16

Es war ein Klischee, dass Cops vor, während und nach jeder Schicht in Schnellrestaurants einkehren, um Donuts zu essen, aber Klischees sind nur deshalb Klischees, weil sie so häufig zutreffen. Deshalb rechnete Reacher, als er an diesem Morgen um fünf vor sieben an seinem Stammplatz saß, fest damit, dass Officer Vaughan innerhalb der nächsten zehn Minuten hereinkommen würde.

Was sie tat.

Er sah sie mit ihrem Streifenwagen vorfahren und parken. Beobachtete, wie sie ausstieg, beide Hände in ihr Kreuz drückte und sich streckte. Dann schloss sie ab und ging zum Eingang. Sie kam herein, sah ihn und zögerte einen Augenblick, bevor sie ihre Richtung änderte und ihm gegenüber in die Sitznische glitt.

Er fragte: »Erdbeere, Vanille oder Schokolade? Mehr haben sie nicht.«

»Wovon?«

»Milchshakes.«

»Ich trinke mein Frühstück nicht mit Idioten.«

»Ich bin kein Idiot. Ich bin ein Bürger, der ein Problem hat. Sie sind verpflichtet, mir zu helfen. Das steht auf Ihrer Plakette.«

»Was für ein Problem?«

»Das Mädchen hat mich gefunden.«

»Und hatten Sie ihren Freund gesehen?«

»Tatsächlich ihren Ehemann.«

»Wirklich?«, fragte Vaughan. »Sie ist sehr jung, um verheiratet zu sein.«

»Das dachte ich auch. Sie hat gesagt, es sei eine Liebesheirat gewesen.«

»Jetzt müssten Violinen einsetzen. Hatten Sie ihn also gesehen?«

»Nein.«

»Wo liegt also Ihr Problem?«

»Ich habe jemand anders gesehen.«

»Wen?«

»Eigentlich nicht gesehen. Es war stockfinster. Ich bin über ihn gestolpert.«

»Über wen?«

»Einen toten Kerl.«

»Wo?«

»Auf dem Rückweg von Despair.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Hundertprozentig«, sagte Reacher. »Die Leiche eines jungen Mannes.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Das meine ich todernst.«

»Warum haben Sie mir das nicht schon heute Nacht gesagt?«

»Ich wollte erst darüber nachdenken.«

»Sie muten mir verdammt viel zu. Dort draußen liegen Hunderte von Quadratkilometern Buschland. Und Sie stolpern in rabenschwarzer Nacht ›zufällig‹ über einen Toten? Halten Sie das nicht auch für höchst unwahrscheinlich?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Reacher. »Ich denke, dass er wie ich zu Fuß aus Despair nach Hope unterwegs war – nahe genug an der Straße, um sich nicht zu verlaufen, und weit genug entfernt, um nicht entdeckt zu werden. So war er auf einem ganz bestimmten Geländestreifen unterwegs. Ich hätte ihn um ein paar Meter verpassen können, aber niemals um einen Kilometer.«

Vaughan schwieg.

»Aber er hat’s nicht ganz geschafft«, fuhr Reacher fort. »Er war ausgepumpt, denke ich. Seine Knie waren ziemlich tief im Sand vergraben. Ich glaube, dass er auf die Knie gefallen, nach vorn gesunken und gestorben ist. Er war abgemagert und dehydriert. Keine Verletzungen, kein Trauma.«

»Was, Sie haben eine Autopsie bei diesem Mann vorgenommen? In der Dunkelheit?«

»Ich habe ihn abgetastet.«

»Abgetastet?«

»Der Tastsinn gehört zu den fünf Sinnen, auf die wir uns verlassen«, erklärte Reacher.

»Wer war dieser Kerl also?«

»Seinem Haar nach ein Weißer. Ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, fünfundsechzig Kilo. Jung. Kein Ausweis. Ob er blond oder schwarzhaarig war, weiß ich nicht.«

»Unglaublich!«

»Aber wahr.«

»Wo genau?«

»Ungefähr vier Meilen außerhalb der Stadt, acht Meilen vor der Gemeindegrenze.«

»Also eindeutig in Despair.«

»Ohne Frage.«

»Sie sollten die Polizeistation in Despair verständigen.«

»Auf die würde ich nicht mal pissen, wenn sie in Flammen stünde.«

»Nun, ich kann Ihnen nicht helfen. Dort drüben bin ich nicht zuständig.«

Die Bedienung trat an ihren Tisch. Die Frau, die tagsüber bediente, die Zeugin von Reachers Koffeinmarathon. Sie wirkte nervös und gehetzt. Das Lokal füllte sich rasch. Kleinstadt-Amerika zur Frühstückszeit. Reacher bestellte Kaffee und Rührei mit Schinken. Auch Vaughan orderte Kaffee, was Reacher für ein gutes Zeichen hielt. Er wartete, bis die Bedienung wieder gegangen war, bevor er sagte: »Sie können mir helfen.«

Vaughan fragte: »Wie?«

»Ich möchte noch mal dorthin und mich bei Tageslicht umsehen. Sie könnten mich fahren. Nur schnell hin und sofort wieder zurück.«

»Dort drüben bin ich nicht zuständig.«

»Inoffiziell. Nach Dienst. Wie ein Tourist. Dies ist ein freies Land. Sie haben das Recht, ihre Straße zu befahren.«

»Könnten Sie die Stelle wiederfinden?«

»Ich habe sie am Straßenrand mit einem Steinmännchen gekennzeichnet.«

»Unmöglich«, sagte Vaughan. »Ich kann nicht dort drüben herumschnüffeln. Und erst recht kann ich Sie nicht hinfahren. Sie sind ausgewiesen worden. Das wäre eine ungeheure Provokation.«

»Niemand würde davon erfahren.«

»Glauben Sie? Despair hat zwei Zufahrten und zwei Streifenwagen.«

»Im Augenblick sitzen Ihre Kollegen dort bei Donuts in ihrem Restaurant.«

»Wissen Sie bestimmt, dass Sie das alles nicht bloß geträumt haben?«

»Garantiert nicht«, entgegnete Reacher. »Der Junge hatte Augäpfel wie Murmeln, und seine Mundhöhle war trocken wie Sohlenleder. Er muss tagelang unterwegs gewesen sein.«

Die Bedienung kam mit dem Kaffee und dem Rührei zurück. Die Eier waren mit einem Stängel Petersilie dekoriert. Reacher griff danach und legte ihn auf den Tellerrand.

Vaughan sagte: »Ich darf nicht mit meinem Dienstwagen aus Hope in Despair unterwegs sein.«

»Was haben Sie sonst noch?«

Sie schwieg einige Sekunden lang. Schlürfte nachdenklich einen kleinen Schluck von ihrem Kaffee. Dann sagte sie: »Ich habe einen alten Pick-up.«

Er musste in der Nähe des Eisenwarengeschäfts auf dem Gehsteig der First Street warten. Sie hatte offenbar nicht die Absicht, ihn mit nach Hause zu nehmen, während sie sich umzog und das Fahrzeug wechselte. Verständliche Vorsicht, fand er. Sehen Sie sich doch an, hatte sie gesagt. Was sehen Sie? An negative Antworten auf diese Frage gewöhnte er sich allmählich. Der Laden hatte noch geschlossen. Sein Schaufenster war voller Werkzeug und Heimwerkerbedarf. Auf dem Gang hinter der Tür türmten sich Artikel, die später auf dem Gehsteig ausgestellt werden würden. Reacher fragte sich seit vielen Jahren, weshalb Eisenwarengeschäfte auf dem Gehsteig ausstellten. Das machte viel Mühe. Zweimal täglich langweilige körperliche Arbeit. Aber vielleicht diktierte die Kundenpsychologie, dass große Gebrauchsgegenstände sich im Freien besser verkauften. Oder vielleicht war das nur eine Frage der Verkaufsfläche. Er dachte kurz darüber nach, kam zu keinem bestimmten Ergebnis, trat dann vom Schaufenster weg und lehnte sich an den Pfosten mit dem Schild, das vor einem Fußgängerübergang warnte. Der Morgen war kalt und grau heraufgedämmert. Wolkenschleier schienen bis zur Erde zu reichen. Heute waren die Rockys überhaupt nicht zu sehen.

Fast zwanzig Minuten später hielt ein uralter Chevrolet Pick-up gegenüber am Randstein. Kein rundlicher Klassiker aus den vierziger Jahren, kein futuristisches Space-Age-Design aus den Fünfzigern, auch kein muskulöser El Camino aus den sechziger Jahren. Nur ein schlichter amerikanischer Gebrauchtwagen, etwa fünfzehn Jahre alt, stumpfer blauer Lack, Stahlfelgen, keine Breitreifen.

Vaughan saß am Steuer. Sie trug eine rote Windjacke, deren Reißverschluss bis unters Kinn hochgezogen war, und eine tief ins Gesicht gezogene khakifarbene Baseballmütze. Eine gute Tarnung. Reacher hätte sie nicht erkannt, wenn er nicht auf sie gewartet hätte. Er ging über den Zebrastreifen, stieg ein und setzte sich auf einen kleinen Kunstledersitz mit gerader Rückenlehne. Im Fahrerhaus roch es nach Benzin und kalten Auspuffgasen. Die Fußmatten unter seinen Schuhen waren mit Wüstenstaub bedeckt, von Alter und Abnutzung papierdünn. Reacher knallte seine Tür zu, und Vaughan fuhr los. Der Truck hatte einen asthmatischen Vierzylindermotor. Nur schnell hin und sofort wieder zurück, hatte er gesagt. Aber schnell würde offensichtlich ein relativer Begriff sein.

Für die zu Hope gehörenden fünf Meilen Straße brauchten sie sieben Minuten. Hundert Meter vor der Gemeindegrenze sagte Vaughan: »Falls wir jemanden sehen, ducken Sie sich.« Dann gab sie mehr Gas, und die Dehnungsfuge rumpelte unter den Reifen hindurch, die jetzt auf dem gröberen Straßenbelag von Despair polterten.

»Kommen Sie häufig hierher?«, fragte Reacher.

»Wozu sollte ich?«, antwortete Vaughan.

Auf der völlig geraden Straße herrschte kein Verkehr. Sie erstreckte sich mal steigend, mal fallend in dunstige Ferne. Vaughan fuhr genau sechzig. Eine Meile in der Minute, vermutlich die Höchstgeschwindigkeit, die sie ihrem alten Truck noch zumuten durfte.

Nach sieben Minuten auf feindlichem Gebiet nahm sie etwas Gas weg.

»Achten Sie auf das linke Bankett«, sagte Reacher. »Vier Steine in zwei Lagen.«

Das Wetter war besser, war leuchtend grau geworden. Nicht hell, nicht sonnig, aber alles perfekt ausgeleuchtet. Keine Blendung, keine Schatten. Auf dem Bankett lagen alle möglichen Abfälle. Nicht allzu viele, aber genug, dass Reachers Steinmännchen nicht sofort wie ein Leuchtturm herausragen würde. Es gab Wasserflaschen aus Kunststoff, Bierflaschen, Getränkedosen, Papier und unbedeutende kleine Autoteile, alle auf dem endlosen niedrigen Wall aus Split, den Reifen zur Seite geschleudert hatten. Reacher drehte sich auf dem Beifahrersitz um. Niemand hinter ihnen. Niemand vor ihnen. Vaughan fuhr noch etwas langsamer. Reacher suchte das linke Bankett ab. Nachts waren ihm die Steine in seinen Händen groß und auffällig erschienen. Aber in dieser Weite und bei Tageslicht würden sie mickrig aussehen, das wusste er.

Vaughan driftete etwas mehr in die Straßenmitte und fuhr noch langsamer.

»Da!«, sagte Reacher.

Er sah sein Steinmännchen dreißig Meter vor ihnen am linken Straßenrand. Drei Steine als Fundament, ein vierter darauf ausbalanciert. Ein Punkt in der Weite, mitten im Niemandsland. Nach Süden hin erstreckte sich das Gelände mit hellen Büschen und dunklen Felsen, zwischen denen Senken und kleine Erhebungen lagen, überwiegend eben und fast gestaltlos bis zum Horizont.

»Hier?«, fragte Vaughan.

»Etwas über zwanzig Meter genau südlich«, sagte Reacher.

Er kontrollierte nochmals die Straße. Niemand vor ihnen, niemand hinter ihnen.

»Alles okay«, sagte er.

Vaughan fuhr an den Steinen vorbei, bog aufs rechte Bankett aus und wendete über beide Fahrbahnen hinweg. Kam nach Osten zurück und hielt genau neben dem Steinmännchen. Sie nahm den Gang heraus und ließ den Motor im Leerlauf weiterarbeiten.

»Sie bleiben hier«, sagte sie.

»Bockmist«, sagte Reacher. Er stieg aus, machte einen Schritt über die Steine hinweg und wartete auf dem Bankett. In dieser hellen Weite kam er sich winzig vor. Bei Dunkelheit war die Welt auf Armeslänge um ihn herum zusammengeschrumpft gewesen. Jetzt erschien sie ihm wieder riesig. Als Vaughan um den Wagen herumkam, führte er sie rechtwinklig von der Straße weg nach Süden, fünf Schritte, zehn, fünfzehn. Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und überprüfte seine Richtung, indem er sich umschaute. Dann stand er still und suchte die Umgebung ab, erst mit kleinem, dann mit größer werdendem Radius.

Er sah nichts.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, verrenkte sich den Hals und suchte weiter.

Hier gab es nichts zu sehen.

Outlaw - Child, L: Outlaw - Nothing to Lose
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