Kopfschmerzen
Während sie auf die Pizza warteten, fiel Myriam plötzlich Sue wieder ein. Sie hatte ihr am Morgen versprochen, Sarahs Adresse herauszufinden. Das konnte sie noch schnell erledigen. Dann wäre der Tag zumindest nicht völlig nutzlos gewesen.
Myriam schaltete ihren Computer an und ging ins Internet. Was Sue wohl von Sarah wollte? Vielleicht konnte sie ihr doch einen Job auf der Sunshine Ranch anbieten. Der Workshop war ja ein Riesenerfolg gewesen.
„Sarah Reddich“ tippte Myriam in die Google-Suchmaske ein.
Der Name war so selten, dass gleich die ersten drei Suchergebnisse passten. Alle drei führten auf die Homepage einer Westernranch in Brunsbüttel in Schleswig-Holstein. Dort tauchte Sarahs Name unter der Liste der ehemaligen Trainer und Workshopleiter auf. Aber es gab keinen Hinweis darauf, wann sie dort gearbeitet hatte und was sie danach gemacht hatte.
Beim Workshop hatte sie erzählt, dass sie zurzeit auf einer Westernranch in Hamburg arbeitete. Aber davon fand sich im Internet keine Spur. Auch im Telefonbuch von Hamburg war ihr Name nicht verzeichnet.
„So ein Mist“, murmelte Myriam.
Vielleicht kannten die Leute von der Westernranch in Brunsbüttel ja Sarahs Adresse. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
Myriam rief die Telefonnummer der Ranch auf und wählte sie.
„Westernranch Horseshoe, Schneider“, meldete sich eine Frauenstimme.
„Hi. Hier spricht Myriam Frey.“ Sie erklärte ihr Anliegen. „Unsere Ranchbesitzerin hat noch eine Frage an Frau Reddich. Aber wir haben ihre Telefonnummer verloren. Wissen Sie vielleicht, wie wir sie erreichen können?“, fragte sie.
„Sarah Reddich?“, fragte die Frau am anderen Ende überrascht. „Die arbeitet schon lange nicht mehr bei uns.“
„Ich weiß“, sagte Myriam. „Aber vielleicht wissen Sie, wo sie jetzt wohnt.“
„Nee, tut mir leid. Wir haben den Kontakt verloren. Nach der Sache damals.“
Myriams Herz schlug laut und aufgeregt. Nach der Sache damals. Was sollte das bedeuten?
„Was ist denn damals geschehen?“, fragte sie vorsichtig.
„Nichts“, sagte die Frau schnell. „Das sind olle Kamellen. Irgendwann muss es auch mal gut sein.“
„Aber vielleicht ist es wichtig.“
„Nein. Ich hätte es nicht erwähnen sollen. Aber zu deiner Frage – nein, leider hab ich keine Ahnung, wo Sarah jetzt lebt. Wir haben keinen Kontakt mehr.“
Die Frau klang, als wolle sie jeden Moment auflegen.
„Dieser Vorfall … also, diese Sache, die damals passiert ist“, sagte Myriam hastig, „wurde da vielleicht ein Pferd entführt? Auf unserer Ranch ist nämlich ein teures Westernpferd gestohlen worden …“
„Diebstahl? Nein, das war damals was ganz anderes.“ Die Frau zögerte. „Sarah war tablettensüchtig“, erzählte sie dann. „Das wussten wir allerdings nicht, sonst hätten mein Mann und ich sie niemals für uns arbeiten lassen. Wir haben ihr vollkommen vertraut. Vor drei Jahren haben wir sie mit einer Kindergruppe auf eine Reiterfreizeit geschickt. Sie hat sich vollkommen zugedröhnt und überhaupt nicht mitbekommen, dass zwei zehnjährige Mädchen nachmittags ohne Begleitung ausgeritten sind. Die beiden hatten kaum Reiterfahrung. Eine von ihnen ist gestürzt und hat sich schwer verletzt. Glücklicherweise sind keine Schäden geblieben, aber die Kleine hätte gelähmt sein können. Oder tot.“ Die Frau seufzte. „Wir mussten Sarah entlassen. Die Sache hat sich in der Westernszene natürlich schnell rumgesprochen, Sarah bekam weit und breit keine Anstellung mehr. Ein Jammer, sie war eigentlich eine gute Trainerin.“
„Und dann?“, fragte Myriam. „Was hat sie dann gemacht?“
„Einen Entzug. Sie war in einer Drogenklinik. Ein paar Monate nach dem Unfall hat sie mich angerufen und mich gebeten, ihr noch eine Chance zu geben. Aber es ging einfach nicht. Unsere Reiter waren sehr aufgebracht, wir hätten unseren halben Kundenstamm verloren, wenn wir Sarah wieder eingestellt hätten.“ Noch ein Seufzer. „Ich hab kurz darauf gehört, dass Sarah aus Schleswig-Holstein weggezogen ist. Tja, jetzt lebt sie also in Düsseldorf.“
„Nee, eben nicht“, sagte Myriam. „Auf dem Workshop hat sie uns erzählt, dass sie auf einer Ranch in Hamburg arbeitet.“
„Na, wie auch immer.“ Die Frau räusperte sich. „Das ist auf jeden Fall alles, was ich dir über Sarah erzählen kann. Wenn du mit ihr sprichst … grüß sie herzlich von mir. Es tut mir leid, dass ich ihr damals nicht helfen konnte, ehrlich. Und ich hoffe, dass sie wieder Boden unter den Füßen gefunden hat. Jeder Mensch verdient eine zweite Chance.“
„Danke“, sagte Myriam. „Werd ich ihr ausrichten, wenn ich sie wiedersehe.“
„Viel Glück bei der Suche.“
„Danke“, murmelte Myriam noch einmal. Dann legte sie auf.
„Margherita oder Salami?“, fragte ihre Mutter, die zwei Pizzaschachteln in den Händen hielt, als wollte sie damit jonglieren.
Myriam starrte sie an. Margherita oder Salami – als ob das irgendeine Rolle spielte! Was hatte Sarah mit Charlies Entführung zu tun, das war doch hier die Frage! Ihre Gedanken überschlugen sich.
„Deine Mutter wartet auf eine Antwort, Myriam“, drängte ihr Vater. „Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“
„Salami.“ Warum konnten ihre Eltern sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sarahs Tablettensucht, der Unfall auf der Reiterfreizeit und ihr Absturz danach. Und jetzt Charlies Entführung. Hatte das eine mit dem anderen zu tun oder war das alles ein Zufall?
Seit Sarah ihre eigene Karriere zerstört hatte, war sie nicht mehr richtig auf die Füße gekommen. Und als sie bei dem Workshop erfahren hatte, was für ein kostbares Pferd April hatte, hatte sie spontan beschlossen, ihre Chance zu nutzen. Die Umstände waren günstig gewesen. Sarah wusste natürlich, dass der Stall niemals abgeschlossen wurde. Sie hatte Charlie nachts einfach herausgeführt und bis zum Morgen irgendwo versteckt. Vermutlich war sie danach sogar noch ins Büro eingebrochen und hatte ihre eigenen Bewerbungsunterlagen verschwinden lassen. Sodass es nun keine Möglichkeit gab, sie aufzuspüren.
Ich muss unbedingt mit den anderen sprechen, dachte Myriam.
Sie suchte verzweifelt nach einer Entschuldigung, um vom Tisch aufzustehen. Da klingelte das Telefon. Ihre Mutter nahm den Anruf entgegen.
„Für dich“, sagte sie missbilligend, als ob Myriam daran schuld wäre, dass jemand sie beim Essen störte.
„Hi“, sagte eine vertraute Stimme. „Stör ich?“
„April!“ Myriam erhob sich.
„Kannst du nicht zurückrufen, wenn wir mit dem Essen fertig sind?“, fragte ihre Mutter.
„Ich hab keinen Hunger mehr.“ Während ihre Mutter noch protestierte, verließ Myriam das Esszimmer, das Telefon am Ohr.
„Stell dir vor“, sagte April aufgeregt. „Mein Dad hat nachgegeben! Er hat mir das Geld heute Nachmittag per Expressanweisung geschickt. Ich war gerade auf der Post und habe es abgeholt. Ich bin so froh!“
„Vielleicht brauchst du das Lösegeld gar nicht mehr“, sagte Myriam schnell. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wer Charlie entführt hat.“
„Was? War es Ella?“
„Nein, das war eine Sackgasse. Ich glaube, es war Sarah.“
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Bist du noch dran?“
„What? Oh yes, sure. Wie kommst du denn auf Sarah?“
Myriam erzählte ihr von ihrem Telefongespräch mit der Ranchbesitzerin aus Brunsbüttel. „Sarah kriegt als Trainerin keinen Job mehr. Sie braucht dringend Geld. Und die Gelegenheit war günstig …“
„Ich weiß nicht. Meinst du wirklich? Sarah wirkte so nett.“
„Sie ist wahrscheinlich auch nett. Aber verzweifelt.“
„Hm“, machte April nachdenklich.
„Sie war es, ganz bestimmt! Da passt doch eins zum anderen. Du darfst das Lösegeld auf keinen Fall zahlen. Warst du denn heute bei der Polizei?“
„Nein. Ich werde die Entführung nicht melden. Selbst wenn es Sarah war – wir können überhaupt nichts beweisen. Und wir haben keine Ahnung, wo sie steckt und wo sie Charlie hingebracht hat. Wenn sie so verzweifelt ist, wie du sagst, bringt sie ihn am Ende vielleicht tatsächlich um.“
„Na hör mal, du willst ihr doch nicht einfach so die Kohle in den Rachen werfen! Wenn du nicht zur Polizei gehst, dann tu ich es. Ich werde auf keinen Fall tatenlos dabei zusehen, wie diese Frau das Geld einsackt und damit abhaut.“
„Das will ich auch nicht. O my god … ich bin total durcheinander. Wir müssen uns treffen und über die Sache reden. Hast du Zeit?“
„Klar.“ Ihre Eltern würden ausrasten, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. „Wo treffen wir uns?“
„Kannst du zur Ranch kommen?“
„Bin schon auf dem Weg. Sag Sue Bescheid. Sie sollte bei dem Gespräch auch dabei sein.“
Myriam legte auf. Wenn sie jetzt am Esszimmer vorbeiging, würden ihr ihre Eltern eine Szene machen. Dafür hatte sie keine Zeit.
Sie öffnete das Fenster und beugte sich nach draußen. Über den Sims konnte sie auf das Garagendach klettern. Die rechte Seite der Garage war vom Haus aus nicht zu sehen. Wenn sie sich an den Efeuranken nach unten hangelte, dann konnte sie vielleicht entkommen, ohne dass ihre Eltern etwas davon mitbekamen. Vorausgesetzt, sie brach sich beim Runtersteigen nicht den Hals.
Eine Sekunde später stand sie auf dem Dach. Sie legte sich auf den Bauch und schob ihre Beine über den Rand ins Leere. Gruselig! Einen Moment lang tasteten und suchten ihre Füße, dann fanden sie Halt in den dicken Ranken. Vorsichtig verlagerte Myriam ihr Gewicht auf die Beine. Die Ranken knarrten beängstigend. Aber sie hielten. Myriam kletterte einen Meter nach unten, dann stieß sie sich ab und sprang zu Boden. Geschafft.
Myriam hatte die Hälfte der Strecke zur Ranch zurückgelegt, als ihr Handy klingelte. Sie sprang vom Rad und kramte es aus der Tasche. Hoffentlich waren das nicht ihre Eltern! Ein Blick aufs Display. Sue ruft an.
„Hi, Myriam. Stör ich? Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass ich Tom deine Handynummer gegeben hab. Hoffentlich ist das okay.“
Tom! Sie hatten vereinbart, dass Myriam sich nach dem Treffen mit Ella bei ihm melden wollte. Das hatte sie vollkommen vergessen.
„Er war vorhin zum Reitunterricht auf der Ranch. Er hat es wirklich super gemacht! Und danach hat er mich gefragt, ob er deine Nummer haben könnte.“
„Das ist schon in Ordnung. Aber warum rufst du dafür extra an? Wir sehen uns doch gleich.“
„Wie meinst du das? Ich bin mit Stefan in der Stadt. Wir wollten gerade was essen gehen.“
Sue war gar nicht zu Hause. Wieso hatte April das eben nicht erwähnt?
„Was gibt’s denn?“, fragte Sue.
„Och, nichts Wichtiges. Kann ich dir später erzählen.“ Nichts Wichtiges. Das war ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.
„Are you sure?“
„Ganz bestimmt. Grüß Stefan, und guten Appetit!“
Myriam steckte das Handy zurück in die Tasche und stieg wieder aufs Fahrrad. Aber nach ein paar Metern begann es erneut zu klingeln. Das war bestimmt Tom. Diesmal nahm sie das Gespräch an, ohne aufs Display zu blicken.
„Myriam!“ Ihr Vater. So ein Mist! „Wo steckst du denn?“
„Ich … musste noch mal weg.“
„Wie bitte? Du schleichst dich einfach aus dem Haus, ohne uns Bescheid zu geben? Was sind denn das für Sitten!“
„Es ist total wichtig. Ich bin in einer Stunde wieder da, versprochen.“
„So geht das nicht. Ich will sofort wissen, wo du bist und was du vorhast!“
„Ich kann es dir nicht sagen“, sagte sie. „Es geht nicht. Ich … äh … muss auflegen.“
Er begann zu protestieren, aber sie unterbrach das Gespräch.
Puh. Das würde ordentlich Ärger geben, wenn sie wieder nach Hause kam. Aber damit konnte sie sich jetzt unmöglich auseinandersetzen. Sie beschloss, das Handy auszuschalten. Sonst rief ihr Vater gleich wieder an. Aber bevor sie den Ausschaltknopf drücken konnte, fing es erneut an zu klingeln.
Diesmal war es Tom.
„Alles okay bei dir?“, fragte er. „Warum hast du dich nicht gemeldet?“
„Ich hab’s vergessen. Es war einfach zu viel los.“ Sie erzählte ihm atemlos von ihrem Gespräch mit Ella, von Ellas neuem Freund und den Erkenntnissen über Sarah. „Nun bin ich auf dem Weg zu April, um sie zu überzeugen, dass sie das Lösegeld nicht zahlen darf.“
„Ich dachte, ihr Vater weigert sich, ihr das Geld zu geben?“
„Inzwischen hat er es aber doch überwiesen. Und April ist wild entschlossen zu zahlen, weil sie Charlie nicht gefährden will.“
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Was ist los? Bist du noch dran?“
„Klar. Also, du triffst dich jetzt mit April?“
„Ja. Sue hat keine Zeit, sie ist in der Stadt.“
„Okay. Sei vorsichtig.“
Myriam lachte. „Vorsichtig? Meinst du, April ist gefährlich?“
„Ich find sie irgendwie komisch“, sagte Tom.
Ach ja? Als ich euch am Sonntag in der Scheune gesehen habe, hat das aber ganz und gar nicht danach ausgesehen, dachte Myriam.
„Ruf mich an, wenn du wieder zu Hause bist. Versprichst du mir das?“, sagte Tom.
„Mach ich.“
Danach schaltete Myriam das Handy sofort aus, bevor noch mehr Leute anriefen und sie aufhielten. Sie musste jetzt wirklich zur Ranch.
Kurz bevor Myriam in die kleine Siedlung einbog, in der die Sunshine Ranch lag, wurde sie von einem Wagen überholt. Ein dunkler Pkw, mehr konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen. Das sind Sue und Stefan, dachte Myriam, als das Auto ein paar Meter vor ihr zum Stehen kam. Sie sind doch nicht zum Essen gegangen, sondern wieder zurückgefahren.
Dann stieg jemand auf der Fahrerseite aus. Eine große schlanke Gestalt, die auf sie zukam.
„Sue?“, rief Myriam laut.
Keine Antwort. Die Person kam immer näher.
Hier stimmte was nicht. Myriam wollte weg, sie versuchte den Lenker herumzureißen, doch die Person hatte sie fast schon erreicht
Sei vorsichtig, hörte sie Tom wieder sagen. Ich find April irgendwie komisch. Die Frau oder der Mann oder wer immer da auf sie zukam, hob jetzt die Hände hoch über den Kopf. Myriam wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie duckte sich, das Fahrrad rutschte unter ihr weg und fiel um.
Sie spürte einen heftigen Schlag auf dem Hinterkopf. Danach wurde alles schwarz.
Als sie wieder zu sich kam, dröhnte ihr Kopf wie ein alter Kühlschrank. Sie versuchte sich aufzusetzen, aber es ging nicht. Ihre Hände und Füße waren gefesselt. Und ihr Mund war ebenfalls zugeklebt. Sie lag auf einer dünnen Lage Stroh, darunter spürte sie harten, kalten Beton.
„Sei still“, hörte sie jemanden flüstern. „Ich glaub, sie ist aufgewacht.“
Myriam machte die Augen schnell wieder zu und hielt den Atem an. Die Streu raschelte, als sich jemand näherte.
„Nee. Sie ist noch ohnmächtig“, sagte eine tiefe Stimme direkt über ihr.
„I don’t like this“, flüsterte die erste Stimme wieder. „Vielleicht ist sie verletzt.“ Das war April, erkannte Myriam plötzlich. War sie ebenfalls gefangen genommen worden? Aber offensichtlich hatte man sie nicht geknebelt.
„O, shut up“, sagte die zweite Person, und jetzt erkannte Myriam die Stimme. Es war Sarah. Sarah hatte Myriam vorhin niedergeschlagen, Sarah hatte sie gefesselt und hierhergebracht! „Ihr geht’s gut, glaub mir. Der Puls ist völlig normal, ich hab das überprüft. Sie wird ein bisschen Kopfschmerzen haben, wenn sie wieder aufwacht, das ist alles.“
Ein bisschen Kopfschmerzen, was für ein Witz! Das Dröhnen des Kühlschranks hatte sich inzwischen in das Hämmern eines Presslufthammers verwandelt.
„Wir machen es genauso, wie wir es besprochen haben“, bestimmte Sarah. Ihre Schritte entfernten sich wieder.
Myriam öffnete die Augen einen Spaltbreit. Sie lag in einem Stall oder in einer Scheune. Direkt über ihr hing eine nackte Glühbirne und verbreitete grelles Licht. Ein paar Meter neben ihr war eine halbhohe Bretterwand, dahinter stand Charlie und blickte betroffen auf sie herunter. April und Sarah konnte Myriam von ihrer Position aus nicht sehen.
„Bleib ruhig, April“, sagte Sarah. „Wenn wir jetzt nicht die Nerven verlieren, wird alles gut gehen.“
„I don’t know. Du hast gesagt, dass keinem was passiert.“
„Es passiert ja auch keinem was. Du fährst schleunigst zur Ranch zurück. Sobald ich im Flugzeug sitze, schick ich dir eine Nachricht. Dann kommt ihr hierher, befreit Charlie und Myriam und alle sind glücklich und zufrieden.“
„Du schickst mir die SMS aber noch vor dem Start“, sagte April. „Nicht erst, wenn du gelandet bist.“
„Klar“, sagte Sarah. „Keine Panik. Wir treffen uns wie verabredet im Oktober in Kalifornien und teilen die Kohle auf.“
„Aber …“
„Nichts aber. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du musst wieder auf der Ranch sein, bevor Sue zurück ist. Los jetzt.“
„Wie komme ich zurück?“, fragte April. „Fährst du mich?“
„Nimm Myriams Fahrrad. Aber schau zu, dass du es gleich irgendwo verschwinden lässt, damit es niemand sieht.“
„Bye, my darling.“ Aprils zärtliche Worte galten nicht Sarah, sondern Charlie. „Tomorrow you’ll be back with me.“
„Gut, dass Pferde nicht reden können“, sagte Sarah spöttisch, während sie ein Tor aufschob. Myriam hörte ein Fahrrad klappern, dann war April weg.
Sie war allein mit Sarah, die sich von Neuem über sie beugte und ihre Taschen durchwühlte, bis sie ihr Handy fand und an sich nahm.
Myriam versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sarah und April steckten also unter einer Decke. Sarah hatte soeben das Lösegeld von April bekommen und wollte nun das Land verlassen. In der Zwischenzeit würde April Sue gestehen, dass sie das Lösegeld bereits an den Entführer übergeben hatte. Nach einer SMS von Sarah würde sie Charlie wiederfinden und bei dieser Gelegenheit auch die gefesselte Myriam entdecken.
Sie würde so tun, als wäre sie vollkommen überrascht. Aber das würde ihr nichts nützen, weil Myriam alles gehört hatte und genau Bescheid wusste.
Myriam öffnete die Augen einen Spalt und sah, dass Sarah telefonierte.
„Hi, ich bin’s“, sagte sie. „Alles in Ordnung hier. Sie können das Pferd abholen.“
Einen Moment lang lauschte Sarah in den Hörer, dann nickte sie ungeduldig.
„Ja, natürlich ist alles okay mit ihm. Ist doch nicht das erste Ding, das wir zusammen drehen. Wir werden uns nicht mehr sehen. Ich nehme den ersten Flieger, der Düsseldorf verlässt. Und mit dem Geld verfahren wir wie gewohnt.“
Sie legte auf, steckte das Handy ein und drehte sich zu Myriam um, die ihre Augen schnell wieder zukniff.
Hatte Sarah bemerkt, dass sie bei Bewusstsein war? Großer Gott, jetzt näherten sich ihre Schritte. Diesmal blieb Sarah zu ihren Füßen stehen und starrte Myriam misstrauisch an. Jedenfalls glaubte Myriam, dass sie misstrauisch angestarrt wurde, sie hatte ja die Augen geschlossen.
Sie hätte vor Schreck beinahe laut aufgeschrien, als Sarah sie plötzlich unsanft bei den Beinen packte. Myriam wurde über den harten Betonboden des Stalls gezerrt, quer durch den Raum.
Jetzt ist alles aus, dachte Myriam, die ihre ganze Willenskraft aufwenden musste, die Arme nicht schützend um ihren Kopf zu legen. Und nicht laut zu wimmern. Rrrums!, holperte ihr Rückgrat über eine Türschwelle. Eine Sekunde später schlug ihr Kopf so heftig auf der Schwelle auf, dass sie fast erneut die Besinnung verloren hätte. Aber nun ließ Sarah ihre Beine fallen.
Eine Tür knallte ins Schloss und Myriam schlug die Augen auf. Aber das nützte nichts. Hier gab es nichts zu sehen.
Der Raum, in den Sarah sie gebracht hatte, war stockfinster.