Hector auf dem Balkon
Später dann fanden sich alle im Wohnzimmer wieder, wo man noch mehr Alkohol für die Trinker servierte und frisch gepressten Fruchtsaft oder Kräutertee für alle, die noch mitbekamen, dass sie zu tief ins Glas geschaut hatten.
Hector sah, dass der alte François auf den großen Balkon hinausgetreten war, und so beschloss er, ihm dorthin zu folgen, denn er war ein wenig verlegen wegen des Eklats von vorhin und wollte sich lieber ein wenig unsichtbar machen, während Clara Schadensbegrenzung betrieb, indem sie ein liebenswürdiges Gespräch mit Géraldine begann.
»Was für eine Aussicht!«, sagte der alte François und zog an seiner Zigarette. »Und was für ein Bauwerk!«
Hector dachte, dass der alte François vom Eiffelturm sprach, der in der Nacht leuchtete, aber nein, er meinte das Palais de Chaillot mit seiner Esplanade, von der aus die Touristen aus der ganzen Welt den Blick auf den Eiffelturm genießen.
»Der neoklassische Stil gefällt mir sehr«, meinte der alte François. »Man sagt zwar oft, es sei der Stil Mussolinis oder sogar Stalins, aber dabei vergisst man, dass dieses Palais für die Weltausstellung errichtet wurde, im tiefsten Frieden. Die Statuen haben übrigens auch nichts Kriegerisches, es sind Schäferinnen, Nymphen, Musen. Wenn die Leute allerdings gewusst hätten, was sie zwei Jahre später erwarten sollte …«
Hector fiel das berühmte Foto jenes schnauzbärtigen kleinen Mannes ein – wie er auf dieser Esplanade stand und seinen Sieg über die, wie er meinte, schönste Hauptstadt der Welt feierte. Ihm als Kenner dürfte die neoklassische Architektur auch gefallen haben.
»Für mich ist dieses Palais ein bisschen das Abbild des Lebens«, sagte der alte François. »Man weiß nie, was einen erwartet: Das Licht der Welt erblickt man als friedliches Monument, das Wissenschaft und Technik feiern soll; dann wird man zur Wandelhalle für einen der großen Mörder der Weltgeschichte; dann zum Tagungsort der ersten UNO-Generalversammlung. Hier wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Und heute haben die Leute das alles vergessen und kommen nur noch wegen der Museen und des Theaters hierher – und weil man so einen großartigen Blick auf den Eiffelturm hat!«
Hector hörte dem alten François gern zu, mit dem wunderbaren Panorama von Paris vor sich und dem friedlichen Stimmengemurmel aus dem Wohnzimmer im Hintergrund. Die Zigarette seines Gegenübers glühte von Neuem rot in der Nacht auf, und dann fuhr er fort: »Wahrscheinlich liegt es am Alter, aber ich habe das Gefühl, dass ich das Leben der Bauten und Plätze allmählich interessanter finde als das Leben der Menschen. Und Sie, mein Freund?«
Hector wurde von dieser Frage überrascht. »Ähm«, sagte er, »vielleicht noch nicht. Ich höre noch immer gern meinen Patienten zu … den meisten jedenfalls.«
»Aber Géraldine hören Sie nicht gern zu.«
»Ach«, sagte Hector leicht verlegen.
In der kühlen Nachtluft hatte er wieder einen klareren Kopf bekommen, und er war immer weniger stolz auf seinen Ausrutscher von vorhin.
»Meinen Sie nicht, dass Sie mich mal wieder besuchen sollten?«, fragte der alte François.
In seinen ersten Jahren als Psychiater und manchmal auch später, wenn er einen ganz besonders schwierigen Patienten hatte, war Hector zum alten François gegangen, und der hatte ihm immer vorzügliche Ratschläge erteilt.
Aber Hector war klar, dass es bei ihrer nächsten Zusammenkunft um ihn selbst gehen würde.