Rührei mit Tränen

„April und ich sollen auf die Polizeiwache kommen, um Anzeige zu erstatten“, erklärte Sue. „Im Laufe des Tages schicken sie einen Beamten auf die Ranch, damit der die Spuren sichert. Vielleicht kann er aber auch erst morgen. Wir sollen nichts anfassen oder verändern.“

„Wieso kommen die denn nicht sofort?“, fragte Myriam entsetzt.

„Sie sind unterbesetzt, hat der Typ am Telefon gesagt. Und es gehe ja nur um ein Pferd“, schnaubte Sue. „Nur um ein Pferd. That’s incredible.“

„Hast du ihnen nicht erzählt, wie viel Charlie wert ist?“, fragte Stefan, der gerade erst auf der Ranch eingetroffen war.

„Natürlich. Zuerst wollten sie nämlich gar niemanden schicken. Als ich dann was von mehreren Tausend Dollar sagte, wurden sie hellhörig.“

„Wenn Dad das erfährt, rastet er total aus“, jammerte April. „Er wollte von Anfang an nicht, dass ich Charlie nach Deutschland mitnehme. Aber ich hätte doch nie gedacht, dass so etwas passiert.“

„Ich werde mit ihm reden. Schließlich bin ich für Charlie verantwortlich“, sagte Sue. „Calm down. Beruhige dich, April.“ Aber sie wirkte selbst nicht gerade ruhig. Nervös rannte sie auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt. Dann blieb sie abrupt stehen und sah ihre Nichte an. „Hast du irgendjemandem erzählt, wie teuer Charlie war?“, fragte sie.

„Na ja.“ Aprils Blick wanderte unbehaglich über die anderen, die um sie herumstanden. Die meisten Workshopteilnehmer waren bereits weg. Juliana und Ayla hatten gar nicht auf der Ranch übernachtet, sondern waren nach dem Abschlussfest abgeholt worden. Sarah war am frühen Morgen abgereist und auch Tom, Ella, Sina und Viktor waren schon nach Hause gegangen, bevor April gemerkt hatte, dass Charlie verschwunden war.

„Wir wussten alle davon“, sagte Tori.

„Wer … wir?“, fragte Sue.

„Na – wir eben. Die Pferdemädchen und Viktor und Hannes. Jonas hab ich es auch erzählt. Vielleicht hat er Charlie ja geklaut.“ Die letzte Bemerkung war natürlich ein Witz, aber keiner lachte.

Stattdessen fing April wieder zu weinen an. „Poor Charlie. Wenn ihn irgendein Perverser entführt hat …“

„Ach Quatsch“, unterbrach Hannah sie. „Wer immer ihn hat, weiß, was er wert ist, und wird ihn gut behandeln.“

„That’s right“, stimmte Sue ihr zu. Dann nickte sie entschlossen. „Wisst ihr was?“, fragte sie in die Runde.

„Was?“ April hob ihr verheultes Gesicht.

„Wir sollten erst mal frühstücken. Ich mach Kaffee und Kakao und Eier mit Speck.“

„Frühstück? Ich krieg keinen Bissen runter. No way“, wehrte April ab.

Sue legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich. „Du wirst schon sehen, nachdem du etwas gegessen hast, sieht die Welt gleich ganz anders aus.“

Als Sue die Pfanne mit dem Rührei auf den Tisch stellte, beschrieb Myriam den anderen gerade die Schritte, die sie in der Nacht gehört hatte.

„Es klang wie eine Horde Riesen. Aber wahrscheinlich war es der Dieb, der Charlie an den Zelten vorbei zum Hinterausgang führte.“

„Mannomann! Warum hast du denn nicht nachgeguckt?“, fragte Tori.

„Hab ich doch. Aber da war er schon weg.“

Myriam überlegte, ob sie den anderen auch von Tom und April erzählen sollte. Eigentlich würde es den beiden nur recht geschehen, wenn alles herauskäme.

Über den Rand ihrer Kakaotasse hinweg betrachtete sie April, die ihr Rührei von einer Seite des Tellers auf die andere schob und dabei in regelmäßigen Abständen schniefte. Ihre Nase glänzte rot, ihre Augen waren verschwollen, sie musste todmüde sein. Und trotzdem schaffte sie es, selbst jetzt niedlich auszusehen.

Wie geht das weiter mit dir und Tom?, fragte Myriam sie in Gedanken. Seid ihr nun ein Paar, ist Ella abgeschrieben und weiß es nur noch nicht? Oder war die Knutscherei in der letzten Nacht nur ein Ausrutscher für euch? Nicht ernst zu nehmen, schon wieder vergessen?

April gab natürlich keine Antwort.

„Ich sollte Daddy anrufen, shouldn’t I?“, fragte sie Sue.

„Ich hab doch gesagt, dass ich ihn anrufe“, gab Sue zurück. „Später.“

„Warum später? Worauf willst du warten? Meinst du, es passiert noch ein Wunder und Charlie taucht plötzlich wieder auf?“ Schon begannen Aprils Tränen wieder zu fließen. Sie rollten über ihre sommersprossigen Wangen und tropften auf ihr Rührei, ohne dass sie es überhaupt zur Kenntnis nahm. „Ich weiß genau, dass ihm etwas Furchtbares zugestoßen ist. I can feel it“, schluchzte sie.

Sue legte ihre Hand auf Aprils Hand. Sie wollte gerade etwas Tröstendes entgegnen, als ihr Handy piepste.

„Was ist das denn jetzt?“, murmelte sie ärgerlich, während sie in ihrer Tasche nach dem Telefon suchte.

Aber nachdem sie die SMS aufgerufen hatte, wurde sie ganz blass. „Das ist doch … I can’t believe this.“ Sie reichte das Telefon an Stefan weiter, der genauso entgeistert auf den Bildschirm starrte. Tori, die neben ihm saß, reckte den Hals. „Hammer! Das ist ja Charlie!“

Nun sprang April auf, rannte um den Tisch und riss Stefan das Handy aus der Hand.

„O my god“, flüsterte sie entsetzt.

Auch Hannes und Hannah waren aufgestanden und drängten sich um das Handy. Nur Myriam hatte das Bild auf dem Display immer noch nicht gesehen.

„Von wann ist das Foto?“, wollte Tori wissen.

April starrte auf das Display. „Von heute Morgen.“

„Ist das alles?“, fragte Stefan aufgeregt. „Ist keine Textnachricht dabei?“

„Wait.“ April tippte auf eine Taste, las und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich wusste es.“

„Was?“, sagte Myriam verständnislos. „Was ist los? Ich verstehe überhaupt nichts.“

„Charlie ist in unserer Gewalt“, las April mit zitternder Stimme vor. „Wir wollen 20000 Euro Lösegeld. Keine Bullen. Sonst stirbt er.“

Sie legte das Handy weg. Ihr Kopf sank in ihre Hände. Ihre Schultern zuckten.

Behutsam griff Myriam nach dem Telefon und rief das Bild wieder auf, das die Entführer Sue geschickt hatten. Da war das Foto von Charlie. Der Quarterhorse-Wallach stand mit hängendem Kopf vor einer Bretterwand, über ihm schwebte eine nackte Glühbirne.

„Vielleicht ist das ein Witz“, meinte Hannes.

It’s not very funny“, erwiderte April dumpf. Dann hob sie den Kopf wieder. „Was heißt das – Bullen?“

„Polizei“, erklärte Sue. „Aber wir müssen den Beamten diese SMS auf jeden Fall zeigen.“

„No!“, schrie April. „Das tun wir nicht!“

„Hör mal, April …“, begann Stefan.

„Sue hat selbst gesagt, dass die Polizei das Ganze nicht ernst nimmt. Charlie ist ja ‚nur ein Tier‘. Aber wenn die Kidnapper mitbekommen, dass wir uns an die Polizei gewendet haben, bringen sie Charlie um.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei eine Erpressung auf die leichte Schulter nimmt“, wandte Stefan ein. „Immerhin geht es um richtig viel Geld. Zwanzigtausend Euro. Meine Güte!“

„Ich will aber nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird!“, sagte April. Ihre Stimme klang schrill. „Ich will Charlie wieder zurückhaben. Lebend! Mein Vater hat genug Geld. Er soll das bezahlen, he won’t even notice it.“

„Das sieht er wahrscheinlich anders“, bemerkte Sue trocken.

„I can’t believe it!“, schrie April. „This is a nightmare!“

Im Aufspringen stieß sie gegen ihre Tasse. Der Kakao ergoss sich teils auf den Tisch, teils auf den Teller mit dem Essen, das April nicht angerührt hatte. Verloren schwamm das Rührei in einem braunen See. April stürmte weinend aus dem Raum.

„What a mess“, meinte Sue kopfschüttelnd.

Myriam trug den Teller zur Spüle. Sue holte einen Lappen und wischte den Tisch ab. Hannes rettete die Butter vor dem Kakaosee. Hannah und Stefan trugen das übrige Geschirr ab. Nur Tori machte mal wieder keinen Finger krumm.

„Es geht doch erst mal gar nicht darum, ob wir die Polizei informieren oder nicht“, sagte sie nachdenklich.

„Sondern?“, fragte Myriam gereizt.

„Wer hat Charlie entführt?“, fuhr Tori fort. „Das müssen wir herausfinden.“

„Ach“, sagte Hannah spöttisch. „Und hast du schon einen Verdacht?“

„Ich denke ja“, sagte Tori. „Ich glaube, ich weiß, wer es war.“ Sie machte eine dramatische Pause. „Es war Merle“, erklärte sie dann.

„Merle?“ Hannah schüttelte irritiert den Kopf. „Wie kommst du denn auf die? Nur weil sie und ihre Kumpel kürzlich auf dem Bolzplatz waren? Das ist doch …“

„Merle ist total fertig“, unterbrach Tori sie. „Sie nimmt Drogen, damit hat sie selbst in der Schule angegeben. Und Drogen kosten bekanntlich eine Menge Geld.“ Sie hob die Hand, als sie sah, dass Hannah etwas einwenden wollte. „Das ist Punkt eins, der gegen sie spricht. Punkt zwei: Ja, sie war neulich in der Nähe. Und sie war stinksauer auf uns. Sarah hat sie vor ihren Freunden lächerlich gemacht.“ Tori nahm einen Schluck Kakao.

„Ja, aber …“, begann Hannes.

„Punkt drei“, fuhr Tori unbeirrt fort, „Merle wusste, wie viel Charlie wert ist.“

„Wie das denn?“, fragte Myriam überrascht.

Jetzt wurde Tori ein bisschen verlegen. „Von … äh … von mir.“

„Wie bitte?“, fragte Stefan. „Raus mit der Sprache, Tori! Was hast du Merle erzählt?“