62
Vaughan trug dieselbe schwarze Kleidung wie in der Nacht zuvor. Sie wirkte still, ruhig und gefasst. Und ein wenig distanziert. Ein bisschen geistesabwesend. Reacher sagte: »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«
Vaughan sagte: »Tatsächlich?«
»Ich habe zweimal versucht, dich anzurufen. Hier und im Auto. Wo bist du gewesen?«
»Mal hier, mal da. Komm lieber rein.«
Sie führte ihn durch die Diele in die Küche, die unverändert aussah. Aufgeräumt, sauber, hübsch eingerichtet, drei Stühle am Küchentisch. Auf der Arbeitsfläche stand ein Glas Wasser, und die Kaffeemaschine lief.
Reacher sagte: »Tut mir leid, dass ich nicht gleich zurückgekommen bin.«
»Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen.«
»Was ist los?«
»Willst du einen Kaffee?«
»Sobald du mir sagst, was nicht in Ordnung ist.«
»Alles ist in Ordnung.«
»Unsinn!«
»Okay, wir hätten nicht tun sollen, was wir vorletzte Nacht getan haben.«
»Welchen Teil?«
»Du weißt, welchen Teil ich meine. Du hast mich überrumpelt. Ich habe angefangen, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Als du nicht mit dem Flugzeug zurückgekommen bist, habe ich mein Handy und mein Funkgerät ausgeschaltet, bin nach Colorado Springs rausgefahren und habe David alles erzählt.«
»Mitten in der Nacht?«
Vaughan zuckte mit den Schultern. »Sie haben mich zu ihm gelassen. Sie waren überhaupt sehr nett und haben mich äußerst zuvorkommend behandelt.«
»Und was hat David gesagt?«
»Das ist gemein.«
Reacher schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gemein. Das ist eine einfache Frage.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Dass David nicht mehr existiert. Jedenfalls nicht so, wie du ihn in Erinnerung hast. Nicht auf irgendeine vernünftige Weise. Und dass du eine Entscheidung treffen musst. Und diese Entscheidung ist nicht neu. Massen von Verwundeten muss es in Amerika seit dem Bürgerkrieg gegeben haben. In diesen fast anderthalb Jahrhunderten waren bestimmt Zehntausende von Männern so schlimm dran wie jetzt David. Und folglich müssen Zehntausende von Frauen sich in deiner Lage befunden haben.«
»Und?«
»Sie alle haben eine Entscheidung getroffen.«
»David existiert weiterhin.«
»Nur in deiner Erinnerung. Nicht in der Welt.«
»Er ist nicht tot.«
»Aber auch nicht lebendig.«
Vaughan schwieg, wandte sich ab, holte einen Porzellanbecher aus dem Geschirrschrank und goss Kaffee hinein. Als sie Reacher den Becher gab, fragte sie: »Was befand sich in Thurmans kleinem Karton?«
»Du hast den Karton gesehen?«
»Ich bin zehn Sekunden nach dir über die Mauer geklettert. Ich hatte die Absicht, im Auto zu warten.«
»Ich habe dich nicht gesehen.«
»Das war der Plan. Aber ich habe dich gesehen und alles beobachtet. Fliegen Sie heute Nacht mit mir? Er hat dich irgendwo ausgesetzt, stimmt’s?«
Reacher nickte. »Fort Shaw, Oklahoma. Ein Militärstützpunkt.«
»Du hast dich reinlegen lassen.«
»Ja, leider.«
»Du bist nicht so clever, wie du glaubst.«
»Ich habe nie behauptet, clever zu sein.«
»Was war in dem Karton?«
»Ein Plastikbehälter.«
»Was war in dem Behälter?«
»Ruß«, antwortete Reacher. »Was von Leuten nach einem Fahrzeugbrand übrig ist. Sie kratzen das Zeug vom Metall ab.«
Vaughan setzte sich an den Küchentisch.
»Das ist ja schrecklich«, sagte sie.
»Weit schlimmer als das«, meinte Reacher. »Höchst kompliziert.«
»In welcher Beziehung?«
Reacher nahm ihr gegenüber Platz.
»Du kannst aufatmen«, sagte er. »Bei Thurman werden keine zerschossenen Humvees verarbeitet. Das wird anderswo gemacht.«
»Woher weißt du das?«
»Weil Humvees nicht so brennen. Sie platzen meistens auf, sodass die Insassen herausgeschleudert werden.«
Vaughan nickte. »David hatte keine Verbrennungen.«
Reacher erklärte: »So brennen nur Panzer. Aus einem brennenden Panzer gibt’s kein Entkommen. Von der Besatzung bleibt nur Ruß übrig.«
»Ja, verstehe.«
Reacher schwieg.
»Aber wieso ist das kompliziert?«
»Weil dies die erste einer langen Reihe von Schlussfolgerungen ist. Wie eine logische Kettenreaktion. Wir setzen dort drüben Kampfpanzer ein. Nicht sehr überraschend, denke ich. Aber wir verlieren einige, was eine riesige Überraschung ist. Wir haben immer damit gerechnet, dass wir ein paar verlieren würden – im Kampf gegen die Sowjets. Aber wir haben bestimmt nie mit Verlusten im Kampf gegen abgerissene Terroristen mit improvisierten Waffen gerechnet. In weniger als vier Jahren haben sie gelernt, Hohlladungen herzustellen, die Kampfpanzer der U. S. Army außer Gefecht setzen können. Das ist nicht gerade ein PR-Erfolg. Ich bin nur froh, dass der Kalte Krieg vorüber ist. Die Rote Armee würde sich über uns schieflachen. Kein Wunder, dass das Pentagon die ausgebrannten Panzer in versiegelten Containern an einen geheim gehaltenen Ort transportieren lässt.«
Vaughan stand auf und griff nach ihrem Glas Wasser auf der Arbeitsfläche. Sie leerte es in den Ausguss und goss sich aus einer Flasche aus dem Kühlschrank nach. Trank einen kleinen Schluck.
»Ich habe heute Morgen einen Anruf bekommen«, sagte sie. »Vom staatlichen Labor in Colorado Springs. Mein Leitungswasser enthält fast fünf Teilchen Trichlorethylen pro Milliarde. Knapp unter dem Grenzwert, aber die Konzentration dürfte gefährlich zunehmen, wenn Thurman weiter so viel TCE verwendet.«
»Vielleicht hört er damit auf«, sagte Reacher.
»Warum sollte er das tun?«
»Das ist dann die letzte Schlussfolgerung der Kette. Aber so weit sind wir noch nicht. Und sie wäre nur eine Annahme.«
»Was war also die zweite Schlussfolgerung?«
»Was macht Thurman mit den ausgebrannten Panzern?«
»Er schmilzt sie zu Stahl ein.«
»Und wieso setzt das Pentagon MPs ein, um Recyclingstahl bewachen zu lassen?«
»Keine Ahnung.«
»Dem Pentagon geht’s nicht um den Stahl. Der ist ganz unwichtig. Die MPs sind da, um etwas anderes zu bewachen.«
»Zum Beispiel?«
»Nur eine Möglichkeit: Die Stirn- und Seitenpanzerung eines modernen Kampfpanzers enthält eine dicke Schicht aus abgereichertem Uran. Das ist ein Nebenprodukt der Urananreicherung zur Herstellung von Brennstäben für Atomkraftwerke. Dieses Metall ist unglaublich hart und dicht. Absolut ideal für Panzerungen. Die zweite Schlussfolgerung lautet also, dass Thurman ein Spezialist für Uran ist und die MPs deshalb dort stationiert sind. Weil abgereichertes Uran giftig und leicht radioaktiv ist – unbedingt ein Material, dessen Weg man verfolgen möchte.«
»Wie giftig? Und wie radioaktiv?«
»Für Panzerbesatzungen ist das Zeug ungefährlich. Aber wird es nach einem Treffer oder bei einem Brand zu Staub, Splittern oder Dampf, können sie durch Einatmen oder Splitterverletzungen sehr schwer erkranken. Daher werden die Wracks in die Vereinigten Staaten zurückgebracht. Und das macht den MPs selbst hier Sorgen. Terroristen könnten das Zeug stehlen, zerkleinern und damit einen Sprengsatz ummanteln. Das wäre eine perfekte ›schmutzige‹ Bombe.«
»Es ist schwer.«
»Unglaublich.«
»Man würde einen Lastwagen brauchen, um es zu stehlen.«
»Einen großen Lastwagen.«
Reacher schlürfte seinen Kaffee, Vaughan nahm einen Schluck Wasser und sagte: »Das Zeug wird in der Anlage zerkleinert. Mit Vorschlaghämmern und Schneidbrennern. Dabei müssen Staub, Splitter und Dämpfe entstehen. Kein Wunder, dass alle so krank aussehen.«
Reacher nickte.
»Der Deputy ist daran gestorben«, sagte er. »All diese Symptome? Haarausfall, Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, Blasen, Geschwüre, Dehydrierung, Organversagen? Das war weder hohes Alter noch TCE, sondern eine Strahlenvergiftung.«
»Weißt du das bestimmt?«
Reacher nickte erneut. »Ganz bestimmt. Weil er’s mir auf dem Totenbett gesagt hat. Er hat’s zumindest versucht, aber ich habe ihn falsch verstanden. Trotzdem sind die Indizien eindeutig.«
Vaughan erklärte: »Die Luft in der Anlage muss voll davon sein. Und wir haben sie eingeatmet.«
Reacher sagte: »Erinnerst du dich, wie der Metallzaun geleuchtet hat? Auf dem Bildschirm der Infrarotkamera? Er war nicht heiß. Er war radioaktiv.«