Hector hört zu

Zwei Tage später war Clara nach New York abgeflogen.

Sie können sich die Szene vorstellen – wie Clara Hector auf dem Flughafen ein letztes Mal in die Arme schloss, wie sie kaum ihre Tränen zurückhalten konnte und wie sie ihm sagte, dass er gut auf sich aufpassen solle und dass sie sich keine Sorgen machen werde. Das Thema Ophélie wagte natürlich keiner der beiden anzuschneiden: Clara nicht, weil sie nicht so dastehen wollte, als würde sie Hectors Worte in Zweifel ziehen, und Hector nicht, weil er nicht zeigen wollte, dass es keine ganz harmlose Sache war.

»Und wie läuft es mit Denise?«

Nach der Krise mit Clara interessierte sich Hector plötzlich brennend für die Ehen seiner Freunde, und so hatte er beschlossen, mit Robert einen Kaffee zu trinken.

»Ach«, meinte Robert, »wir wursteln uns so durch.«

Hector fand, dass dieser Ausdruck nicht gerade ein Synonym für Eheglück war, aber er traute sich nicht, weiter in Robert zu dringen.

Sein Freund drehte sich zum Ober, um ein Glas Weißwein zu bestellen, und ein alter, hinkender Kellner mit Sträflingsvisage brachte es ihm unverzüglich.

Es war zehn Uhr morgens. Sie saßen in einem Café direkt gegenüber vom Eingang der Salpêtrière – dem Krankenhaus mit Roberts Krebsstation. Hector hatte in jungen Jahren seine Zeit als Assistenzarzt in einem der Gebäude dieser großen Klinik absolviert, und zwar in derselben Psychiatrie, in der einst der berühmte französische Psychiater Charcot den jungen Sigmund Freud beeinflusst hatte; Freud hatte die Vorlesungen besucht, in denen Charcot seine Kranken präsentierte. Auch das zu einer Zeit, als Paris noch der Nabel der Welt gewesen war, dachte Hector.

Robert und Hector saßen auf der Glasveranda des Cafés, die sie vor der winterlichen Witterung schützte, obwohl der Frühling eigentlich schon begonnen hatte. Von dort hatten sie einen schönen Blick auf die Kuppel der Kapelle, eine herrliche Konstruktion jenes Architekten, der auch das unglaublich schöne Schloss von Vaux-le-Vicomte entworfen hatte. Dort war Hector als kleiner Junge mit seinen Eltern im Schlosspark spazieren gegangen – damals waren sie jünger gewesen als er heute. Es lohnte sich, die Kapelle des Krankenhauses zu besichtigen, aber die Touristen ließen sie links liegen. Denn obgleich die Salpêtrière eine großartige Abfolge von Gebäuden und Innenhöfen bildete, ganz nach dem Geschmack der Ära des Sonnenkönigs, blieb ein Krankenhaus doch ein Krankenhaus, und das machte den Leuten ein wenig Angst, weil es sie an die eigene Sterblichkeit erinnerte.

»Ich habe eine Geliebte«, sagte Robert plötzlich.

Hector war sich nicht sicher, ob er Genaueres wissen wollte. Aber Robert musste sich jemandem anvertrauen.

»Es ist so blöd«, sagte er, »der Klassiker. Die junge Frau, die den Chef bewundert. Ich konnte nicht widerstehen, obwohl ich es versucht habe …«

»Und jetzt?«

»Ich liebe Denise, ich möchte ihr nicht wehtun, ich will nicht, dass wir uns trennen … auch wenn sie mir manchmal auf die Nerven geht.«

»Und die andere?«

»Sie hat mir gesagt, dass sie die Situation akzeptiert, wie sie ist. Dass sie weiter nichts erwartet. Dass sie jung ist und glücklich mit dem, was sie hat.«

»Und glaubst du ihr das?«

»Ich denke, sie versucht, es sich selbst einzureden. Aber natürlich wird sie das nicht lange durchhalten, auch wenn es ihr nicht bewusst ist. Es ist ein wenig wie mit meinen Patienten, die nicht der Tatsache ins Auge sehen wollen, dass ihr Krebs sich verschlimmert.«

»So etwas nennt man ›Verleugnung‹.«

»Ach so? Das trifft es ganz gut. Ist es eine Krankheit?«

»Nein, eher ein Mittel, um sich zu schützen – es gibt eine unerfreuliche Realität, und man will nicht so genau hinschauen.«

»Genau davon hast du ja letztens beim Abendessen …«

»Nein, an dem Abend habe ich nicht von Verleugnung gesprochen, sondern von Unterdrückung. Das ist etwas anderes.«

»Das musst du mir erklären.«

»Verleugnung ist, wenn du nicht siehst, was dich stört; es ist dir überhaupt nicht bewusst.«

»Ja, ich verstehe. So wie bei meinen Patienten, deren Erkrankung sich trotz Therapie verschlimmert, die aber Pläne für ihren nächsten Urlaub schmieden.«

»Genau! Unterdrückung ist etwas anderes. Du weißt um die Realität, aber weil du sowieso nichts ausrichten kannst, vermeidest du es einfach, daran zu denken. So würde man unser Verhalten letztens beim Abendessen nennen.«

Robert hatte seinen Weißwein ausgetrunken. »Ich glaube, ich hätte gern öfter die Fähigkeit zur Verleugnung«, sagte er.

»Warum?«

»Um das alles nicht zu merken … Um zum Beispiel nicht zu merken, dass ich zu viel trinke.«

»Aber es ist besser, wenn du es merkst – dann wirst du versuchen, dich im Zaum zu halten!«

»Darüber hat übrigens dein Kollege schon mit mir gesprochen.«

»Der alte François?«

»Ja. Ich weiß nicht, woran er es gemerkt hat. Vielleicht bei jenem Abendessen, oder vielleicht hat er auch hier am Vormittag mal gerochen, dass ich ein Glas getrunken hatte. Morgens trinke ich nie mehr als ein Glas.«

»Du hast ihn vormittags hier getroffen?«

»Nein, nicht im Café! In meiner Abteilung. Er hält dort immer noch ein paar Sprechstunden für die stark deprimierten Patienten ab. Er hat mir nur gesagt: ›Robert, Sie sollten darauf achten, dass Sie nicht zu viel trinken, das ruiniert selbst die Besten!‹ Er hat mir sogar geraten, mit dir darüber zu sprechen, was ich ja jetzt getan habe!«

Innerhalb von zehn Minuten hatte Robert gestanden, dass er seiner Frau untreu war und ein Alkoholproblem hatte. Hector war überrascht, denn normalerweise war sein Freund jemand, der stets ein Lächeln auf den Lippen behielt, der aufmerksam zuhörte, ohne zu viel von sich selbst preiszugeben, und der gern Späße machte, um die Situation zu entspannen.

»Hast du vielleicht auch Lust, ein neues Leben anzufangen?«, erkundigte sich Hector.

»In gewisser Weise schon. Ich trage in dieser großen Krankenhausabteilung zu viel Verantwortung auf meinen Schultern. Ich verbringe zu viel Zeit mit Konferenzen mit den Leuten von der Verwaltung, ich muss dauernd um unser Budget kämpfen oder Tätigkeitsberichte schreiben. Eigentlich wäre ich am liebsten wieder ein kleiner Assistenzarzt, der sich nur um die Medizin und um seine Patienten kümmert.«

»Also sind es nicht die Patienten, die dich so erschöpfen?«

»Sagen wir mal, sie erschöpfen mich in vertretbarem Maße … Aber der Rest bringt das Fass zum Überlaufen!«

»Und wenn du von deinem Posten als Chefarzt zurücktrittst? Du könntest dann einfach als Arzt weiterpraktizieren.«

Robert lächelte traurig. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber leider finde ich auch Gefallen daran, Chef zu sein. Und wahrscheinlich an den bewundernden Blicken meiner jungen Mitarbeiterinnen … Wahrscheinlich hängt man mit den Jahren immer mehr an seinen Posten und Titeln, weil alles Übrige den Bach heruntergeht!«

»Das nennt man Kompensation«, sagte Hector. »Man kniet sich in einen Bereich richtig hinein, um auszugleichen, dass man auf den übrigen Gebieten immer schwächer wird. Das ist auch ein Abwehrmechanismus.«

»Ach, wirklich? Aber wenn du dir dabei völlig im Klaren bist, weshalb du diese Kompensation betreibst, funktioniert es dann trotzdem?«

»Wahrscheinlich weniger gut.«

Robert war tatsächlich kein Meister der Verleugnung, er litt eher an einem Übermaß an Klarsicht, woraus sich auch sein Bedürfnis nach einem Betäubungsmittel erklären mochte – etwa jenem Glas Weißwein, das er gerade ausgetrunken hatte.

Hector nahm sich vor, in seinem Buch über ein neues Leben eine Bemerkung darüber zu machen: Übertreiben Sie es nicht mit Ihrem Scharfblick; ein wenig Verleugnung hilft beim Leben – oder besser noch, wenn Sie das hinbekommen, ein wenig Unterdrückung.

Robert wandte sich zum Kellner um und gab ihm ein Zeichen.

»Hast du nicht gesagt, morgens nie mehr als ein Glas?«

»Ja, du hast recht …« Und mit sichtlichem Bedauern stornierte er seine Bestellung wieder.