Hector irrt sich
»Das Burn-out ist für Sie leichter als für die meisten in den Griff zu bekommen«, sagte der alte François. »Sie haben keinen Chef und können selbst versuchen, Ihr Arbeitspensum zu regulieren.«
»Ich weiß, dass das ein Glück ist«, meinte Hector und dachte dabei an all seine Freunde, die – wie auch Clara – in einem Unternehmen arbeiteten und ihm sagten, dass sie ihn um seine Freiheit beneideten. Er habe keine Vorgesetzten, keine Versammlungen und keine Verkaufszahlen, die es zu erreichen galt …
Hector hätte ihnen entgegnen können, dass er sich in seiner Praxis manchmal wie eingekerkert fühlte und sich ziemlich allein vorkam, aber er mochte die Freunde nicht mit seinen Problemen beladen – über die wollte er nur mit dem alten François reden.
»Und Ihr Leeres-Nest-Syndrom?«
»Ja, die Kinder fehlen uns … fehlen mir … aber ich glaube, daran gewöhnt man sich letztendlich.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte der alte François. »Im Allgemeinen geht das vorüber, wenn die Leute ein ausgefülltes Leben haben. Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, lieber Freund, dass dieses Syndrom auch wieder so eine schreckliche Krankheit unserer modernen Welt ist – genauso wie Verkehrsstaus oder Altersheime?«
»Eine Krankheit der modernen Welt?!«
»Natürlich, denn früher standen wir viel seltener vor dem leeren Nest. Wenn unsere Kinder flügge geworden waren, hatten wir meist schon das Zeitliche gesegnet!«
Der alte François lachte schallend los und zeigte dabei sehr weiße Zähne. So hatte Hector ihn noch nie lachen sehen.
»… und wenn wir durch einen glücklichen Zufall noch auf Erden weilten, nahmen uns unsere Sprösslinge bei sich auf und setzten uns neben den Ofen – oftmals im selben Haus, das schon unsere Eltern bewohnt hatten. Wissen Sie, ich bin wohl einer der letzten lebenden Zeugen jener Welt. In den Häusern meiner Kinderjahre gab es immer eine Großmutter oder Großtante, die irgendwo in einem Zimmer sachte verdämmerte, und manchmal versuchte sie sich dabei noch nützlich zu machen.« Der alte François hatte Kinder und Enkelkinder, aber bei seiner heutigen Form hatte er sicher noch etliche Jahre vor sich, ehe er ihnen zur Last fallen würde.
Der Kellner (der, wie Hector bemerkte, noch überaus jung war) brachte ihnen die beiden Schmortöpfchen aus schwarzem Gusseisen, aus denen es dampfte.
»Beim Pot au feu hängt alles davon ab, dass man das richtige Fleisch wählt«, sagte der alte François. »Schulterstück oder Querrippe, alles andere ist selten zart genug.«
Sie tranken weiterhin nichts, indem sie jetzt zwei Gläser Maucaillou nahmen, und die Sonnenstrahlen, die bis an ihren Tisch drangen, ließen den Wein rubinrot aufleuchten. Draußen auf dem Square Boucicaut sah Hector die kleinen Kinder spielen, noch in ihren Wintermänteln und beaufsichtigt von ihren Müttern oder Kindermädchen. Manche dieser Kinder würden eines Tages vielleicht ihrerseits im Lutetia speisen, über ihre Midlife-Crisis sprechen und den Kindern, die nach ihnen gekommen waren, beim Spielen zuschauen …
»Und die Midlife-Crisis, von der ich vorhin gesprochen habe«, sagte in diesem Moment der alte François, »was denken Sie darüber?«
Hector antwortete, dass er ein bisschen hinterherhinke: Er mache seine Midlife-Crisis erst durch, nachdem er die Lebensmitte schon eine Weile überschritten habe – es sei denn, er würde hundert Jahre alt.
»Aber bei all den Fortschritten der Wissenschaft ist das doch keineswegs unwahrscheinlich!«, rief der alte François mit einer Kraft, die Hector zusammenfahren ließ. Dann wandte er sich an den Kellner, um sich grobes Salz bringen zu lassen. Er brauchte es für den hübschen rosafarbenen Zylinder aus Mark, den er aus dem Rindsknochen geklopft hatte und nun mit großem Appetit betrachtete.
»Ich glaube, bei mir ist es nur eine halbe Midlife-Crisis«, meinte Hector.
»Wie das, eine halbe?«
»Na ja, bei mir fehlt die Komponente ›Bedauern‹, ›Gefühl des Scheiterns‹ und so weiter …«
Bei seinen Patienten hatte er das oft erlebt, etwa bei Olivia und Sabine: Sie hatten plötzlich das Gefühl, ihr bisheriges Leben sei ein Irrtum gewesen, und sie hätten das falsche Gleis gewählt. Und so haderten sie mit sich selbst oder mit den anderen, weil man sie schlecht beraten hatte, als sie sich auf eine Ehe oder einen Beruf eingelassen hatten, in denen sie nicht glücklich geworden waren.
Hector hatte festgestellt, dass diese Leute im Grunde an einer »negativen Neuinterpretation der Vergangenheit« krankten, bei der sie die glücklichen Momente ihrer Ehe oder die schönen Stunden in ihrem Beruf vergaßen. Das war aber auch normal – wenn Sie traurig oder zornig sind, kommen Ihnen vor allem Erinnerungen, die Sie traurig oder zornig machen.
Hectors persönliches Problem war das allerdings nicht: Bislang war er im Großen und Ganzen mit seiner Arbeit zufrieden gewesen, und es störte ihn nicht, dass er keine Karriere gemacht hatte. Er bereute nichts und konnte sich dennoch schlecht vorstellen, für sein restliches Leben in seiner Praxis eingesperrt zu sein.
»Wir werden die Ursachen für Ihren Überdruss untersuchen müssen«, sagte der alte François und untersuchte dabei seinen Rindsknochen, ob sich in ihm nicht noch ein wenig Mark fand. »Vielleicht sollten wir Ihre Arbeitsweise durchdenken, Ihre Beziehungen zu den Patienten? Sie wissen ja, dass man sich nicht so auslutschen lassen darf, wie ich es hier mit dem Knochen mache!«
»Am Ende mancher Tage fühle ich mich wirklich ganz schön ausgelutscht …«
»Das ist ja das Problem in unserem Beruf: den richtigen Abstand zu wahren. Wenn man zu nahe an seinen Patienten ist, macht man sich fertig, aber wenn man zu sehr auf Distanz geht, wird man zynisch, und alles ist einem schnurz. In beiden Fällen leidet die Behandlung darunter. Vielleicht machen Sie mal wieder eine Supervision bei einem Kollegen? Das könnte Ihnen helfen, Ihre Arbeitsweise mit anderen Augen zu sehen. Dabei denke ich nicht an mich – von der Praxis bin ich einfach schon zu weit weg …«
Das war eine gute Idee, aber Hector gestand, was ihn eigentlich bewegte: »Ich frage mich, ob mir wirklich der Sinn danach steht, meine Arbeitsweise zu verbessern und meine Patienten mit anderen Augen zu sehen. Im Grunde glaube ich, dass ich lieber ein neues Leben beginnen möchte … beruflich, wohlgemerkt … nicht dass Sie meinen, ich wollte meine Frau verlassen …«
Der alte François blieb für ein paar Sekunden stumm. Dann fragte er: »Aber denken Sie manchmal trotzdem darüber nach?«
Damit hatte Hector schon gerechnet. Wenn man ein bisschen zu nachdrücklich verkündet, man wolle etwas Bestimmtes gewiss nicht tun, und ein Psychiater hört es, dann wird der sich fragen, ob man nicht gerade versucht, diesen Wunsch zu unterdrücken.
Hector gestand dem alten François, dass er nicht umhinkönne, ein paar Sekunden zu träumen, wenn ihm eine ungewöhnlich verführerische Frau über den Weg lief. Aber das halte nicht lange an, denn er wisse, dass so ein Abenteuer wie ein feuchtfröhlicher Abend sei, der einem am Anfang richtig guttut und ganz wunderbar vorkommt. Aber dann behalte man oft einen schrecklichen Brummschädel davon zurück – mit dem Unterschied, dass Aspirin bei einer Affäre nicht helfe.
»Wenn es herauskäme, würde ich Clara sehr wehtun …«
»Ist es das, was Sie davon abhält?«
»Ja. Und außerdem weiß ich, dass es ziemlich unreif wäre. Mit einer jungen Frau ein Abenteuer haben, ein Cabrio kaufen – das ist doch geradezu das Klischeebild eines Mannes in der Midlife-Crisis, nicht wahr? Eine Affäre haben, um sich selbst zu bestätigen und sich wieder jung zu fühlen … Das habe ich einfach zu oft gesehen.«
Der alte François lächelte, als wollte er damit ausdrücken, dass er Hector gut verstehe, aber vielleicht lächelte er auch nur, weil er in seinem Schmortöpfchen gerade noch ein Stück Fleisch erspäht hatte, das unter einer Steckrübe verborgen gewesen war.
»Lieber Freund, ich muss zugeben, dass mir mein Spider Alfa 2000 in wunderbarer Erinnerung geblieben ist … ein roter noch dazu … ich muss damals ungefähr so alt gewesen sein wie Sie jetzt … ah, an der italienischen Riviera entlangzusausen, die Haare im Wind … und der Kopf einer reizenden Frau lehnt sich einem an die Schulter …«
Der alte François bekam einen träumerischen Blick, und schon fing auch Hector einen Moment lang an zu träumen.
Ob es Clara war, die er sich im roten Spider an seiner Seite vorstellte?
»Aber natürlich«, meinte der alte François, »betrachten Sie das alles vom Standpunkt der geistigen Reife aus.«
»Ja, aber manchmal habe ich trotzdem das Gefühl, dass es so nicht weitergeht und dass ich den Rest meines Lebens nicht so zubringen will wie in den letzten Monaten.«
»Sehen Sie«, sagte der alte François, »das ist ganz typisch für eine Midlife-Crisis! Man denkt an den Rest seines Lebens …«
»Genau, und man will ihn bestmöglich nutzen.«
»Das ist ein Beweis dafür, dass man sich noch ziemlich jung fühlt, mein lieber Freund. Was mich angeht, begnüge ich mich mit dem Wunsch, alles möge noch so lange wie möglich so weitergehen.«
Wenn man jedoch die Energie sah, die der alte François ausstrahlte, hätte man glatt angenommen, sie hätte noch für ein neues Leben gereicht oder sogar für zwei. Aber vielleicht war es auch nur die Freude darüber, sich mit Hector im Lutetia zu einem guten Mittagessen zu treffen?
»Lieber Freund, ich denke, dass wir uns noch öfter sehen müssen, um über diese Dinge zu sprechen. Bloß keine überstürzten Entscheidungen, Sie wissen das ja.«
Hector hatte verstanden, dass der alte François mit »überstürzte Entscheidungen« das Ausagieren meinte, den Schritt zur Tat, denn die Psychologie ist wie ein Wörterbuch, in dem es immer noch eine zweite Bedeutung gibt.
»Für nächste Woche habe ich vielen Patienten abgesagt«, entgegnete er, »und ich bleibe in Paris. Also, wann immer Sie wollen.«
»Ich denke, wir sollten uns ziemlich regelmäßig treffen«, sagte der alte François und schaute Hector dabei an, als wollte er ihm begreiflich machen, dass er seinen Fall für ziemlich ernst hielt. »Bis zum nächsten Mal können Sie ja schon eine kleine Aufstellung von allen Dingen machen, die Sie sich von einem neuen Leben erhoffen.«
Hector musste lächeln, aber er war einverstanden. Die leer geputzten Schmortöpfchen wurden fortgetragen, und obwohl die beiden Psychiater sich gegenseitig versichert hatten, sie würden keine Nachspeise nehmen, ließ sich der alte François doch noch einmal die Karte bringen.
Als Hector sah, dass es Rum-Savarin gab, geriet er für einen Moment in Versuchung, aber plötzlich schaute der alte François ihm über die Schulter, und Freude erstrahlte auf seinem Gesicht.
»Ah«, rief er aus, »Ophélie!«
Hector drehte sich um und erblickte eine junge Frau, die sich lächelnd dem Tisch näherte. Bestimmt war dies die Frau, für die der alte François jünger aussehen wollte! Sie war hinreißend: schlichte und schöne Gesichtszüge – wie ein Engel von Botticelli, dachte Hector –, Haare in der Farbe von Herbstlaub und vor allem ein strahlendes, Glück verströmendes Lächeln.
Sie neigte sich zum alten François hinab und küsste ihn auf die Wange. Dann wandte sie sich Hector zu.
»Darf ich vorstellen?«, sagte der alte François. »Meine Enkeltochter Ophélie.«
Und Ophélie blickte Hector in die Augen und sagte: »Großvater hat schon oft von Ihnen gesprochen!«