Wo ein Wille ist
„April hat mich zu sich nach Hause eingeladen“, erzählte Myriam ihren Eltern beim Abendessen. „Nach Kalifornien.“
„Ich dachte, sie ist für ein Jahr hier in Deutschland?“, fragte Herr Frey.
„Na ja, nicht sofort“, erklärte Myriam. „Natürlich wenn sie wieder zurück ist.“
„Ach, diese Amerikaner“, sagte ihre Mutter, während sie Myriam eine Schüssel mit Tomatensalat reichte. „Die tun immer so überschwänglich. Aber wenn es dann so weit ist, haben sie keine Ahnung mehr, was sie dir versprochen haben. Ich würde da nicht zu viel drauf geben.“
„Ich glaub nicht, dass sie das nur so gesagt hat“, beharrte Myriam. Das war allerdings reines Wunschdenken. Sie kannte April kaum und hatte keine Ahnung, ob ihr Angebot ernst gemeint war oder ob April nur dahergeredet hatte. Aber die Vorstellung gefiel ihr so gut, dass sie es einfach glauben wollte.
„Das wäre ja auch das Blödeste, was du machen könntest“, wandte ihr Vater ein. „Nach einem Jahr in Deutschland spricht dieses Mädchen fließend Deutsch. Wenn du in die USA gehst, musst du an irgendeine Highschool, wo kein anderer Deutscher ist. Du willst schließlich die Sprache lernen. Ich hab kürzlich mit einem meiner amerikanischen Kollegen gesprochen, Bill Campbell aus Providence, der ganz exzellente Kontakte hat.“ Es folgte ein Vortrag über Bill und seine Kontakte und das amerikanische Schulsystem im Allgemeinen und wie wichtig es sei, in die richtigen Kreise zu kommen.
Myriam hörte gar nicht zu. Sie kannte diese Monologe viel zu gut. Das Leben ist kein Kinderspiel, man muss sich anstrengen und alles geben und die Ellenbogen benutzen, wenn man es zu etwas bringen will. Wer sich nicht richtig reinhängt, geht gnadenlos unter. Das predigte ihr Vater ihr seit dem Kindergarten.
Myriams ältere Geschwister Marie-Claire und Torben studierten auf Eliteuniversitäten in Kanada und Großbritannien. Ihre Eltern waren sehr stolz auf sie. Myriam dagegen kam sich wie das Sorgenkind vor, obwohl sie Klassenbeste war und fast nur Einsen schrieb.
„Du hast einfach nicht den richtigen Drive“, sagte ihr Vater immer. „Du hättest locker zwei Klassen überspringen können.“
„Ja und?“, gab Myriam zurück. „Dann wäre ich die Allerjüngste in der Klasse. Das will ich nicht.“
„Wenn du wenigstens deine Freizeit besser nutzen würdest“, nörgelte ihr Vater dann weiter. „Spiel doch Golf oder Tennis. Oder mach bei diesem Chinesisch-Sprachkurs mit, von dem ich dir erzählt habe. Stattdessen verplemperst du deine Nachmittage auf dieser lächerlichen Pferderanch.“
Er war es auch, der sie damals gedrängt hatte, von Sunshine auf die neue Kingsize Ranch zu wechseln. Wenn seine Tochter schon ritt, dann wollte Herr Frey zumindest, dass sie an Turnieren teilnahm und diese auch gewann.
Seit sie gescheitert war, ignorierte er ihr Hobby genau wie früher. Besser so, dachte Myriam, aber gleichzeitig ärgerte sie die Haltung ihres Vaters. Am meisten ärgerte sie sich jedoch über sich selbst. Warum widersprach sie ihm nie, warum schluckte sie ihre Wut immer nur runter?
„Ist was, Myriam?“, fragte er jetzt. „Du guckst so sauer.“
„Schon okay“, murmelte sie und schob sich eine Gabel Tomatensalat in den Mund. Dabei hasste sie Tomatensalat.
Wenn April sich einmal eine Sache in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie sie auch durch. „Sue fand die Idee mit dem Freestyle-Turnier am Anfang ziemlich blöd“, erklärte sie den Pferdemädchen am anderen Morgen. „Aber Stefan war begeistert davon. Und gemeinsam haben wir sie schließlich überzeugt.“
„Und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Juliana. Tori hatte sie und die anderen natürlich gleich eingeweiht und alle waren Feuer und Flamme für den Plan. „Wir müssen ja einen geeigneten Trainer für das Turnier finden.“
„Vielleicht haben wir den schon“, erwiderte April. „Oder vielmehr: die.“
„Wie das denn?“, wollte Tori wissen.
„Sue kennt vielleicht jemanden“, erzählte April strahlend. „Sie hat vor Kurzem eine Bewerbung von einer Reining-Trainerin bekommen. Für die Ranch kam sie nicht infrage, Sue sucht ja einen Lehrer für Trail. Aber diese Frau macht wohl auch Workshops. Sue fragt jetzt mal nach, ob sie interessiert ist und Zeit hat und wie viel das Ganze überhaupt kostet. Und wenn die Konditionen stimmen, dann können wir mit der Organisation loslegen.“
„Es muss aber unbedingt in den nächsten drei Wochen passieren“, jammerte Tori. „Danach bin ich doch auf Mallorca. Und wenn ihr hier Freestyle reitet, während ich mir auf Malle den Supersonnenbrand hole, krieg ich die totale Krise.“
„Kein Problem“, meinte April. „Das schaffen wir. Wir brauchen nur noch ein paar Teilnehmer für den Workshop.“
„Also wir sechs sind auf jeden Fall schon mal dabei“, erklärte Sina. „Wenn du auch mitmachst, sind wir zu siebt.“
„Wir sechs sind auf jeden Fall dabei“, wiederholte Ayla anklagend. „Das sagst du so einfach. Wenn der Workshop zu teuer wird, spielen meine Eltern nicht mit. Und ich hab so gut wie nichts mehr in der Spardose.“
„Da finden wir noch eine Lösung“, tröstete Tori sie. „Zur Not legen wir eben zusammen, dass du auch mitmachen kannst.“
„Und sonst? Ihr müsst mit allen euren Bekannten reden, die schon mal geritten sind. Wir brauchen noch mindestens drei Teilnehmer“, sagte April.
„Viktor macht bestimmt mit“, sagte Sina. „Wenn er wieder von seiner Freizeit zurück ist.“
„Und Hannes auch“, sagte Hannah. „Ich frag ihn heute Abend, wenn wir telefonieren.“
„Das wären zwei“, meinte April. „Super. Fehlt nur noch einer.“
„Jana und Anne aus der Schule können wir auch mal fragen“, schlug Juliana vor. „Die sind früher viel geritten. Vielleicht haben sie Lust mitzumachen. Ich ruf die an.“
„Das klingt doch gut“, meinte April. „Macht ordentlich Werbung, dann wird das schon.“
„Es klappt“, verkündete sie nur eine Woche später stolz. „Die Trainerin hat zugesagt, die Organisation steht, und ich hab sogar schon einen Caterer gefunden, der uns in den drei Tagen das Essen liefert.“
Der Termin lag in der drittletzten Ferienwoche, sodass Tori daran teilnehmen konnte.
„Wie machst du das bloß?“, fragte Hannah beeindruckt. „Unfassbar, was du in der kurzen Zeit auf die Beine gestellt hast!“
„Und alles ist so günstig!“, freute sich Ayla. „Ich frag mich auch, wie du das hingekriegt hast.“
„Ich hab einfach gepokert. Die Pizzeria, die das Essen liefert, hab ich fast um die Hälfte runtergehandelt. Ich hab denen erzählt, dass ich verschiedene Angebote hätte, die alle viel billiger wären, da sind sie eingeknickt.“
„Und die Trainerin?“, erkundigte sich Sina. „Wie ist die so drauf?“
„Die ist echt nett“, sagte April. „Als sie hörte, dass wir so knapp bei Kasse sind, hat sie von sich aus angeboten, die Zugfahrkarte selbst zu bezahlen.“
„Und das Hotel?“, fragte Ayla.
„Sie schläft bei Sue. Da ist schließlich genug Platz.“
„Wow! Du bist super, April“, meinte Juliana.
„Ach Quatsch! Ich labere einfach so lange rum, bis die Leute keinen Nerv mehr haben, mir zu widersprechen. Und wenn sie doch mit irgendwelchen Einwänden kommen, tu ich so, als ob ich sie nicht verstehe. ‚What? I’m American, I’m really stupid you know‘ – und schon knicken sie ein.“
„Trotzdem. Wenn ich mir vorstelle, dass ich so etwas in Amerika organisieren müsste, ich würd durchdrehen. Und du machst das einfach so mit links.“
„Ach, das könntest du auch. Man muss nur irgendwo anfangen, dann geht der Rest von ganz allein.“
„Aber wenn ich das richtig sehe, dann fehlt uns immer noch ein Teilnehmer“, sagte Myriam nach einem Blick auf Aprils Anmeldeliste. Außer ihren sieben Namen standen bisher nur Hannes und Viktor auf der Liste.
„Das stimmt“, meinte April. „Zehn sollten wir schon sein, sonst kommen wir mit dem Preis nicht hin.“
„Was ist denn mit dieser Jana und dem anderen Mädchen aus der Schule, Juliana?“, erkundigte sich Ayla. „Wolltest du die nicht fragen?“
„Hab ich schon“, meinte Juliana. „Die sind beide im Urlaub.“
„Ich hab auch schon alles probiert“, sagte Tori. „Leider tote Hose, alle, die mir eingefallen sind, sind gerade weg. Was ist denn mit dir, Myriam? Von deiner Zeit auf Kingsize müsstest du doch ein paar Leute kennen, die jetzt in den Seilen hängen, weil die Ranch dichtgemacht hat. Da kann man mal nachhaken.“
Ach, jetzt plötzlich sollte Myriam ihre Kontakte von der anderen Ranch nutzen, obwohl Tori ihr diese Geschichte bisher am meisten verübelt hatte!
„Ich hab damals kaum jemand kennengelernt“, sagte Myriam widerwillig.
„Denk trotzdem mal drüber nach. Und ihr anderen auch“, sagte April. „Es kann nicht so schwer sein, jemanden zu finden, der bei diesem Superprogramm mitmachen will.“
Es war aber schwer.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein“, sagte April eine Woche vor dem Workshop empört. „Ihr könnt mir nicht erzählen, dass keine Einzige von euch es geschafft hat, noch jemanden ins Boot zu holen!“
„Ich hab überall rumgefragt“, verteidigte sich Tori. „Die halbe Stadt ist gerade im Urlaub.“
„Aber die andere Hälfte ist zu Hause und langweilt sich“, wandte April ein.
„Was ist mit den Kingsize-Leuten?“, fragte Sina Myriam. „Ist dir niemand mehr eingefallen?“
Nein, Myriam war niemand mehr eingefallen. Weil sie nämlich gar nicht erst darüber nachgedacht hatte. Schließlich wollte sie die ganze Kingsize-Episode und alles, was damit zusammenhing, so schnell wie möglich vergessen.
Als die anderen sie jetzt vorwurfsvoll anblickten, versuchte sie sich die Mädchen wieder ins Gedächtnis zu rufen, die auf Kingsize Reining trainiert hatten. Sie erinnerte sich an eine große Blonde, die ziemlich gut gewesen war. Sie war ein bisschen älter als Myriam, vielleicht vierzehn oder sogar fünfzehn.
Wie hatte das Mädchen bloß geheißen?
Eva, Ester, Ellen …
„Ella“, murmelte Myriam. Das war es.
„Ella?“, wiederholte Sina sofort. „Und wie weiter?“
Keine Ahnung, wie das Mädchen mit Nachnamen hieß.
„Aber ich weiß vielleicht, wo sie wohnt“, meinte Myriam. Ella hatte ein neongrünes Mountainbike, das war Myriam immer aufgefallen. Und das gleiche Fahrrad stand oft vor einem Haus in der Parallelstraße der Ranch.
„Ella“, wiederholte Tori nachdenklich. „Und du weißt, wo sie wohnt. Das ist doch schon mal was.“
„Ich kenn die aber so gut wie gar nicht“, wandte Myriam ein. „Und bei der Adresse bin ich mir überhaupt nicht sicher.“
„Warum nicht?“, fragte April empört. „Du hättest mal bei ihr vorbeigehen können.“
„Wir stellst du dir das vor? Ich kann nicht einfach bei ihr klingeln und fragen, ob sie bei unserem Workshop mitmachen will.“
„Das geht vielleicht in Amerika“, meinte Hannah. „Aber hier in Deutschland kreuzen wir nicht plötzlich bei wildfremden Leuten auf und fragen sie, ob sie was mit uns unternehmen.“
„Wildfremd? Ich denke, ihr seid auf der gleichen Ranch geritten?“, fragte April.
„Na ja …“
„Ist auch egal. Ich komm mit, wenn du dich allein nicht traust. Vielleicht sagt sie Nein, dann gehen wir direkt wieder. Aber vielleicht ist sie auch begeistert und fällt uns vor Freude um den Hals, weil sie sich seit drei Wochen total langweilt.“
Myriam räusperte sich. „Also …“
„Also gut?“, fragte April.
Myriam seufzte. Gegen Aprils Optimismus und Unternehmungslust kam man einfach nicht an. „Also gut.“