Clara in New York

Als sie an jenem Morgen durch den Central Park ging, wo unter einer fahlen Sonne der Wind in den Ästen voller Blattknospen pfiff und ihr Joggerinnen entgegenkamen, die in einer solchen Topform waren, dass sie geradewegs von den Olympischen Spielen gerannt zu kommen schienen, wurde Clara bewusst, dass viele andere von so einem Arbeitsaufenthalt in New York träumten, und sie ärgerte sich ein wenig, dass sie hier nicht glücklicher war.

Dabei sagte sie sich mehrmals pro Tag: »Ist es nicht traumhaft – ich bin in New York!« Für Clara (und viele andere Leute auch) war New York gleich Manhattan, jene Insel mit dem indianischen Namen, die schon vor vier Jahrhunderten die ersten holländischen Seefahrer bezaubert hatte, als sie vor ihnen am Horizont aufgeschimmert war; später dann sollte sie Millionen Menschen aus aller Welt bezaubern, oft arme Schlucker, die von einer besseren Zukunft träumten, und schließlich Generationen von Schriftstellern und Künstlern – und vielleicht ja auch Sie.

Also war Clara trotz alledem glücklich, in New York zu sein. Aber sie spürte auch, dass dieses Glück ein paar fiese Leckstellen hatte, die den allgemeinen Glückspegel senkten.

Zunächst einmal war die Aufgabe hier nicht so interessant, wie Clara gedacht hatte. Es ging vor allem darum, neue Verfahren zu entwickeln, die man hinterher in allen Filialen des Konzerns einführen konnte, also auch zu Hause in Frankreich. Und zu diesem Zweck gab es jede Menge Versammlungen und noch mehr weitergeleitete E-Mails. Zum Glück war Clara von den Kollegen hier sehr freundlich aufgenommen worden; sie hatte verstanden, dass sie in deren Augen die Repräsentantin ihres Landes war und damit auch für den Charme und den Chic stand, um den die ganze Welt die Franzosen beneidet, und weil Clara zu alledem auch noch so tüchtig war, wie man es von einer Deutschen oder einer Koreanerin erwartet hätte, mochten die Amerikaner sie sehr.

(Wir sagen ›Amerikaner‹, aber eigentlich war es ja New York, und dementsprechend war von den Leuten, die sich zu den Beratungen zusammensetzten, jeder Zweite nicht auf dieser Seite des Atlantiks geboren; auch sie kamen aus verschiedenen Weltgegenden, obgleich sie alle die Redeweise und die Arbeitsmethoden übernommen hatten, die in einem großen internationalen Unternehmen mit Sitz in Amerika üblich sind.)

Und die andere Leckstelle in Claras Glück war natürlich Hector oder vielmehr Hectors Abwesenheit.

Clara hatte genau gemerkt, was in letzter Zeit mit Hector los gewesen war, selbst wenn sie es nicht so gut hätte erklären können wie der alte François, und natürlich beunruhigte es sie.

Zwischendurch blitzte immer wieder das Bild von Hector und Ophélie vor ihren Augen auf, wie die beiden nebeneinander die Rue de Vaugirard entlangspazierten und so glücklich aussahen. Ophélie lachte über etwas, das Hector gerade gesagt hatte.

Natürlich hatte Clara Angst, dass Hector sich von ihr entfernen könnte – nicht allein wegen dieser speziellen jungen Frau, sondern dass er überhaupt sein Glück woanders finden würde, wie es bei Männern manchmal der Fall ist, wenn sie mitten in der Midlife-Crisis stecken. Und oft landen sie tatsächlich bei einer Jüngeren, einer taufrischen Bewunderin, die nichts davon weiß, wie es vor fünfundzwanzig Jahren mit Stammeln und Stolpern angefangen hatte.

Aber selbst wenn sie zusammenblieben – würde ihr Glück für die vielen kommenden Jahre ausreichen? Clara hatte durchaus mitbekommen, welche Anstrengungen Hector in letzter Zeit unternahm, um seinen Tag besser einzuteilen, besser zuzuhören und ihr gegenüber aufmerksamer zu sein. Aber es war ein bisschen wie mit einem Glück, auf das man zu lange hat warten müssen: Jetzt hatte sie das Gefühl, dass es ihr nicht mehr so viel bedeutete.

Es war, als wäre Hectors Aufmerksamkeit zu einer Währung geworden, die nicht mehr ganz so viel wert war wie früher. Wenn das Bild von Hector und Ophélie wieder vor Claras Augen stand, ließ das den Kurs natürlich hochschnellen, aber es war nur flüchtig. Wenn sie die Angst, Hector zu verlieren, brauchte, um ihn als Ehemann noch richtig schätzen zu können, war das nicht gerade erfreulich – und vor allem ein Beweis dafür, dass etwas in ihrer Beziehung nicht mehr stimmte. Sie konnte schließlich nicht zu Hector sagen: »Los, mach mich eifersüchtig, das wird unserer Liebe guttun!«

Schon dass sie sich solche Fragen stellte, beunruhigte Clara. Ihre Kinder waren erwachsen, sie brauchten die Eltern nicht mehr (oder zumindest fast nicht), und ein weiteres Zusammenleben lohnte sich nur noch, wenn Hector und Clara es alle beide wirklich wollten.

Clara war noch jung genug, um überzeugt zu sein, dass Liebe mehr zählt als Gewohnheit oder Bequemlichkeit. Sie war nicht mehr richtig jung, aber auch noch nicht alt, und vielleicht waren dies jetzt die letzten Jahre, in denen sie noch ein neues Leben ins Auge fassen konnte?

Aber wenn Hector nun schneller wäre mit dem neuen Leben?

Sie sprach oft mit ihrer Tochter, die Clara in die Geheimnisse des Instant Messaging eingeweiht hatte. Sie konnte sie dabei sogar auf dem Display ihres Handys sehen!

Anne schien begeistert zu sein, dass ihre Mutter in New York war: »Maman, hast du vielleicht ein Glück!«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Clara und versuchte, es selbst zu glauben.

»Und mir geht es übrigens genauso«, sagte Anne. »Jeden Tag, wenn ich ins King’s College komme, sage ich mir, dass ich es wirklich gut erwischt habe. Und die Freunde, die ich hier habe!«

Das zumindest hatten sie ihren Kindern mitgegeben – die Fähigkeit, das eigene Glück zu genießen. Lag es an den Genen oder der Erziehung? Schwer zu sagen.

»Und Papa, wie kommt er klar?«

»Ach, ganz gut. Ihm macht das Alleinsein nichts aus.«

»Ja«, sagte ihre Tochter mit einem Anflug von Ernst in der Stimme, »ich weiß.«

Es war Anne schon lange aufgefallen, dass ihr Vater sich gerne in seine eigene Welt zurückzog.

»Und ohnehin bin ich ja bald zurück!«, sagte Clara.

»Aber Maman, du musst dich doch nicht beeilen! Warum bleibst du nicht noch ein wenig länger? Endlich mal eine Luftveränderung für dich!«

»Ja«, meinte Clara, »vielleicht hast du recht.«

Aber hätte sie wirklich zusagen sollen, zwei zusätzliche Wochen in New York zu bleiben, bis das Projekt abgeschlossen war?

Der Gedanke quälte Clara, als sie einen jener herrlichen ganz verglasten Deli-Shops betrat, wo die eiligen New Yorker sich exzellente Sandwichs zum Frühstück kaufen können und der Kaffee ebenso gut ist wie in Italien.

Während sie ihre Möhrentorte aß und ihren doppelten Espresso trank, hatte sie nur flüchtig auf den groß gewachsenen Mann neben ihr an der Theke geachtet.

»Clara!«

Sie drehte sich zu ihm um, und da erkannte sie ihn: Er hatte weniger Haare als damals und war auch fülliger geworden, aber sein Blick und sein Lächeln eines selbstsicheren Mannes hatten sich nicht verändert.

Es war Gunther, ihr früherer Chef aus den Tagen vor ihrer Heirat. Der Mann, mit dem sie Hector vor mehr als zwanzig Jahren betrogen hatte. Der bereit gewesen war, sich ihretwegen scheiden zu lassen, und der todunglücklich zurückgeblieben war, als sie ihn verlassen hatte und zu Hector, ihrer wahren Liebe, zurückgekehrt war.

»Unglaublich, du hast dich gar nicht verändert!«, sagte Gunther, der niemals zögerte, mit größter Selbstsicherheit die banalsten Sätze auszusprechen – Sätze, die man aber trotzdem nicht ungern hört.