Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

„Ich verstehe immer noch nicht, wie ihr so schnell herausgefunden habt, dass Sarah heute Morgen das Land verlassen wollte“, sagte Myriam.

Nachdem die Polizisten Sarah und April abgeführt hatten, hatte Stefan Charlie zurück zur Sunshine Ranch gebracht. Sue hatte währenddessen Myriam nach Hause gefahren und Tom hatte sie begleitet. Jetzt saßen sie völlig übernächtigt um den Esstisch der Freys. Myriams Mutter schenkte Kaffee ein. Ihre Hände zitterten. Vor Sorge um ihre Tochter hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan.

„Tom hat mich gestern ganz aufgeregt angerufen“, erzählte Sue. „Er hat sich Sorgen gemacht, weil du dich doch nach dem Treffen mit April bei ihm melden wolltest. Stefan und ich waren gerade auf dem Rückweg aus der Stadt. Auf der Ranch haben wir April zur Rede gestellt. Da hat sie uns erzählt, dass der Entführer sie am Abend noch einmal kontaktiert hätte und sie das Lösegeld bereits gezahlt hätte. Also, ich war vollkommen durch den Wind.“

„April hat so getan, als wärt ihr überhaupt nicht verabredet gewesen“, sagte Tom. „Sie ist ein mieses, abgebrühtes Luder. Aber ich bin ihr trotzdem auf die Schliche gekommen.“

„Wie hast du das denn gemacht?“, fragte Myriam.

„Ich hab im Internet recherchiert. Genau wie du auch“, erklärte Tom. „Aber ich hab mir Aprils Vergangenheit angesehen. War gar nicht so schwierig. Sie ist ja bei so vielen Turnieren mitgeritten, da hatte ich schnell den Namen der Ranch in Santa Rosa raus, auf der sie trainiert hat. Und rate mal, wer dort zwei Jahre lang als Trainerin gearbeitet hat.“

„Sarah?“, fragte Myriam.

Tom nickte.

„Aber warum hab ich den Link nicht gefunden?“

„Weil auf der Homepage ihr Nachname falsch geschrieben ist. ‚Redditch‘ statt ‚Reddich‘“, meinte Tom.

„Genau“, fiel Sue ein. „April kannte Sarah schon lange, bevor sie nach Deutschland gekommen ist.“

„Als April Sarah erzählt hat, dass sie nach Deutschland ziehen würde, kam diese auf die Idee mit der Entführung“, fuhr Tom fort. „April fand das großartig. Ihr Vater hat schließlich eine Menge Kohle. Er war immer großzügig ihr gegenüber, aber das war ihr nicht genug. Und außerdem reizte sie wohl der Nervenkitzel.“

„Der Nervenkitzel?“, wiederholte Myriam verständnislos.

„Na ja, sie fand es wohl lustig, ihren Vater und alle anderen reinzulegen. Deshalb hat sie mit Sarah den Plan mit dem Workshop entwickelt. Sarah hat sich als Trainerin auf Sunshine beworben, und als April später den Workshop vorschlug, hat Sue sich an die Bewerbung erinnert und Sarah gebucht.“

„Und nach dem Workshop hat Sarah Charlie entführt“, überlegte Myriam.

„Während April dafür gesorgt hat, dass sie ein perfektes Alibi hat“, ergänzte Tom. „Nämlich mich.“

„Aber Sarah hatte von Anfang an vor, April reinzulegen“, sagte Myriam.

„Genau. Sie wollte das Lösegeld und das Pferd. Fast hätte es auch geklappt“, erzählte Tom. „Nachdem ich herausgefunden hatte, dass April und Sarah sich kannten, bin ich zur Ranch gefahren. Und dann haben wir April zur Rede gestellt.“

„Und die ist ziemlich schnell eingeknickt“, sagte Sue. „Und hat ausgepackt. I still can’t believe it. Ich hab ihr vertraut. Und dann so was.“

„Nachdem wir erfahren haben, dass Sarah dich in ihrer Gewalt hat, hat Stefan sofort die Polizei alarmiert. Die haben dann zwei Einsatzwagen losgeschickt – einen zu dem Stall, in dem du versteckt warst, den anderen zum Flughafen.“

„Aber als die Polizei beim Stall eingetroffen ist, waren Charlie und ich schon weg“, begriff Myriam jetzt.

„Dafür konnten sie gleich den Pferdehändler in Gewahrsam nehmen, der Charlie abholen wollte“, meinte Tom. „Haha, zu gerne hätte ich das Gesicht von dem Typ gesehen, als ihm die Bullen die Tür aufgemacht haben.“

„Was passiert denn jetzt mit Sarah und April?“, fragte Myriam.

Sue zuckte mit den Schultern. „Das muss ein Richter entscheiden. April wird nicht viel geschehen, man wird sie in die USA ausweisen, sie ist ja noch minderjährig. Vermutlich kommt sie mit einem blauen Auge davon. Ich hoffe trotzdem, dass ihr die Sache eine Lehre sein wird.“

„Und was geschieht mit ihr auf der Polizeiwache?“

„Nichts“, sagte Sue. „Wenn April es nicht will, können die Beamten sie nicht einmal verhören. Aber ich lass sie trotzdem noch ein bisschen schmoren, bevor ich zur Polizei fahre und sie abhole.“

„Diese Trainerin wird bestimmt nicht so glimpflich davonkommen. Erpressung, Betrug, Menschenraub, da kommt einiges zusammen“, erklärte Myriams Vater. „Ich denke, sie wandert ins Gefängnis.“

„Wenn sie vorher mit mir gesprochen und mir ihre Geschichte erzählt hätte, hätte ich sie sofort eingestellt“, bemerkte Sue kopfschüttelnd. „Aber stattdessen macht sie so einen Blödsinn.“

„Sie wollte das große Geld“, sagte Tom.

„Nun bezahlt sie teuer dafür. Ich glaube nicht, dass sie jemals wieder als Trainerin arbeiten kann“, sagte Herr Frey.

„Sarah ist mir egal“, murmelte Myriam. „Aber April. Ich fand sie so nett. Dabei hat sie mich von vorn bis hinten belogen. Sie hat sich an mich rangemacht, weil sie sofort gemerkt hat, dass ich einsam war. Die Außenseiterin, die keiner richtig mag. Das wollte sie sich zunutze machen.“

„Es war nicht alles nur Berechnung“, sagte Sue. „Sie mochte dich wirklich. Das hat sie immer wieder beteuert, als wir zusammen zum Flughafen fuhren. Sie wollte nicht, dass dir etwas passiert.“

„Na, dann hätte sie auch gleich auspacken können“, meinte Tom mitleidlos. „Sie hat uns alle manipuliert, diese blöde Zicke.“

„Also, das ist ja eine schöne Geschichte, in die du da reingeraten bist“, sagte Herr Frey kopfschüttelnd. „Ich sag schon lange, dass diese Ranch nicht die richtige Umgebung für dich ist, Myriam. Und das hat sich aufs Schlimmste bestätigt. Jetzt ist ein für alle Mal Schluss mit der Reiterei, das kann ich dir sagen.“

„Wie bitte?“, rief Myriam empört. „Was hat die Sunshine Ranch denn mit dieser Sache zu tun?“

„Woanders wäre so etwas nicht passiert“, behauptete Herr Frey.

„Na, die Kingsize Ranch, die Sie vor kurzem noch so toll fanden, war nicht sehr viel besser“, bemerkte Sue trocken.

Myriams Vater blickte sie wütend an. „Nun hören Sie mir mal gut zu, Frau Mirador …“

„Vielleicht hören Sie mir zuerst mal zu, Herr Frey!“, unterbrach ihn Sue. „Wissen Sie was? Sie erinnern mich verdammt an meinen Dad. Der wollte auch immer, dass meine Schwester und ich die Besten sind. In der Schule, auf dem College, beim Sport und beim Reiten natürlich auch. Meine Schwester ist daran zerbrochen. Und April muss es ausbaden – Sallys Unzufriedenheit, ihren Frust darüber, dass sie niemals berühmt und erfolgreich geworden ist. Kein Wunder, dass April so schlimm geworden ist. Und ich? Ich hab das Spiel von meinem Vater zuerst mitgespielt, genau wie Myriam Ihr Spiel mitspielt. Ich bin nach Hollywood und wurde ein Star, wie er es von mir erwartet hat. Aber eigentlich war ich total unglücklich. Wahrscheinlich hätte ich auch irgendwann angefangen zu saufen oder Tabletten zu nehmen, um den Druck aushalten zu können. Stattdessen bin ich ausgebrochen. Ich bin nach Deutschland ausgewandert und hab mir mit der Sunshine Ranch einen Traum erfüllt. Seitdem hat mein Dad nie mehr ein Wort mit mir gesprochen. Vor einem Jahr ist er gestorben, ohne dass wir uns miteinander versöhnt hätten.“

„Und was soll mir das sagen?“, fragte Herr Frey ärgerlich.

„Sie haben es in der Hand“, sagte Sue ruhig. „Wollen Sie, dass Myriam einsam, unglücklich und verbissen wird? Oder dass sie den Kontakt zu Ihnen abbricht? Dann machen Sie nur so weiter.“

Myriams Vater öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber seine Frau war schneller. „Nein, das wollen wir nicht“, sagte sie. „Und mit diesem ständigen Druck ist jetzt Schluss. Ich hab in letzter Zeit viel zu oft weggesehen. Weil ich nicht wahrhaben wollte, wie traurig und verstört Myriam wirklich war. Aber die letzte Nacht hat mir die Augen geöffnet. Ich hatte solche Angst um meine Tochter. Ich will dich nicht verlieren, Myriam.“

„Ich doch auch nicht!“, meinte ihr Mann empört.

„Und deshalb wird sich einiges ändern in unserer Familie“, erklärte Frau Frey.

Sue lächelte. Dann erhob sie sich. „So, ich muss auf die Wache. Ich habe April lange genug allein gelassen.“ Sie sah Tom an. „Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Nee, lass nur. Ich nehm den Bus“, winkte er ab. „Aber ich muss jetzt auch los.“

Myriam brachte die beiden zur Tür.

„Und?“, fragte Tom, nachdem Sue weg war. „Was hast du heute noch vor?“

Myriam gähnte. „Schlafen. Und morgen auch.“

„Und dann? Sollen wir uns vielleicht mal treffen?“

„Klar“, sagte Myriam und lächelte. „Gerne.“

„Ich war ein Riesenidiot“, bemerkte Tom zusammenhanglos.

„Warum?“, fragte Myriam erstaunt.

„Weil ich April geküsst habe. Dabei wollte ich die ganze Zeit nur dich.“

Myriam grinste. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, meinte sie.

Und dann küsste sie ihn.