»Sonst hätte ich es ja wohl nicht gesagt. Warum? Würdest du denn Ja sagen?«

»Vielleicht. Aber nur, wenn du mir versprichst, dass unser zweites Date nicht so aufregend wird wie das erste.«

Er lachte, was ihn ebenso überraschte wie sie. Diese Nacht war nicht gerade zum Lachen – jedenfalls nicht bis jetzt. »Ist das jetzt ein Date?«

»Du hast mich nackt gesehen und mir was zum Abendessen gemacht.« In ihrer Stimme lag ein Anflug von Humor. »Hört sich nach einem Date an.«

Gabriel hatte sich immer wieder einmal überlegt, wie sich seine erste Verabredung nach dem Tod von Mariane gestalten würde, ob er je die richtige Frau finden würde – und den Mut hätte, einen Schritt weiter zu gehen. Aber so etwas wie jetzt, das hatte er sich wirklich nie und nimmer vorgestellt – nicht, dass ausgerechnet Lolly Helton auf ihn zum ersten Mal nach drei Jahren eine physische und emotionale Anziehung ausüben würde. Er wollte noch einmal Sex mit ihr haben, er wollte mit ihr ganz alltägliche Dinge teilen, er wollte herausfinden, was sie zum Lachen brachte, was sie weinen ließ, welche Farben ihr gefielen, welche Blumen sie am liebsten mochte. Lolly löste in ihm das Gefühl aus, dass es da draußen wieder ein reales Leben geben könnte, ein Leben, das erfüllt war und normal zugleich. So ein Leben hatte er mit Mariane geführt, und ihr plötzlicher Tod hatte in ihm so eine Leere hinterlassen, dass nur Sam ihm Kraft zum Weiterleben gegeben hatte.

Er und Lolly hatten miteinander ein paar sehr stressige Stunden durchgestanden, die ein erheblich intensiveres Gefühl von Vertrautheit, von Verbindung schufen, als wenn sie sich unter normalen Umständen kennengelernt hätten. Aber hätten sie einander unter »normalen Umständen« überhaupt eine Chance gegeben? War eine Krise erforderlich gewesen, damit sie einander sehen konnten, wie sie jetzt waren und nicht wie damals vor fünfzehn Jahren?

Eine Verbindung war ganz eindeutig da, und plötzlich empfand er das Versprechen, das die Zukunft barg, und nicht den Verlust in seiner Vergangenheit. Sie mussten behutsam vorgehen, sich selbst und auch Sam Zeit geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen, sich Zeit nehmen zu prüfen, ob sie miteinander auf die Dauer wirklich klarkamen, anstatt etwas zu übereilen und womöglich einen Fehler zu machen, der Sam dann nur noch mehr aufwühlen würde.

Aber sie hatten Zeit. Er lächelte, wenn er daran dachte, wie viel Spaß sie miteinander haben würden.

Lolly tat ihr Bestes, um zu vergessen, was an diesem Tag geschehen war, und sie verdrängte auch ihre Sorgen über das Morgen aus ihrem Denken. Der Wind hatte aufgehört zu heulen, und Eisregen prasselte auch nicht mehr ans Fenster. Aber die Straßen waren noch immer vereist, und gelegentlich hörte sie auch, wie ein Baum oder dicker Ast mit einem lauten Knall zu Boden stürzte. Es ließ sich nicht sagen, was sie und Gabriel am kommenden Morgen erwarten würde, wenn sie aus der Tür traten, um sich nach Wilson Creek auf den Weg in die Sicherheit zu machen.

Momentan war sie glücklich, im Haus zu sein, in der Wärme und in Gabriels sicherer Umarmung.

Als junges Mädchen war sie so in ihn verknallt gewesen – und total verärgert, weil er ihre zarten Gefühle nicht erwiderte, sie nicht einmal zu bemerken schien. Rückblickend wurde ihr nun klar, dass er gar nicht hatte ahnen können, was sie für ihn empfand. Sie hatte es ihm nicht gesagt, und jemand anderem auch nicht. Sie hatte nicht einmal einen Blick in seine Richtung geworfen, außer er brach einen Streit mit ihr vom Zaun, auf den sie dann reagierte. Mit fünfzehn hatte sie nicht so logisch denken können. Aber ehrlich gesagt: Welche Fünfzehnjährige war schon mit Fragen der Logik vertraut?

Ein Mann, der mit solcher Liebe von seinem Sohn sprach, der alles opferte, damit sein Junge ein fröhliches, gesichertes Zuhause hatte, so ein Mann hatte etwas überaus Anziehendes. Sie machte sich nicht so viele Sorgen über den langen Fußmarsch am nächsten Tag in die Stadt, denn sie wusste, dass Gabriel nicht nur alles Menschenmögliche tun würde, um sie beide rasch nach Wilson Creek zu bringen, sondern dass er auch wild entschlossen war, sie sicher hinzubringen – und wenn nicht ihretwegen, dann eben um seines Sohnes willen.

Müdigkeit überfiel sie immer stärker. Sie konnte fühlen, wie ihr langsam die Sinne schwanden, angenehm, sicher. Aber noch war sie nicht bereit, sich dem Schlaf hinzugeben.

»Ich werde voraussichtlich in den nächsten paar Monaten ein- oder zweimal nach Wilson Creek kommen«, sagte sie sanft. »Selbst wenn ich jemanden anstelle, der mir die Sachen im Haus zusammenpackt, muss ich Dokumente unterzeichnen, damit das Haus zum Verkauf angeboten werden kann; und wenn es dann einen Käufer findet, muss ich herkommen, um mich um die Formalitäten zu kümmern.« Sie war sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie das alles auch von Portland aus regeln konnte, aber … vielleicht wollte sie das gar nicht.

»Ich will versuchen, alle zwei Monate zu kommen«, sagte Gabriel beiläufig. »Manchmal bin ich bloß für ein paar Tage da, aber ich muss Sam sehen, wenn sich mir eine Gelegenheit dazu bietet.«

Puh. Dieses ganze Gerede über ein Treffen war nichts als eine Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen, oder vielleicht auch ein Versuch, sie die Ereignisse des heutigen Abends vergessen zu lassen. Als Gabriel nach Wilson Creek gekommen war, wollte er mit seiner Familie zusammen sein, und zwar vor allem mit seinem Sohn, nicht mit einem Mädchen von seiner ehemaligen Highschool, an das er sich kaum mehr erinnern konnte.

Doch dann fügte er hinzu: »Du solltest Sam kennenlernen. Wenn es wärmer wird, könnten wir mal zum Angeln gehen.« Da sie nicht sofort reagierte, ergänzte er: »Du angelst doch, oder?«

»Ich bin weltklasse, wenn es darum geht, in den Kühlschrank zu greifen und ein paar Fischfilets herauszuholen«, sagte sie lächelnd. »Aber ich könnte es ja wohl lernen. Soviel ich gesehen habe, ist es nicht sonderlich kompliziert.«

Sie versuchte, sich einen warmen Sommertag vorzustellen, den See, sie drei, wie sie angelten und vielleicht auf einer großen Karodecke Picknick machten … Und brachte es nicht fertig. Das Bild, das sie vor ihrem geistigen Auge zu schaffen versuchte, wollte sich irgendwie nicht zusammensetzen.

Sie gehörte nicht dazu. Lolly wurde klar, dass sie nicht mit ins Bild passte – nie dazupassen würde. Dennoch war es eine schöne Illusion, eine angenehme Möglichkeit, die Realität eine Weile beiseitezuschieben.

»Ich kann irre gute Schokokekse backen und teuflisch guten Nudelsalat machen.«

Sie schloss die Augen, und einen Moment lang war sie da, gehörte mit ins Bild. Vielleicht war es ja nicht real, vielleicht würde es nie Realität werden, aber während sie in den Schlaf dämmerte, verhedderte sie sich in dieser Vorstellung, dann übermannte sie die Müdigkeit, und sie tauchte schnell und tief ab.

Das Eis auf den Bäumen glitzerte wie Diamanten im Sonnenlicht, und der Himmel strahlte in reinem, frischem Blau. Die Szenerie wäre atemberaubend schön, ging es Lolly durch den Kopf, würde man sie durchs Fenster mit einem knisternden Kaminfeuer hinter sich betrachten. Doch sie war Bestandteil dieses Bildes, zu dem kalte Luft, ein glatter Boden unter ihren Füßen und zu allem Überfluss umgestürzte Bäume und abgebrochene Äste gehörten, die im Weg lagen – als wäre der Abstieg auf dieser Eisplatte nicht schon Herausforderung genug.

Da sie nicht wusste, wann sie in der Lage wäre, zurückzukommen, hatte Lolly sich alles, was sie brauchte, in die Taschen gestopft. Schlüssel, Führerschein, Bargeld, Kreditkarten und ihr Handy, das zu gar nichts taugte, bis sie die Schnellstraße erreichten. Alles andere hatte sie im Haus gelassen. Sie hatte keine Ahnung, wann sie ihren Mercedes abholen konnte. Womöglich musste sie sich eine andere Transportmöglichkeit nach Portland einfallen lassen und das Auto dann später abholen kommen, wenn die Straßen frei waren. Alles hing davon ab, wie übel die Situation sich in der Stadt gestaltete und wie der Zustand der Straßen den Berg hinauf waren.

Zumindest entsprach ihre Kleidung aber den Wetterverhältnissen besser. Sie hatte ihren eigenen dicken Mantel mit Kapuze an, ihre Stiefel, ihre Handschuhe. Die Sonne schien, und sie konnten sehen, wohin sie gingen. Zumindest waren keine mörderischen Junkies hinter ihnen her. Alles in allem gestaltete sich an diesem Morgen alles erheblich besser als am Abend zuvor, obwohl die Luft noch so eisig war, dass sie kaum atmen konnte und sich Nase und Mund mit ihrem Schal zudecken musste. Da die Sonne auf dem Eis arg blendete, trugen sie und Gabriel eine Sonnenbrille. Verglichen mit der vergangenen Nacht war dies ein Spaziergang im Park. Ja sicher, kalt war es schon, aber es wehte kein schneidender Wind, es regnete nicht. Nur die Hinterlassenschaften des Sturms waren noch vorhanden – die umgestürzten Bäume, der vereiste Boden, die eisige Luft.

Die Bäume trugen noch immer schwer an der Last des Eises, das würde sie bei ihrem Abstieg am meisten behindern. Sie hatten kaum das Haus verlassen, da hörten sie auch schon das vertraute Knacken, gefolgt von einem Knall. Gabriels Kopf hatte sich bei dem Geräusch in Windeseile gedreht, und er hielt inne, lauschte, als wäre er in der Lage zu sagen, wo dieser Baum sich befand, wie nah er war. Der Baum war in der Ferne umgestürzt, in den Wäldern, die Lollys Elternhaus umgaben, doch irgendwie hatte das etwas von einer Warnung. Sie konnten nicht von diesem Berg absteigen, ohne sich unter den Bäumen fortzubewegen. Das Eis schmolz noch nicht, dazu war die Luft noch zu kalt, und somit konnte jeder Baum jeden Moment umstürzen. Sie mussten ununterbrochen auf der Hut sein vor den durch die Last des Eises geschwächten Ästen über sich.

Dieses Abenteuer war noch nicht ausgestanden, noch lange nicht.

Gabriel hielt sich nah bei ihr, entweder direkt neben ihr oder unmittelbar vor ihr, je nachdem, wie breit der mit Gras bewachsene Seitenstreifen neben der Zufahrtsstraße war, auf dem sie dahinstapften, und wie dicht die Vegetation. Auch wenn er nicht viel sagte, mussten Gabriel die umstürzenden Bäume ebensolche Sorgen bereiten wie ihr. Deshalb warf er oft einen Blick nach oben und folgte, wenn möglich, einem Pfad, der nicht direkt unter den überhängenden Ästen verlief.

Sie hatten die Zufahrtsstraße zur Hälfte nach unten geschafft, als sie zu einem gesplitterten, vereisten Baum kamen, der tückisch über den Weg gestürzt war. Gabriel schwang sich auf den Stamm und reichte Lolly die Hand, um ihr darüber hinwegzuhelfen. Es war ja schon schwierig, auf dem vereisten Boden voranzukommen, aber sich über Hindernisse zu kämpfen, machte ihnen das Leben noch schwerer. Hätten sie ausreichend Lebensmittel und Propangas gehabt, wären sie im Haus besser aufgehoben gewesen, bis Hilfe kam. Das war zumindest Lollys Meinung. Gabriel hatte ja vielleicht andere Vorstellungen, denn schließlich hatte er seinen Sohn allein gelassen, um ihr zu Hilfe zu kommen, und nun wollte er natürlich unbedingt nach Hause.

Wandern war nicht ihr Ding. Sie mochte Sport überhaupt nicht, sah man einmal von der Bewunderung ab, die sie der Kondition von Berufssportlern entgegenbrachte; jedenfalls wusste sie einen knackigen Hintern zu würdigen, wenn ihr einer ins Auge stach. Sie fühlte sich wegen der zig Schichten Kleidung unbeholfen und plump, während Gabriel wie üblich sein virtuoses, schon fast ärgerlich perfektes Ego zur Schau stellte. Er war schon immer athletisch gewesen, und, ja, einen knackigen Hintern hatte er auch. Trüge er nicht seinen schweren alten Mantel, hätte sie wenigstens seine Physiognomie bewundern können. Gott sei Dank hatte er keine Ahnung, dass ihr sein Gesäß durch den Kopf spukte. Er ging einfach weiter, unerschütterlich und umsichtig, und gab den Weg selbstsicher vor.

Sie tat gar nichts selbstsicher, auch dann nicht, wenn nicht gerade zig Schichten Klamotten sie beeinträchtigten. Zumindest für den Fall, dass sie hinfiel, wäre sie gut gepolstert.

Gabriel sah toll aus. Attraktiv, muskulös … blaugrüne Augen mit tintenschwarzen Wimpern. Er war größer als damals in der Highschool, definitiv älter, aber seine Augen hatten sich gar nicht verändert. Lolly musste sich regelrecht zwingen, nicht zu sehr ins Schwärmen zu geraten. Sie versuchte, sich zur Vernunft zu rufen, klar zu denken. Er hatte ihr das Leben gerettet, und somit handelte es sich vermutlich um eine Art instinktive Anziehung, die absolut nichts mit ihrer Person zu tun hatte. Dazu kam die Tatsache, dass sie intim gewesen waren, dass er in ihr drin gewesen war, und somit konnte sie nichts anderes erwarten als diese totale Vernarrtheit.

Ach, das war ja wohl nicht ihr Ernst, oder? Sie war doch immer scharf auf ihn gewesen – nicht, dass sie in den letzten fünfzehn Jahren ständig nach ihm geschmachtet hätte, aber immerhin ausreichend, sodass beim Wiedersehen ihr altes Interesse sofort neu entflammt war.

Als sie den Baumstamm, der die Zufahrt blockierte, unbeschadet überwunden hatte, hielt Gabriel sie einen Moment länger fest als notwendig, wohl um sich zu vergewissern, dass sie auch richtig Halt auf dem Boden hatte – nun, sie hatte jedenfalls keine Eile, sich ihm zu entwinden.

»In meinem Ford habe ich Suppe und Kaffee«, erklärte er. »Wir legen dort eine kurze Pause ein, und wenn nicht gerade ein Baum das Auto demoliert hat, können wir uns reinsetzen und uns aufwärmen.«

Nach den vielen Stunden, die der Wagen da festsaß, hatte sie keine Hoffnung, dass die Suppe und der Kaffee noch warm waren, aber etwas zu essen war es dann doch, also nichts wie her damit. Die Müsliriegel würden mit Sicherheit nicht lang genug vorhalten.

»Gute Idee!«

Es war ein weiter Weg bis Wilson Creek, und in kleinen Etappen ließ sich die Strecke am besten bewerkstelligen. Bis ans Ende der Zufahrtsstraße. Bis zur Kurve, wo früher das Haus der Morrisons stand. Bis zum Hügel, wo der Wald unterbrochen war, wo sicher die Sonne schien. Bis zur Schnellstraße … Und von da ging’s dann wieder von vorne los, wenn sie zum Haus der McQueens marschierten.

Wo sie dann im wahrsten Sinne das fünfte Rad am Wagen war.

Nachdem sie problemlos ein paar Schritte gegangen war, rutschte Lolly plötzlich ohne jegliche Vorwarnung der rechte Fuß davon. Sie griff instinktiv nach einem der unteren Äste, doch als sie den dünnen, gefrorenen Zweig packte, knackste er einfach ab. Gabriel packte sie, damit sie nicht auf dem Hintern landete. Er umfasste sie fest und sicher, und sie gestattete es sich, einen Augenblick seine Körperwärme und seine massive Statur zu genießen. Gabriel McQueen war wie ein Fels. Wo wäre sie jetzt ohne ihn? Sie durfte ihre Gedanken nicht in diese Richtung abschweifen lassen.

Lolly klopfte das Herz, als sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie wusste, wie katastrophal ein Sturz wäre. Sie hatte einen Bluterguss und Prellungen. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, war, dass sie sich etwas brach oder den Knöchel verstauchte. Wenn sie es recht bedachte, war sie Gabriel eine Last …

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Als sie nickte, gab er sie frei, und sie marschierte weiter.

Einen Schritt nach dem anderen.

Gabriel hatte gewusst, dass der Abstieg hart würde; Stunde um Stunde galt es auf jeden Schritt zu achten, auf die Gefahren aufzupassen, die überall lauerten.

Nachdem sie im Ford eine Pause eingelegt hatten – es waren zum Glück keine Bäume auf den Wagen gestürzt –, etwas lauwarme Suppe gegessen, Kaffee getrunken und die wetterfeste Kappe mitgenommen hatten, machten er und Lolly sich wieder auf den Weg. Lolly murrte nicht, kein Wort der Klage war ihr über die Lippen gekommen, aber langsam fiel ihr das Atmen schwerer, und sie versuchte, ihre geprellte rechte Seite zu schonen.

Er nahm sie an der Hand, als sie zu einem Hügel gelangten, denn er wusste, dass es dahinter steil herunter- und dann wieder hinaufging. Sie mühten sich mit dem Aufstieg ab, achteten auf jeden Schritt, rangen um Atem und verschwendeten ihre wertvolle Energie nicht mit Sprechen.

Gabriel sagte sich immer, dass es schlimmer hätte kommen können. Verglichen mit anderen Bergen in der Gegend, war dieser hier klein – nicht einmal hoch genug, um anständig Ski fahren zu können. Manche würden ihn eher als großen Hügel bezeichnen. Der Abstieg war machbar, dafür konnten sie dankbar sein. Der Sturm hatte aufgehört. Wenn sie bei Wind und Regen unterwegs wären, würde der Fußmarsch zweimal so lange dauern und wäre zehnmal so gefährlich. Wenn er oder Lolly verletzt oder erschossen worden wären, dann hätten sie sich trennen müssen; der mobile von ihnen beiden hätte dann allein in die Stadt laufen müssen, um Hilfe zu holen, und den anderen sich selbst überlassen. Und wenn sie beide verletzt wären, dann …

Ob sein Dad sich dachte, dass er wegen des Sturms gestrandet, dass aber alles in Ordnung war? Oder machte er sich Sorgen und ließ nichts unversucht, um irgendwie diese Straße heraufzukommen? Lolly hatte gesagt, dass sie sich gerade fertig gemacht hatte, um sich bei den Richards einzuquartieren, als Darwin und Nikki einbrachen. Würde Mrs. Richard sich solche Sorgen machen, dass sie im Büro des Sheriffs anrief, um zu melden, dass Lolly nicht angekommen war? Oder würde sie einfach annehmen, dass der Sturm auf dem Berg oben es Lolly unmöglich gemacht hatte, wieder hinunterzufahren? Viele Möglichkeiten, und er konnte einfach nicht wissen, womit er zu rechnen hatte. Er musste weiterhin so tun, als wären er und Lolly ganz auf sich allein gestellt. Und das waren sie eigentlich ja auch, momentan jedenfalls.

Auf halber Höhe erwärmten ein paar Sonnenstrahlen den Boden. Die höhere Temperatur und das Licht waren eine willkommene Erleichterung – obwohl er wusste, dass sie nicht von Dauer waren. Wo die Sonne auf den Boden fiel, gestaltete sich das Fortkommen einfacher. Sie konnten sogar ein paar Schritte auf der Straße machen, wenn der Seitenstreifen schmal und zu nah am Abgrund verlief. Gabriel bemühte sich nicht, Lollys Hand loszulassen, wenn der Weg ein paar Schritte lang einmal nicht so glatt war.

»Nicht so übel, hm?«, fragte er.

Lolly war atemlos, als sie antwortete: »Sprich dich aus, McQueen!«

Er hätte sich gern umgedreht, um ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, um ihr zu sagen, dass sie super in der Zeit lagen, doch dann kam er oben auf dem Hügel an und sah, was sie noch vor sich hatten.

Auf der Straße lagen nicht bloß ein oder zwei umgestürzte Bäume, sondern einer hinter dem anderen – so weit das Auge reichte. Einige lagen vereinzelt, wobei die Fahrbahn auf beiden Seiten daneben zum Glück unbeschädigt war. Andere lagen kreuz und quer übereinander, ein Baumstamm und noch einer und noch ein weiterer … und blockierten ihnen den Weg. Über einige konnten sie klettern, wie zuvor über den auf der Zufahrtsstraße. Andere waren zu groß, oder die Äste waren zu verschlungen. Sie würden um einige dieser Hindernisse herumgehen, einen Umweg durch den Wald nehmen müssen, und somit wertvolle Zeit verlieren.

»Fick dich«, murmelte er.

»Soll’s gleich sein?«, witzelte Lolly, doch aus den Augenwinkeln sah er, wie sie sich in die Brust warf und das Kinn reckte. Sie schaute ein bisschen lächerlich aus, so aufgeplustert, wie sie war, aber sie wirkte auch stark. Und irgendwie erstaunlich. Sie holte tief Luft.

»Ich bin doch nicht Niki und Darwin entkommen und habe eine Hetzjagd durch diesen Eisregen und durch meine eigene Küche überlebt, bloß um dann hier aufzugeben«, erklärte sie. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich jetzt hier hinsetze und losheule, selbst wenn das mein erster Impuls ist.« Sie sah ihn an, und er bemerkte, dass ihr Tränen in den Augen standen. »Das wird ein langer Tag. Lenk mich ab.« Sie ging an den Straßenrand und begann mit dem Abstieg. »Du musst doch hunderte nette, lustige Geschichten über Sam auf Lager haben. Erzähl mir ein paar. Bring mich zum Lachen!«

Gabriel war nicht sonderlich zum Lachen zumute, aber der Gedanke an Sam, der wartete, dass sein Daddy nach Hause kam, trieb ihn an.