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Reacher fuhr eine Meile, dann ging er in Halfway in den Tag und Nacht geöffneten Coffeeshop, aß einen Cheeseburger und trank drei Becher Kaffee. Der Burger war halb roh und pappig, der Kaffee ungefähr so gut wie der in Hope und der Becher etwas schlechter, aber noch akzeptabel. Nachdem er ein zerfleddertes Exemplar der gestrigen Zeitung von vorn bis hinten durchgelesen hatte, klemmte er sich in eine Ecke der Sitznische und döste aufrecht sitzend eine Stunde lang. Er verließ den Laden um fünf Uhr morgens, als die ersten Gäste zum Frühstück erschienen und ihn mit lautem Schwatzen und dem Geruch nach Duschgel störten. Er tankte Vaughans Truck an der die ganze Nacht geöffneten Tankstelle voll und verließ die Stadt auf der nach Osten führenden unebenen Straße mit den Rockys hinter sich und der sich ankündigenden Morgendämmerung am Himmel vor sich.
Er hielt die Tachometernadel auf vierzig und passierte das Wachhäuschen der MPs zweiundfünfzig Minuten später nochmals. Dort hatte sich nichts verändert. In dem Häuschen standen weiter zwei Wachposten, von denen der eine Osten und der andere nach Westen blickte. Das orangerote Licht brannte noch immer. Wecken war vermutlich um 6.30 Uhr, und um sieben Uhr würde es Frühstück geben. Die Nachtwache würde zu Abend essen, während die Tagschicht frühstückte. Bestimmt bekamen alle dasselbe Essen. Auf vorgeschobenen Stützpunkten gab es wenig Luxus. Er winkte den MPs zu und fuhr mit gleichmäßigen vierzig Meilen weiter, sodass er die Recyclinganlage um Punkt sechs Uhr morgens erreichte.
Zu Beginn des Arbeitstages.
Die Scheinwerferbatterien auf hohen Lichtmasten brannten bereits und tauchten die Anlage in gleißend helles bläuliches Licht. Der Parkplatz füllte sich rasch. Reacher bremste, bog von der Straße ins Gelände ab, fuhr über niedriges Buschwerk und parkte ordentlich zwischen einem viertürigen alten Chrysler und einem verbeulten Ford Pick-up. Er stieg aus, sperrte ab, steckte die Schlüssel ein und schloss sich den Männern an, die aus verschiedenen Richtungen zusammenströmend zum Personaleingang schlurften. Ein unbehagliches Gefühl. Nicht viel anders, als beträte man ein Baseballstadion in den Farben der Gästemannschaft. Ein Fremder unter uns. Um ihn herum starrten Männer ihn neugierig an und ließen ihm etwas mehr Raum, als sie untereinander beanspruchten. Aber niemand sagte etwas. Es gab keine offensichtliche Feindseligkeit. Nur Wachsamkeit und heimliches Beäugen, während die Masse sich Meter um Meter voranschob.
Der Personaleingang bestand aus einem Zweierfeld des Metallzauns, dessen Wölbung komplizierte Torangeln erforderte, damit er sich öffnen ließ. Hier wurde der Fußweg, den eine Million Stiefel festgetrampelt hatten, staubig und schmaler. Trotzdem gab es vor dem Eingang kein Gedränge. Keine Ungeduld. Männer traten von links und rechts heran und reihten sich wie Roboter ein – nicht schnell, nicht langsam, aber resigniert. Alle mussten die Stechuhr betätigen, aber dazu hatte offensichtlich niemand Lust.
Die Schlange rückte mit halben Schritten langsam vor.
Der Kerl vor Reacher trat durchs Tor.
Reacher folgte ihm.
Drinnen kamen sofort weitere brusthohe Metallwände, die den Menschenstrom kanalisierten und die Menge teilten. Der rechte Korridor führte in einen Pferch, in dem Zeitarbeiter darauf warteten, aufgerufen zu werden. Er war bereits zu einem Viertel mit Männern angefüllt, die stumm und geduldig dastanden. Die nach links weitergehenden Arbeiter beachteten sie nicht.
Reacher ging nach links.
Der linke Korridor knickte sofort ab und verengte sich auf eineinviertel Meter. Er führte die schlurfenden Männer an einer altmodischen Stechuhr vorbei, um die herum eine Unmenge von Stempelkarten in Metallschlitzen angeordnet waren. Jeder Mann zog seine Karte heraus, steckte sie in das Gerät, wartete den dumpfen Stempelschlag ab und steckte die Karte in ihren Schlitz zurück. Der Rhythmus war langsam und unerbittlich. Das Scharren von Karton auf Metall, das dumpfe Stempelgeräusch, das Klicken, mit dem die Karte auf dem Boden ihres Fachs auftraf. Die Stechuhr zeigte 6.14 Uhr an, was genau mit der Uhr in Reachers Kopf übereinstimmte.
Reacher ging, ohne stehen zu bleiben, weiter. Der Korridor bog erneut ab. Er folgte dem Kerl vor ihm zehn Meter weit und lief dann in die Nordostecke der Anlage. Die weitläufige Anlage war überwältigend groß. Die Scheinwerfer am jenseitigen Zaun erstreckten sich über fast eine Meile, wurden kleiner und dunkler und in der Südwestecke verschwindend winzig. Der jenseitige Zaun war mindestens eine halbe Meile entfernt. Das eingezäunte Werksgelände musste ungefähr dreihundert Acres groß sein. Dreihundert Footballplätze.
Unglaublich.
Reacher trat zur Seite, um die Arbeiter vorbeizulassen. An einigen Stellen der Anlage waren bereits kleine Gruppen von Männern bei der Arbeit. Kräne und Lastwagen fuhren hin und her. Im Scheinwerferlicht warfen sie harte Schlagschatten. Manche Kräne erschienen ihm größer als alles, was er auf Werften gesehen hatte. Einige Lastwagen waren Muldenkipper wie auf einer Großbaustelle. Es gab gigantische Schrottpressen auf riesigen Betonsockeln. Die ölig glänzenden Hydraulikstempel der Pressen waren dick wie Baumstämme. Es gab gewaltige Schmelztiegel und Retorten von Hausgröße. Zusammengepresste Schrottautos waren zehn Stockwerke hoch gestapelt. Auf dem mit Altöl getränkten und mit Metallspänen bedeckten Erdboden standen schillernde Dieselölpfützen, und wo er trocken war, glitzerte der Staub metallisch. Dampf, Rauch und scharfe Chemiegerüche trieben über die Anlage. Ein Röhren und Hämmern rollte in Wogen übers Gelände, traf den Metallzaun und wurde von ihm zurückgeworfen. Hinter den offenen Luken von Schmelzöfen züngelten helle Flammen.
Wie in einer Höllenvision.
Manche Männer schienen zu festen Arbeitsplätzen unterwegs zu sein, während andere in kleinen Gruppen zusammenstanden, als warteten sie darauf, Arbeit zugewiesen zu bekommen. Reacher – in dem Chaos klein und unbedeutend – schlüpfte hinter ihnen vorbei und folgte dem Nordzaun. Weit vor ihm im Nordwesten wurde das Werkstor geöffnet. Dort warteten fünf hintereinander aufgereihte Sattelschlepper darauf, das Gebäude verlassen zu können. Auf der Straße würden sie riesig und schwerfällig wirken. Hier in der Anlage sahen sie wie Spielzeugautos aus. Die beiden Tahoes des Sicherheitsdiensts parkten nebeneinander: winzige weiße Punkte in der Ferne. Neben ihnen stapelten sich Vierzigfußcontainer in fünf Lagen. Auch sie sahen winzig klein aus.
Südlich der Einfahrt stand eine lange Reihe von Bürocontainern – auf niedrigen Stützen, um Bodenunebenheiten auszugleichen. In den meisten brannte Licht. Die beiden Container links außen waren weiß gestrichen und mit roten Kreuzen auf den Türen gekennzeichnet. Der Erste-Hilfe-Posten. Er schien groß genug zu sein, um auch ein Krankenrevier zu beherbergen. Davor parkte ein weißer Kombi mit Hochdach: der Krankenwagen. Neben ihm standen lange Reihen von Treibstoff- und Chemikalientanks. Hinter ihnen zerteilte ein bedrohlich wirkender Trupp aus Männern mit schweren Schürzen und schwarzen Schweißermasken einen wirr aufgetürmten Schrotthaufen mit Schweißbrennern. Die blauen Flammen warfen grausige Schatten. Reacher folgte weiter dem Nordzaun. Männer starrten ihn an, sahen unsicher weg. Nach etwa einem Viertel der Strecke versperrte ihm eine riesige Pyramide aus alten Ölfässern den Weg. Sie waren in verblasstem Rot gestrichen und treppenförmig in zehn Lagen übereinander aufgetürmt. Reacher blieb stehen und schaute sich um und kletterte auf die unterste Lage. Schaute sich erneut um, kletterte bis auf halbe Höhe der Pyramide, drehte sich um verschaffte sich einen Überblick über die Anlage.
Er hatte bisher nicht alles gesehen.
Noch nicht.
Es gab noch mehr.
Viel mehr.
Was wie die Südgrenze ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit ein innerer Zaun. So hoch wie der äußere, aus dem gleichen Material, in gleicher Farbe, ebenfalls aus glatten, leicht gewölbten Segmenten. Eine zweite unüberwindbare Barriere. Aber sie stellte nur eine innere Trennwand mit einem geschlossenen Tor dar. Hinter ihr umschloss der äußere Werkszaun mindestens weitere hundert Acres. Weitere hundert Footballfelder. Das Tor war breit genug für große Lastwagen. Tiefe Fahrspuren führten zu ihm hin. Hinter dem Zaun ragten gewaltige Kräne und hohe Stapel von winkelförmig aufgestellten Containern auf. Die Container schienen zufällig angeordnet zu sein, aber tatsächlich versperrten sie aus allen Richtungen den Blick auf die Vorgänge am Boden.
Vor dem inneren Tor gab es eine Art Kontrollpunkt. Reacher konnte zwei winzige Gestalten ausmachen, die mit den Händen in den Hosentaschen gelangweilt kleine Kreise zogen. Er beobachtete sie eine Minute lang, dann sah er wieder über den Zaun hinweg. Kräne und ein Sichtschutz aus Containern. Etwas Rauch, immer wieder Funkenregen. Also wurde auch dort gearbeitet. Mehr war nicht zu erkennen. Umso mehr gab es zu hören, aber damit war nichts anzufangen. Reacher konnte nicht einmal unterscheiden, welcher Lärm woher kam. Er blieb noch eine Minute stehen und verfolgte den Verkehr innerhalb der Anlage. Reichlich Bewegung, aber keines der Fahrzeuge war zu dem inneren Tor unterwegs. Es würde geschlossen bleiben. Er wandte sich um und blickte nach Osten. Dort brach jetzt der Tag an.
Reacher machte wieder kehrt und kletterte die Treppe aus Ölfässern hinunter. Als er den unebenen Boden erreichte, fragte eine raue Stimme hinter ihm: »Wer, zum Teufel, sind Sie?«