51
Vaughan verabschiedete sich von ihrem Mann und ging dann mit Reacher durch schmutzige Korridore und den grässlichen Aufenthaltsraum in den Empfangsbereich zurück. Der Kerl in dem grauen Sweatshirt sagte: »Auf Wiedersehen, Mrs. Vaughan.« Sie traten ins Freie und gingen zu dem neben den anderen Autos geparkten Crown Vic. Reacher blieb an den Wagen gelehnt stehen, während Vaughan weiterlief. Er wartete, bis sie nur noch ein Punkt in der Ferne war, dann ging er zum Haupteingang zurück. Die Stufen hinauf, durch die Tür. Er trat an den Kasten und fragte: »Wer ist hier verantwortlich?«
Der Kerl in dem grauen Sweatshirt antwortete: »Ich, denke ich. Ich bin der Schichtleiter.«
Reacher fragte: »Wie viele Patienten haben Sie hier?«
»Siebzehn«, sagte der Kerl.
»Wer sind sie?«
»Bloß Patienten, Mann. Wen sie uns gerade schicken.«
»Sie führen diese Einrichtung nach Dienstvorschrift?«
»Klar. Alles bürokratisch geregelt wie überall.«
»Haben Sie ein Exemplar der Dienstvorschrift zur Hand?«
»Irgendwo.«
»Können Sie mir zeigen, wo drinsteht, dass es in Ordnung ist, die Zimmer verdrecken zu lassen und Mäusescheiße auf den Korridoren zu haben?«
Der Kerl blinzelte, schluckte trocken und sagte: »Saubermachen hat keinen Zweck, Mann. Sie würden’s nicht wissen. Wie denn auch? Hier ist das Gemüsebeet.«
»Nennen Sie es so?«
»Das ist es, Mann.«
»Falsch«, sagte Reacher. »Dies ist kein Gemüsebeet. Dies ist eine Veteranenklinik. Und Sie sind ein Stück Scheiße.«
»He, nicht so verbissen, Mann. Was kümmert Sie das?«
»David Robert Vaughan ist mein Bruder.«
»Wirklich?«
»Alle Veteranen sind meine Brüder.«
»Er ist hirntot, Mann.«
»Sie auch?«
»Nein.«
»Dann hören Sie jetzt zu. Und passen Sie sehr gut auf. Jemand, der unglücklicher ist als Sie, verdient das Beste, das Sie geben können. Wegen Pflicht und Ehre und Dienst. Verstehen Sie diese Worte? Sie sollten Ihre Arbeit richtig machen, und Sie sollten gute Arbeit leisten, einfach weil Sie können – ohne auf Lohn oder Anerkennung zu schielen. Die Männer hier verdienen Ihr Bestes, und ich weiß verdammt sicher, dass ihre Verwandten es verdienen.«
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin ein besorgter Bürger, dem mehrere Möglichkeiten offenstehen«, antwortete Reacher. »Ich könnte Ihren Arbeitgeber in Verlegenheit bringen, ich könnte Zeitungen oder das Fernsehen anrufen, ich könnte mit einer versteckten Kamera herkommen, ich könnte dafür sorgen, dass Sie rausfliegen. Aber das ist nicht meine Art. Ich biete stattdessen persönliche Wahlmöglichkeiten an. Wollen Sie wissen, welche Wahl Sie haben?«
»Welche?«
»Sie tun, was ich Ihnen sage – mit freundlichem Lächeln.«
»Oder?«
»Oder Sie werden Patient Nummer achtzehn.«
Der Kerl schwieg.
Reacher sagte: »Aufstehen.«
»Was?«
»Auf die Beine. Sofort.«
»Was?«
Reacher befahl: »Stehen Sie sofort auf, sonst sorge ich dafür, dass Sie nie mehr stehen können.«
Der Mann zögerte kurz, dann stand er auf.
»Stillgestanden«, sagte Reacher. »Füße zusammen, Schultern zurück, Brust raus, Kopf hoch, Augen geradeaus, Arme gestreckt, Hände angelegt, Daumen parallel zur Hosennaht.« Manche Offiziere, die er gekannt hatte, hatten geblafft und gebrüllt und geschrien. Er hatte es immer effektiver gefunden, leise und ruhig zu sprechen, jedes Wort klar und deutlich zu betonen, als spräche er mit einem zurückgebliebenen Kind, und den Angesprochenen mit eisigem Blick einzuschüchtern. Das machte die angedeutete Bedrohung unmissverständlich. Ruhige, geduldige Stimme, hünenhafte Erscheinung. Die Dissonanz war verblüffend. Das hatte früher funktioniert, und es funktionierte auch diesmal. Der Kerl in dem Sweatshirt schluckte und blinzelte und versuchte tatsächlich, Haltung anzunehmen.
Reacher sagte: »Ihre Patienten sind nicht irgendwelche Leute, die man Ihnen schickt. Ihre Patienten sind Menschen. Sie haben ihrem Land ehrenvoll und mit Auszeichnung gedient. Sie haben Anspruch darauf, mit einem Maximum an Sorgfalt und Respekt behandelt zu werden.«
Der Kerl schwieg.
Reacher fuhr fort: »Dieses Pflegeheim ist eine Schande. Es ist schmutzig und chaotisch. Passen Sie also auf. Sie setzen Ihren mageren Arsch in Bewegung, organisieren Ihre Leute und lassen es gründlich putzen. Sofort. Ich komme wieder – vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche, vielleicht nächsten Monat –, und wenn mein Gesicht sich dann nicht im Fußboden spiegelt, stelle ich Sie auf den Kopf und benutze Sie als Mopp. Anschließend trete ich Sie so fest in den Hintern, dass Ihr Rückgrat zwischen Ihre Zähne gerät. Ist das klar?«
Der Kerl zögerte, trat von einem Fuß auf den anderen und blinzelte. Nach langer Pause sagte er: »Okay.«
»Mit fröhlichem Lächeln«, sagte Reacher.
Der Kerl rang sich ein Lächeln ab.
»Breiter«, befahl Reacher.
Der Kerl zog trockene Lippen über trockene Zähne hoch.
»So ist’s gut«, sagte Reacher. »Und Sie werden sich die Haare schneiden lassen, und Sie werden jeden Tag duschen. Und wenn Mrs. Vaughan zu Besuch kommt, werden Sie jedes Mal aufstehen und sie herzlich begrüßen und sie persönlich zum Zimmer ihres Mannes begleiten. Und das Zimmer ihres Mannes wird sauber, ihr Mann rasiert, das Fenster glänzend geputzt und der Fußboden so gebohnert sein, dass Mrs. Vaughan ernstlich Gefahr läuft, auszurutschen und sich wehzutun. Ist das klar?«
»Okay.«
»Ist das klar?«
»Ja.«
»Restlos klar?«
»Ja.«
»Kristallklar?«
»Ja.«
»Ja, was?«
»Ja, Sir.«
»Sie haben sechzig Sekunden Zeit, damit anzufangen, bevor ich Ihnen den Arm breche.«
Der Kerl telefonierte, während er noch stand, und benutzte sein Funkgerät. Binnen fünfzig Sekunden tauchten drei Kerle im Empfangsbereich auf. Nach genau sechzig Sekunden kam ein vierter Mann dazu. Eine Minute später hatten sie Eimer und Mopps aus einer Besenkammer geholt, und wieder eine Minute später waren die Eimer voll Wasser. Alle fünf Kerle sahen sich um, als stünden sie vor einer Herkulesaufgabe. Reacher überließ es ihnen, sie zu bewältigen. Er ging zum Auto zurück und machte sich auf den Weg, Vaughan einzusammeln.
Er fuhr langsam und holte sie nach einer Meile auf der Militärstraße ein. Sie stieg ein, und er fuhr weiter, folgte der Route durch die Pinien, durch die Hügel zurück. Sie sagte: »Danke, dass Sie mitgekommen sind.«
»Kein Problem.«
»Sie wissen, warum ich das wollte?«
»Ja.«
»Sagen Sie’s mir.«
»Sie wollten, dass jemand versteht, warum Sie leben, wie Sie leben, und tun, was Sie tun.«
»Und?«
»Sie wollten, dass jemand versteht, wieso es in Ordnung ist, was Sie als Nächstes tun werden.«
»Und das wäre?«
»Das hängt von Ihnen ab. Mir ist eins so recht wie das andere.«
Sie sagte: »Ich habe Sie zuvor belogen.«
Er sagte: »Ich weiß.«
»Wirklich?«
Er nickte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Sie haben von Thurmans Militärkontrakt gewusst. Und von dem MP-Stützpunkt. Das Pentagon hat nicht nur Sie, sondern auch das Halfway Police Department genau informiert. Das ist nur vernünftig. Ich wette, dass der Stützpunkt in Ihrem Telefonverzeichnis in Ihrer Schublade steht – unter M wie Militärpolizei.«
»Stimmt.«
»Aber Sie wollten nicht darüber reden, was bedeutet, dass dort nicht einfach nur irgendwelcher Militärschrott wiederverwertet wird.«
»Wirklich nicht?«
Reacher schüttelte den Kopf. »Sondern zerstörte Militärfahrzeuge aus dem Irak. Das ist die einzig logische Erklärung. Daher sind viele der ankommenden Sattelschlepper in New Jersey zugelassen. Wegen der dortigen Häfen. Wieso würden sie gewöhnlichen Schrott nicht in Pennsylvania oder Indiana abladen? Und wozu sollte gewöhnlicher Schrott in geschlossenen Containern transportiert werden? Weil Thurmans Anlage ein hochspezialisiertes Unternehmen ist. Und natürlich streng geheim.«
»Tut mir leid.«
»Nicht nötig. Sie wollten nicht darüber reden. Sie wollten nicht mal daran denken. Daher der Versuch, mich daran zu hindern, mir die Anlage aus der Nähe anzusehen. Sie haben mir dringend davon abgeraten. Dort gebe es nichts zu sehen, haben Sie gesagt.«
»Dort werden in die Luft gejagte Humvees eingeschmolzen«, sagte sie. »Für mich sind das Denkmäler. Erinnerungsstücke an die Leute, die gestorben sind. Oder fast gestorben sind.«
Dann fügte sie hinzu: »Oder an die Leute, die hätten sterben sollen.«
Sie fuhren nach Nordosten durch die niedrigen Ausläufer der Rockys zurück zur I-70 und dem langen Bogen nahe der Staatsgrenze zu Kansas. Reacher bemerkte: »Aber das erklärt Thurmans Geheimnistuerei nicht.«
Vaughan sagte: »Vielleicht handelt er aus Respekt. Vielleicht sieht auch er sie als Erinnerungsstücke.«
»Hat er jemals gedient?«
»Das glaube ich nicht.«
»Hat er einen Angehörigen verloren?«
»Keine Ahnung.«
»War jemand aus Despair im Irak?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Also kann es nichts mit Respekt zu tun haben. Und es wäre auch keine Erklärung für die MPs. Was gibt es da zu stehlen? Ein Humvee ist im Prinzip nur ein Truck. Panzerung besteht aus einfachen Stahlplatten, wenn sie überhaupt angebracht ist. Nicht mal ein M60 würde eine große Sprengladung überleben.«
Vaughan schwieg.
Reacher sagte: »Und es ist keine Erklärung für die regelmäßigen Flüge.«
Vaughan gab keine Antwort.
Reacher sagte: »Und nichts erklärt alle diese jungen Kerle.«
»Sie wollen also noch bleiben.«
Er nickte, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
»Noch eine Weile«, erwiderte er. »Weil ich glaube, dass bald etwas passieren wird. Dieser Mob hat mich beeindruckt. Würden die Leute solche Leidenschaft für den Anfang einer Sache aufbringen? Oder für die Mitte? Das glaube ich nicht. Ich denke, dass sie alle so erregt waren, weil sie wussten, dass das Ende einer Sache bevorsteht.«