Hector ist bezaubert

Sie waren über den Boulevard Raspail auf den Square Boucicaut gegangen, wo der alte François eine Zigarette rauchen wollte.

Von dort aus sah man, dass die herrliche Fassade des Hotels Lutetia keine geraden Linien hatte, sondern sich in dezenten senkrechten Wellen wölbte, als hätten die Architekten damals beschlossen, dass eine flache Fassade einfach zu banal wäre.

»Danach ist der Funktionalismus gekommen«, sagte der alte François, »eine genauso interessante und hoffnungsvolle Idee wie der Kommunismus. Und das hat es uns nun gebracht!« Er wies auf das einzige moderne Wohnhaus an jener Kreuzung, einen großen Kaninchenstall mit Balkonen aus Rauchglas.

»Wer weiß, was sie zerstört haben, um das da hinbauen zu können!«, sagte Ophélie empört, und Hector war gerührt, weil jemand, der noch so jung war, die Überbleibsel des Vergangenen verteidigte.

»Aber leider«, fuhr der alte François fort, »brechen nur die schief konstruierten Gesellschaftsordnungen in sich zusammen, die Eseleien der Architekten bleiben uns erhalten …«

Aber Ophélie interessierte sich auch für das aktuelle Geschehen; sie war Studentin an einer Hochschule für Journalisten. Sie verriet Hector, dass sie davon träume, einmal in ferne Länder entsandt zu werden. Wie meine Kinder, dachte er.

»Ich glaube, sie hat das Vagabundengen geerbt, das in einem Teil unserer Familie präsent ist«, sagte der alte François sehr zufrieden. Auch er war in seinem Leben ungeheuer viel gereist.

»Wer sind eigentlich diese Frauen da?«, fragte Ophélie. Sie zeigte auf eine Figurengruppe aus weißem Marmor ganz in ihrer Nähe: Zwei warm angezogene Damen beugten sich zu einem sichtlich armen Jungen hinab, und eine von ihnen schien in ihrer Handtasche nach ein paar Geldstücken zu suchen.

»Ich glaube, ich habe sie nicht mehr persönlich kennenlernen dürfen«, antwortete der alte François lächelnd.

»Großvater!«

»Die linke ist Marguerite Boucicaut, eine ehemalige Gänsehirtin. Mit ihrem Mann, einem einstigen Ladengehilfen, gründete sie das erste Pariser Kaufhaus, Le Bon Marché

Das Kaufhaus stand gleich gegenüber und war ebenso schön wie das Hotel Lutetia, das man übrigens gebaut hatte, um Boucicauts reiche Kundschaft aus der Provinz zu beherbergen.

»Welche Wonnen für die Notarsgattin!«, sagte Ophélie.

»Die rechte ist die Baronin Clara de Hirsch – Vater Senator und Bankier, reiche jüdische Familie aus Belgien, heiratet den Baron von Hirsch, auch er Bankier, Großvater geadelt vom bayerischen König Maximilian I.«

»Und weshalb sind sie da beide zusammen dargestellt?«

»Sie haben ihr Leben lang für die Mittellosen Schulen und Krankenhäuser gegründet, von denen einige heute noch ihren Namen tragen. Und im Bon Marché gab es für die Angestellten Abendkurse und eine medizinische Versorgung – lange vor Einführung der Sozialversicherung!«

»Also zwei große Frauen«, sagte Ophélie. »Das ist auch mal was anderes als die hübschen halb nackten Göttinnen, die man normalerweise zu sehen bekommt.«

Hector hätte beinahe gesagt, dass er lieber Standbilder von hübschen halb nackten Göttinnen sah, aber er hielt sich zurück, denn solche Scherze konnte man vor dem alten François machen, aber nicht vor Ophélie.

Wie der alte François nun erklärte, musste Ophélie für ihr Seminar einen Artikel schreiben, und als Thema hatte sie sich die Psychiatrie von heute ausgesucht. Natürlich hatte sie damit begonnen, ihren Großvater ausgiebig zu interviewen.

»Nur«, meinte der alte François, »dass ich mich ein bisschen wie ein Vertreter der Psychiatrie von gestern fühle.«

»Von wegen, Großvater! Du hast sehr moderne Dinge gesagt.«

»Mag sein, aber ich glaube trotzdem, dass du mehrere Gesprächspartner brauchst. Lieber Freund, wären Sie bereit, Ophélie …«

»Aber selbstverständlich. Wie könnte ich mich weigern, die Enkeltochter eines Freundes bei den ersten Schritten ins Berufsleben zu unterstützen?«

Am Ende mussten sie sich voneinander verabschieden. Hector sah, wie der alte François Ophélie untergehakt hatte und flotten Schrittes mit ihr davonging. Er fragte sich, ob er eines Tages selbst diese Freude erleben würde – einen Spaziergang mit seiner Enkeltochter.