Ein Verdacht

„Ich hab sie gestern Abend getroffen. Kurz vor der Abschlussfeier“, begann Tori. „Ich sollte doch am Kiosk noch Ketchup besorgen. Merle hatte sich gerade mit dem Kioskbesitzer gezofft, weil der ihr kein Bier verkaufen wollte. Merle schrie rum, dass sie volljährig wäre und nur ihren Ausweis vergessen hätte, aber das nahm er ihr natürlich nicht ab. Als sie mich sah, wollte sie, dass ich ihr helfe. Ich sollte dem Typ bestätigen, dass Merle achtzehn ist.“ Tori schüttelte den Kopf. „Hab ich aber nicht getan.“

„Und dann?“, fragte Hannah ungeduldig. „Jetzt erzähl doch.“

„Dann … na ja …“, Tori räusperte sich. „Dann hab ich mich ein bisschen über Merle lustig gemacht. Ich meine, sie benimmt sich wirklich total bescheuert und albern, oder?“

„Du hast sie provoziert“, sagte Myriam.

„Quatsch, provoziert. Was ich zu ihr gesagt habe, war ganz harmlos. Wir haben uns nur … ein wenig gekabbelt.“

„Gekabbelt“, wiederholte Stefan skeptisch. „Was genau bedeutet das?“

„Merle hat von ihrem blöden Freund erzählt, dass der schon achtzehn ist und der coolste Typ überhaupt, und mit so Waschlappen wie uns würde er sich gar nicht abgeben. Sie sagte, dass sie nicht auf Bubis steht, sondern nur auf echte Männer. Und dass ihr Freund unschlagbar ist, weil er die coolsten Klamotten überhaupt hat und noch dazu ein supergeiles Motorrad.“

„Und daraufhin hast du mit den Pferden angegeben, die bei uns im Stall stehen“, sagte Sue. „So war es doch, oder?“

„Na ja“, sagte Tori und starrte auf den Tisch.

„Was hast du Merle von Charlie erzählt?“, fragte Myriam.

„Nichts. Ich hab mehr so allgemein über Pferde gesprochen. Ich hab ihr gesagt, dass ein gutes Turnierpferd viel mehr wert ist als eines der blöden Motorräder.“

„O Mann, Tori!“, stöhnte Sue.

„Was denn?“, fragte Tori gekränkt. „Ich meinte das doch im übertragenen Sinn. Weil ein Pferd eben ein Lebewesen ist und keine Maschine. Was kann ich denn dafür, dass sie das anders aufgefasst hat?“

„Aber wie soll Merle es geschafft haben, Charlie zu klauen?“, murmelte Hannes.

„Na, das war ja wohl ein Kinderspiel“, meinte Tori. „Sie ist auf die Sunshine Ranch marschiert, in den Stall gelatscht und hat ihn einfach mitgenommen. Hier ist doch nichts abgeschlossen. Wenn ich du wäre, würde ich mir mal einen echten Wachhund kaufen, Sue.“ Sie warf einen abfälligen Blick auf Washington, der neben Heinrich am Herd lag und schlief.

„Aber im Stall standen über zehn Pferde“, beharrte Hannes. „Woher wusste Merle, welches Charlie war?“

„Hast du ihn genau beschrieben?“, fragte Myriam Tori.

„Also …“, begann Tori, dann verstummte sie wieder.

„Also was?“, fragte Sue.

„Ich hab vielleicht ganz nebenbei das Wort ‚Rappe‘ fallen lassen“, gab Tori zu.

Die anderen stöhnten im Chor.

„Mann, Charlie war der einzige Rappe im Stall!“, rief Hannes. „Und er stand auch noch ganz vorn, in einer der ersten Boxen. Da hast du es Merle wirklich leicht gemacht.“

„Konnte ich denn ahnen, dass sie das Pferd gleich klaut?“, murrte Tori.

„Woher hat Merle Sues Handynummer?“, fragte Myriam.

„Die steht im Telefonbuch“, meinte Sue. „Unter Sunshine Ranch. Das war nun echt kein Problem.“

„Nehmen wir mal an, dass es so abgelaufen ist“, sagte Hannes. „Wie sollen wir ihr das beweisen?“

„Wir gehen zu ihr und setzen sie ordentlich unter Druck“, schlug Tori vor. „Wenn sie hört, dass wir ihr so schnell auf die Schliche gekommen sind, knickt sie bestimmt ein und gesteht alles.“

„Und wenn nicht?“, warf Myriam ein. „Dann ist sie gewarnt.“

„Wir sollten sie beobachten“, sagte Hannah. „Wir wechseln uns dabei ab und finden heraus …“

„Falsch“, unterbrach Stefan sie. „Ihr tut gar nichts. Sue und April gehen nachher zur Polizei und erstatten Anzeige gegen unbekannt. Wir haben die SMS als Beweis, dass eine Entführung vorliegt. Die Beamten sollen Merle und ihre Freunde überprüfen. Es ist noch überhaupt nicht gesagt, dass sie etwas mit der Sache zu tun haben …“

„Diese Typen waren es. Ganz bestimmt“, erklärte Tori finster.

„Ihr unternehmt nichts auf eigene Faust. Das müsst ihr mir versprechen, ja?“ Sue erhob sich. „Wir machen es so, wie Stefan gesagt hat. Und jetzt muss ich mal nach April sehen und sie beruhigen. Poor thing!

Myriam warf sich auf ihr Bett und schloss die Augen. Sie war vollkommen fertig. Obwohl sie heute Morgen länger geschlafen hatte als alle anderen. Nein, Zelten war nichts für sie, sie fühlte sich hinterher immer wie gerädert.

Gut, dass wenigstens ihre Eltern nicht da waren und ihr auf die Nerven gingen. Sie würden erst übermorgen wieder zurückkommen. Bis dahin hatte Myriam sturmfreie Bude. Während des Workshops war sie ja ohnehin die ganze Zeit auf der Ranch gewesen. Und heute Mittag war ihre Oma vorbeigekommen, hatte Essen gemacht und nach dem Rechten geschaut. Nach tausend Ermahnungen und Warnungen war sie endlich wieder gegangen. Gott sei Dank. Großmütter konnten echt anstrengend sein.

Charlie, Merle und ihre Emofreunde. Ella. Tom und April. Myriams Gedanken rasten wild durch ihren Kopf wie ein Haufen Kindergartenkinder ohne Aufsicht.

Sie schlug die Augen wieder auf. Ob sie Hannah anrufen sollte? Aber wahrscheinlich hing die wie immer mit Hannes zusammen und kaute das Geschehene mit ihm durch.

Myriam setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Computer an. Hey, Überraschung! Hinter Hannahs Namen auf Facebook leuchtete ein grüner Punkt. Sie war online.

Myriam öffnete das Chatfenster.

„Hi, Hannah. Auch schon zu Hause?“

„Wir sind gerade erst reingekommen. Waren bis eben auf der Ranch“, schrieb Hannah zurück.

Wir. Natürlich war Hannes bei ihr. Meine Güte, die beiden klebten zusammen wie Kaugummi.

„Und? Gibt’s was Neues?“

„Sue ist total ausgerastet. So hab ich sie schon lange nicht mehr erlebt.“

Verdammt, warum schrieb Hannah denn nicht gleich, was Sache war?

„Was war los?“

„Sie war mit April bei der Polizei. Aber A hat abgestritten, dass C entführt wurde.“

Hä? Myriam begann eine Frage zu tippen, aber dann griff sie nach dem Hörer und wählte Hannahs Nummer. Gleich nach dem ersten Klingeln nahm Hannah ab.

„Jetzt noch mal im O-Ton – was ist passiert?“

„Also.“ Hannah schluckte aufgeregt. „April hat auf der Polizeiwache einfach alles geleugnet. Sue wollte eine Diebstahlanzeige aufgeben. April hat abgestritten, dass Charlie überhaupt entführt worden ist.“

„Aber die Bullen müssen doch gemerkt haben, dass sie sich nur aus Angst so verhält. Weil Charlie bedroht wird.“

„Ach, denen war die Geschichte vollkommen egal. Die wollten ihre Ruhe. Und außerdem – was hätten sie denn machen sollen? April ist Charlies Besitzerin. Wenn sie keine Anzeige aufgeben will, sind der Polizei die Hände gebunden.“

„Und was ist mit der SMS? Das ist doch ein Beweismittel.“

„Die hat April gelöscht. Deshalb ist Sue ja auch so ausgerastet.“

„Ach du Schreck. Gut, dass ich schon weg war. Und jetzt? Wie geht es weiter?“

„Plan B“, sagte Hannah.

„Wie sieht der aus?“

„Wir kümmern uns um Merle und ihre Emofreunde. Allerdings ohne Sue und Stefan davon zu erzählen. Wir haben beschlossen, sie zu beschatten. Wenn Merle Charlie gekidnappt hat, wird sie uns früher oder später zu ihm führen.“

„Wer hat das beschlossen?“, fragte Myriam misstrauisch.

„Na wir. Tori, Jonas, Sina, Viktor, Hannes und ich. Tori ist allerdings nur noch bis übermorgen da, dann fliegt sie nach Mallorca. Also, je mehr wir sind, desto einfacher wird die Sache. Bist du auch dabei?“

„Ich weiß nicht. Merle ist doch nicht blöd. Das merkt die sofort.“

„Nicht, wenn wir es geschickt machen“, entgegnete Hannah. „Tori übernimmt die erste Schicht. Danach sind ich und Hannes dran. Also, ich fänd’s gut, wenn du uns hilfst.“

„Und April? Habt ihr der von der Sache erzählt?“, wollte Myriam wissen.

„Noch nicht. Sie war ja völlig durch den Wind. Im Moment lassen wir sie lieber in Ruhe.“

„Weißt du eigentlich, wann sie gestern Nacht ins Bett gegangen ist?“

„Nee, keine Ahnung. Ich hab geschlafen. Warum? Meinst du etwa, sie hat Charlie selbst entführt?“

„Ich … ist ja auch egal.“ Nein, Myriam brachte es einfach nicht über sich, April zu verraten. Nicht einmal Hannah gegenüber.

„Also, was ist jetzt?“, fragte Hannah. „Hilfst du uns bei Merles Beschattung? Wir können jede Unterstützung gebrauchen.“

Myriam zögerte. Wenn sie Hannah nicht angerufen hätte, hätte sie nichts von der Aktion erfahren. Tori hätte sich bestimmt nicht bei ihr gemeldet und um Hilfe gebeten. Im Grunde wollt ihr mich doch gar nicht dabeihaben, dachte Myriam.

„Komm, Myriam!“, bettelte Hannah.

„Also gut.“

Von elf bis um Mitternacht. Das war die Zeit, in der sich Myriam nun vor Merles Haus die Beine in den Bauch stehen durfte.

„Deine Eltern sind noch in Amerika?“, hatte Tori bloß gefragt, als Myriam sie angerufen hatte, um sich für die Überwachung einteilen zu lassen. „Das ist super. Dann kannst du ja nachts raus, ohne dass es einer merkt.“

Super, in der Tat. Nun stand sie im Nieselregen und starrte auf das hässliche Mehrfamilienhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem Merle wohnte. Drei erleuchtete Fenster blickten zurück wie böse Augen. Die übrigen Fenster waren dunkel.

Bestimmt lag Merle hinter einem von ihnen und schlief. „Sie ist um zehn gekommen und hat das Haus seitdem nicht mehr verlassen“, hatte Sina gesagt, die vor Myriam Wache gehalten hatte.

Myriam gähnte. Sie hatte in der letzten Nacht wenig geschlafen, und jetzt das. Sinnlose Warterei. Morgen würde sie jedenfalls ganz bestimmt nicht mehr die letzte Schicht übernehmen. Sollte Tori sich doch selbst hierhinstellen, wenn sie so überzeugt von ihrer Idee war.

Wahrscheinlich sind wir auf dem falschen Dampfer, überlegte Myriam missgelaunt, während sie sich eng an die Häuserwand drückte, um nicht ganz so viel Regen abzubekommen. Direkt vor ihr befand sich eine überdachte Bushaltestelle, unter der sie Schutz gefunden hätte. Aber daneben stand eine Straßenlaterne und tauchte alles in gelbliches Licht. Wenn Merle aus dem Fenster geblickt hätte, hätte sie Myriam dort unten sofort gesehen.

„Bleib im Dunkeln“, hatte Tori gesagt. „Wir dürfen nichts riskieren.“

„Du hast gut reden“, murmelte Myriam. Während sie sich hier die Beine in den Bauch stand und immer nasser wurde, saß Tori schön im Trockenen vor dem Fernseher. Genau wie der wahre Entführer, der sich über ihre Dummheit ins Fäustchen lachte.

Wir haben uns viel zu schnell auf Merle festgelegt, dachte Myriam. Sie holte ihr Handy aus der Tasche. Ob sie Hannah anrufen sollte? Aber Hannahs Mutter würde ausrasten, wenn so spät noch das Telefon klingelte.

Wer kam außer Merle infrage?

Irgendjemand, der April nicht leiden konnte und ihr eins auswischen wollte. Und den besten Grund dafür hatte …

„Ella“, flüsterte Myriam. Vielleicht hatte sie ja mitbekommen, dass ihr geliebter Tom sie mit April betrogen hatte. Und als Rache hatte sie Charlie entführt.

Im Unterschied zu Merle konnte Ella mit Pferden umgehen. Zum Zeitpunkt der Entführung war sie auf der Ranch gewesen, sie hätte sich nur nachts aus dem Zelt schleichen müssen, um Charlie aus dem Stall zu führen und irgendwo unterzubringen. Um dann wieder in den Schlafsack zu kriechen und am nächsten Morgen die Unschuldige zu spielen.

Ella hatte bei Sina und Tori im Zelt geschlafen. Ich muss die beiden unbedingt fragen, ob sie nachts noch mal draußen war, dachte Myriam.

Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe mehr. Zum Anrufen war es zu spät, aber sie konnte den beiden eine SMS schicken. Myriam zog ihr Handy wieder heraus.

Während sie tippte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Sie blickte auf und erschrak so, dass sie das Handy fast fallen gelassen hätte.

Merle hatte soeben das Haus verlassen.