Die Party
Myriam kämmte ihre langen Haare straff nach hinten, band sie zu einem Zopf und steckte dann als Schmuck eine große rote Seidenrose über ihr rechtes Ohr.
Es war ganz schön undankbar, nach Aprils Wahnsinnsauftritt starten zu müssen.
Aber egal. Es war schließlich kein Turnier, sie ritten ja nur zum Vergnügen. Wenn die dusselige Flamenco-Verkleidung nicht gewesen wäre, hätte Myriam alles noch mehr Spaß gemacht.
Sie schminkte ihre Augen mit dunklem Lidschatten, malte einen schwarzen Strich unter und über jedes Lid, dann tuschte sie ihre Wimpern schwarz, trug etwas Rouge und leuchtend roten Lippenstift auf. Zum Schluss rieb sie die Lippen aufeinander, um die Farbe zu verteilen.
Ach du Schreck, das Gesicht, das sie aus dem Spiegel heraus anstarrte, sah total fremd aus.
„Keiner wird mich erkennen“, murmelte Myriam. Es war, als ob sie eine Maske trug. Eigentlich hätte sie das beruhigen können, aber das tat es nicht.
Sie schlüpfte in den Rüschenrock und in die Cowboystiefel. Wo war denn jetzt dieser bescheuerte Fächer? Sie durchwühlte ihre Tasche und den Kleiderhaufen, der über dem Badewannenrand lag. Schließlich fand sie ihn unter dem Stuhl.
Ihr Herz schlug schneller, als sie durch den Flur nach draußen eilte. Zu dumm, sonst war sie vor Wettkämpfen genauso cool wie vor Klassenarbeiten oder anderen Prüfungen. Aber diese blöde Verkleidung verunsicherte sie total. Zumindest konnte sie endlich mal nachempfinden, wie sich die anderen vor Tests immer fühlten. „Wieso hab ich mir bloß dieses Flamenco-Outfit aufschwatzen lassen?“, murmelte Myriam. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie musste raus.
Auf der Treppe vor dem Haus stieß sie fast mit Tom zusammen. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an.
„Was?“, fragte Myriam genervt.
„Mein Gott, Myriam“, meinte er. „Du bist das! Ich hätte dich fast nicht erkannt. Du siehst ja aus wie …“
„Wie was?“, fragte sie ungeduldig, als er nicht weiterredete.
„Wie … eine Frau. Ich meine natürlich …“ Jetzt verlor er vollends den Faden. Machte er sich über sie lustig?
Myriam starrte ihn misstrauisch an.
Tom wurde rot. Er wurde rot!
„Also, äh. Ich finde, du siehst richtig gut aus“, stieß er dann hervor.
Jetzt war sie es, die keine Worte fand. Themawechsel, dachte sie, so schnell wie möglich. „Du … äh … wann bist du denn dran?“
„Direkt nach dir.“
Puh! Das bedeutete, dass er sich umziehen musste und ihr nicht zuschauen konnte. Er würde nicht mitbekommen, wie sie sich im Roundpen zum Narren machte.
„Da bist du ja, Tom! Mann, ich such dich schon die ganze Zeit!“ Ella kam über den Hof auf sie zugerannt. „Wir müssen unser Pattern noch mal absprechen!“
„Ihr reitet zusammen?“, fragte Myriam. Natürlich, Tom und Ella waren ja ein Paar. Genau wie Hannah und Hannes, und Sina und Viktor. Da trat man auch gemeinsam auf.
„Ja. Aber Ella bereut es schon, dass sie den Auftritt nicht allein einstudiert hat“, meinte Tom, wobei er Ella angriffslustig ansah.
Ella schnaubte verächtlich. „Ach Quatsch! Red doch keinen Blödsinn. Ich will mich nur nicht komplett blamieren.“
Während sie mit Tom sprach, starrte Ella Myriam an. Ihre Augen wanderten von der Rose über ihrem Ohr bis runter zu den Cowboystiefeln und dann wieder zurück. Als ihr Blick etwa in Kniehöhe angekommen war, hatte Myriam genug.
„Ich muss jetzt los“, sagte sie hastig.
„Viel Glück!“, rief Tom ihr nach.
Zum Abschluss des Workshops gab es neben der Pferdeweide ein großes Lagerfeuer. Sie grillten Stockbrot, Würstchen und Marshmallows.
Vor dem Essen hielt Sue eine kleine Rede. Sie bedankte sich zuerst bei Sarah und dann bei allen Teilnehmern. „Ich bin irre stolz auf euch“, erklärte sie. „You were just great.“
„Ich bin auch stolz“, sagte Sarah. „Als ich vorgestern ankam, hätte ich nicht im Traum gedacht, dass wir in so kurzer Zeit so weit kommen könnten.“
„Und ich hätte nicht gedacht, dass wir so viel Spaß mit Ihnen haben könnten.“ Das kam natürlich von Tori.
Sarah grinste. „Ich weiß. Am Anfang wirke ich oft ein bisschen hart. Aber nach einer Weile finden mich die meisten Schüler dann doch … erträglich.“
„Erträglich?“, rief Ayla. „Wir finden Sie großartig! Ein Toast auf Sarah!“ Sie hob ihr Colaglas hoch. „Hipp, hipp …!“
„… hurra!“, fielen die anderen ein. „Hoch soll sie leben!“
„Ich bin noch nicht ganz fertig“, fuhr Sue fort. „Ich wollte noch jemandem danken.“ Ihr Blick suchte die Runde um das Lagerfeuer ab, bis sie April entdeckte, die zwischen Myriam und Sarah saß. „April. Ich bin so froh, dass du hier bist. Ohne dich, deinen Einsatz und deine Begeisterung hätte es diesen Workshop nicht gegeben. Thank you very much, my dear.“
Als sie April umarmte, begannen die anderen zu applaudieren.
„Hipp, hipp, hurra für April!“, schrie Ayla. „The queen of freestyle!“
April löste sich lachend aus der Umarmung ihrer Tante. „Ihr seid alle queens and kings of freestyle“, winkte sie ab. „And now let’s party!“
„Bist du zufrieden mit deinem Auftritt?“, fragte Tom Myriam, während sie nebeneinander am Feuer saßen und Stockbrot in die Flammen hielten.
„Eigentlich schon.“ Ihr Ritt war nicht annähernd so toll gewesen wie Aprils Performance. Aber sie hatte die Übungen, die sie in den letzten Tagen gelernt hatte, allesamt gut absolviert. „Immerhin ist mir der Fächer nicht runtergefallen.“
Tom lachte.
„Schade, dass ich dich nicht gesehen habe. Aber nachdem wir einmal umgezogen waren, hat Ella mich nicht mehr aus dem Haus gelassen. Damit die anderen unser Kostüm nicht sehen.“ Er verzog das Gesicht.
Myriam lachte ebenfalls. „Ihr wart toll. Und euer Outfit hat mir auch richtig gut gefallen.“ Tom und Ella hatten sich als Indianer verkleidet. Ella als Squaw mit schwarzer Perücke und in einem sexy Lederminikleid, Tom als Häuptling mit Federschmuck, nackter Brust, Lederhosen und Tomahawk in der Hand. Im Gegensatz zu den anderen beiden Paaren hatten sie zwei unterschiedliche Patterns einstudiert, die sich aufeinander bezogen. Ihre Spins, Stops und Galoppwechsel hatten sich geschickt abgewechselt. Während Tom sich auf seinem Pferd um die eigene Achse gedreht hatte, war Ella um ihn herumgaloppiert. Und bei Toms Sliding Stop hatte Ella Candy in einem Rollback zurückweichen lassen, als habe sie Angst vor ihm.
„Ich fand die anderen Vorführungen aber auch super“, sagte Tom, obwohl er natürlich wusste, dass er und Ella um Klassen besser gewesen waren.
„Aber man hat gleich gemerkt, dass ihr viel Reining-Erfahrung habt“, widersprach Myriam. „Genau wie April.“
„Ja, April war einfach gigantisch“, sagte Tom.
Dieser Satz versetzte Myriam einen Stich. Aber bevor sie darüber nachdenken konnte, warum sie Toms Bewunderung für April so kränkte, rutschte ihr Brotteig vom Stock. Myriam versuchte ihn noch zu retten, aber er verwandelte sich innerhalb von Sekunden in einen schwarzen Ascheklumpen.
„Mist!“, schimpfte Myriam. „Das Brot war fast fertig.“
Als keine Antwort kam, merkte sie, dass Tom gar nicht mehr neben ihr stand, sondern zu den anderen zurückgegangen war.
Sie hatten Zelte auf der Wiese hinter der Weide aufgeschlagen, sodass sie nach der Party nicht nach Hause fahren mussten. Wahrscheinlich hätten sie bis zum Morgen weitergefeiert, aber um elf erklärte Sue die Party für beendet. „Ab in die Schlafsäcke!“, sagte sie. „Auch wenn Ferien sind. Morgen müssen die Pferde schließlich wieder auf die Weide gebracht und der Stall ausgemistet werden …“
„Hör auf!“, stöhnte Tori. „Wie kannst du jetzt an so etwas denken!“
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte verträumt in den sternenbedeckten Himmel. „Vielleicht schlaf ich ja hier draußen unter dem freien Sternenzelt.“
„Du spinnst wohl“, meinte Sue. „Alle übernachten im Zelt. Und vorher Zähneputzen nicht vergessen!“
Myriam stand gähnend auf. „Ich mach den Anfang“, sagte sie. „Ich bin nämlich hundemüde.“
„Warte, ich komm mit.“ Hannah sprang auf und hakte sich bei ihr unter. „Wo ist denn eigentlich April?“
Myriam sah sich um. „Keine Ahnung.“
April hatte angekündigt, dass sie bei Myriam und Hannah im Zelt übernachten wollte, obwohl sie in ihrem Bett im Haus hätte schlafen können.
„Vielleicht ist sie doch schon reingegangen. Ich würd mich auch lieber in mein gemütliches Bett legen, anstatt auf eine harte Isomatte“, sagte Hannah.
Nach dem Zähneputzen war April immer noch nicht aufgetaucht. „Ich sag’s doch. Die schläft im Haus“, sagte Hannah. „Amerikaner sind solche Weicheier.“
„Du bist bloß neidisch“, meinte Myriam.
„Vielleicht“, gab Hannah zu. „April ist super geritten, findest du nicht auch?“
„Es war irre“, stimmte Myriam zu. „So gut wie sie werde ich in hundert Jahren nicht.“
„Schade, dass Sarah morgen wieder abreist. Es wär toll, wenn sie uns auch in Zukunft unterrichten würde.“
„Vielleicht überlegt Sue es sich ja noch und stellt sie ein“, sagte Myriam hoffnungsvoll. „Wenn wir sie ordentlich beknien?“
„Sie hat erzählt, dass sie in Hamburg einen Job hat“, sagte Hannah. „Für den Workshop musste sie sich Urlaub nehmen.“
Myriam gähnte. „Zu schade aber auch.“
Als Myriam aufwachte, brauchte sie einen Moment, bis sie sich erinnerte, wo sie war. Im Dunkeln angelte sie nach ihrem Handy neben der Isomatte. Vier Uhr. Meine Güte, es war ja noch mitten in der Nacht. Sie wollte sich auf die andere Seite drehen, um wieder einzuschlafen, als sie draußen Schritte hörte.
War das April, die doch noch ins Zelt kam?
Aber die Schritte waren schwer und polternd. Als ob da ein Riese vorbeiging. Oder zwei oder drei. Die Schritte mussten von mehr als einer Person herrühren. Und sie kamen näher. Hu, das war ja gruselig!
Ob sie nachschauen sollte, wer da kam? Du bist doch kein Hasenfuß, hatte ihr Vater früher immer gesagt. Myriam richtete sich vorsichtig auf, kroch auf allen vieren zum Zeltausgang, zog den Reißverschluss ein Stück hoch und spähte hinaus. Das Mondlicht glänzte auf den Grasstoppeln der Pferdeweide, als ob jemand Milch verschüttet hätte. Sonst war nichts Außergewöhnliches zu sehen.
Sie schlüpfte wieder zurück in den Schlafsack. Ich hab mich vertan, versuchte sie sich einzureden. Da war nichts. Sie lauschte wieder in die Dunkelheit. Alles war still.
Myriam schloss die Augen, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie war viel zu aufgewühlt. Und außerdem musste sie aufs Klo.
Sie zögerte. Sollte sie jetzt wirklich raus und im Mondlicht zum Haus hochlaufen? Wenn da womöglich ein riesiges Unwesen unterwegs war? Eine ganze Weile lang wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. So ein Blödsinn, dachte sie plötzlich. Riesen und Monster gibt’s vielleicht im Märchen, aber bestimmt nicht auf der Sunshine Ranch.
Sie schob die nackten Füße in ihre Cowboystiefel, zog ein Sweatshirt über das Nachthemd, dann kroch sie aus dem Zelt. Am Roundpen vorbei rannte sie zum Haus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzublicken.
Auf dem Rückweg sah sie, dass die Tür zum Stall offen stand. Sue schloss das Gebäude niemals ab, weil sie Angst hatte, dass nachts ein Feuer ausbrechen könnte und die Tiere dann gefangen wären. Aber sie achtete darauf, dass die Tür geschlossen war. Ob sie ebenfalls noch wach war und jetzt nach den Pferden sah?
Zögernd näherte sich Myriam dem Stall. „Hallo?“, rief sie leise, als sie die Tür erreicht hatte. Keine Antwort.
Sie trat ein. Die Dunkelheit umgab sie, als hätte ihr jemand einen Sack über den Kopf gestülpt. Einen Moment blieb sie stehen und starrte in die undurchdringliche Schwärze. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis und sie erkannte Schemen. Die Absperrung der Boxen, die Stallgasse. Gleich in der ersten Box neben dem Eingang war Dakota untergebracht, ein nervöser Colorado Ranger, der sich nur von Sue reiten ließ. Er hatte Myriam bemerkt und wieherte erschreckt. Die anderen Pferde wurden ebenfalls unruhig.
„Ist ja gut“, murmelte Myriam. „Ich wollte nur sehen, ob bei euch alles okay ist.“
Die Pferde schnaubten nervös. Dakota schlug mit seinen Hufen gegen die Box. Du liebe Zeit, hoffentlich weckte das Getrampel Sue nicht auf; sie würde bestimmt außer sich geraten, wenn sie Myriam im Stall entdeckte!
„Ich bin ja schon wieder weg“, flüsterte sie. „Schlaft schön.“
Sie war fast an der Scheune vorbei, als sie das Geräusch hörte. Es klang wie ein leises Seufzen. Oder vielmehr ein Stöhnen. Lag da etwa jemand in der Dunkelheit, der sich auf dem Weg zum Klo den Fuß verstaucht hatte?
„Hallo?“ Ihre eigene Stimme klang dünn und unsicher. Myriam räusperte sich.
Aber bevor sie etwas hinzufügen konnte, hörte sie das Seufzen noch einmal. Diesmal war es ein bisschen lauter.
Wie die Stalltür stand auch die Tür zur Scheune halb offen. Das kam oft vor, Washington und Heinrich hielten gerne zwischen den Schubkarren und Gartengeräten ihr Mittagsschläfchen. Heute Abend war Stefan jedoch mit seinem Hund nach Hause gefahren und Washington war im Haus bei Sue.
Myriam schob sich durch die Öffnung nach drinnen. Hier war es nicht ganz so dunkel wie im Stall, weil das Mondlicht trüb durch die schmutzigen Fensterscheiben unter dem Dach fiel.
Woher kam dieses Seufzen? Jetzt war nichts mehr zu hören. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Zögernd ging Myriam ein paar Schritte weiter und blickte sich dabei nach allen Seiten um.
Dann blieb sie abrupt stehen und unterdrückte im letzten Moment einen überraschten Aufschrei.