Die Entscheidung
„Ziemlich fies, uns so hinzuhalten, was?“, fragte Tori, als sie sich am nächsten Tag in der großen Pause alle auf dem Schulhof trafen. „Ich hab die ganze Nacht nicht richtig geschlafen.“
„Der Typ spielt sich nur auf“, fand Jonas, ihr Freund.
„Eifersüchtig?“, fragte Sina spöttisch. „Viktor will heute Nachmittag auf jeden Fall mitkommen.“
„Ich muss mir diesen Kerl doch mal anschauen“, ergänzte Viktor.
„Ich werd auch dabei sein, da kannst du Gift drauf nehmen“, knurrte Jonas. „Was dieser Förster da abgezogen hat, war ja eine richtige Casting-Show.“
„Er will eben herausfinden, welche die Beste von uns ist“, verteidigte Hannah den Trainer. „Also, ich find das in Ordnung.“
Auch sie hatte die halbe Nacht wach gelegen. Wie ein Film in einer Endlosschleife war das Vorreiten wieder und wieder an ihrem geistigen Auge vorbeigezogen. Das furchtbare Lampenfieber, bevor sie in den Roundpen gegangen war. Hannes’ Zuspruch – tu’s für mich. Ihre Konzentration, sobald sie aufgesessen und losgeritten war. Und hinterher der begeisterte Applaus der anderen. Das war das Beste gewesen.
„Wie will er uns denn nach der kurzen Vorstellung beurteilen können?“, fragte Tori empört. „Normalerweise macht Tibor keine solchen Patzer beim Rückwärtsrichten. Es war einfach totales Pech, dass er nicht richtig mitgespielt hat.“
Schon klar. Tori war natürlich felsenfest davon überzeugt, dass sie die beste Reiterin auf der Sunshine Ranch war. Wahrscheinlich hätte sie es gerechter gefunden, wenn Förster sie von vorneherein wegen ihrer hellblonden Haare oder ihres hübschen Gesichts ausgewählt hätte.
„Für wen wird er sich entscheiden, was glaubt ihr?“, fragte Viktor.
„Sina“, sagte Tori wie aus der Pistole geschossen. „Die Trailnummer mit den Stangen war einfach gut. Und perfekt geritten.“
„War aber auch nicht so schwer. Ayla war viel mutiger als ich“, meinte Sina.
„Das war ja nicht gefragt.“ Ayla verzog das Gesicht. „Förster hat vorher extra gesagt, dass er keine Kunststücke erwartet. Er wollte vor allem sehen, ob Pferd und Reiter miteinander harmonieren. Und Saphir und ich waren nun wirklich nicht sehr harmonisch.“
„Vielleicht hättest du doch besser auf Nummer sicher gehen sollen und ein einfaches Horsemanship-Pattern einstudieren sollen“, gab Sina zu.
„Vielleicht“, meinte Ayla. „Aber die sichere Nummer war noch nie mein Fall. Ich wollte schon immer mal Reining reiten, also hab ich’s probiert.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Der Sliding Stop war natürlich total vermessen.“
„Es sah eher aus wie ein Sliding Galopp.“ Juliana kicherte. „Sorry“, meinte sie dann betreten.
„Schon gut.“ Ayla winkte grinsend ab.
„Und?“, fragte Viktor.
„Was und?“
„Wer ist deine Favoritin, Ayla?“
Ayla fuhr sich mit beiden Händen durch ihre kurzen schwarzen Haare. „Sina war gut. Und Juliana war nicht schlecht.“
„Na ja“, meinte Juliana zweifelnd. „Aber auch nicht wirklich hinreißend.“
„Und Hannah ist toll geritten“, sagte Ayla.
Hannah merkte, wie ihr Gesicht ganz heiß wurde. „Du spinnst doch“, murmelte sie.
„Also, was denn nun?“, fragte Viktor.
Ayla schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wen ich auswählen würde. Echt, ich könnt es nicht sagen.“
„Und was meinst du, Juliana?“, fragte Viktor.
„Hm. Sina. Ich glaub, ich bin auch für Sina.“
Tori malte mit ihrer Schuhspitze unsichtbare Kreise auf das Pflaster des Schulhofs. Sie war unzufrieden, weil keiner der anderen ihren Namen genannt hatte. „Na, heut Nachmittag wissen wir mehr. Vielleicht entscheidet Förster sich am Ende ja für keine von uns, weil ihm über Nacht die Erkenntnis gekommen ist, dass wir alle unter seiner Würde sind.“
„Kann schon sein“, meinte Hannah. Es war ihr vollkommen egal. Sie war einfach nur froh, dass sie sich gestern doch noch dazu durchgerungen hatte, gegen die anderen anzutreten.
Hannah fühlte sich leicht wie ein Luftballon, als sie nach dem Klingeln zurück zum Schulgebäude ging. Aber dann sah sie Myriam. Sie stand mit Helen vor dem Musikpavillon und erzählte etwas, wobei sie wild mit den Händen gestikulierte.
„Hi, Myriam“, rief Hannah und winkte. „Kommst du mit rauf?“
Myriam redete weiter. Offensichtlich hatte sie Hannah nicht gehört.
„Myriam?“ Hannah stand nun direkt neben ihr. „Es hat schon geläutet.“
Myriam blickte sie so befremdet an, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen. „Ich komm gleich“, sagte sie dann abweisend.
Hannah blieb noch einen Moment neben ihr stehen. Myriam redete einfach weiter mit Helen, als ob Hannah gar nicht da wäre.
„Ich geh dann mal“, murmelte Hannah.
Myriam nickte nur kurz, als Hannah sich abwandte und langsam wegging.
Obwohl Förster angekündigt hatte, dass er seine Entscheidung erst um vier Uhr bekannt geben wollte, waren sie alle schon um drei da.
„Ich hab’s zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten“, gestand Juliana.
„Vielleicht kommt er ja früher“, sagte Ayla. „Mann, bin ich gespannt.“
„Das ist ja lächerlich, was ihr hier für einen Aufstand macht“, fand Jonas.
„Du hast leicht reden“, stöhnte Tori. „Für dich steht nichts auf dem Spiel.“
„Für dich doch auch nicht“, erwiderte er verständnislos, woraufhin Tori nur die Augen verdrehte. Selbst Washington, der normalerweise von zwei bis um fünf sein Mittagsschläfchen hielt, ließ sich von der allgemeinen Nervosität anstecken und schlich ruhelos wie ein Tiger über den Hof.
„Wetten, dass Förster auch noch zu spät kommt?“, fragte Viktor. „Wir könnten locker vorher noch mal ausreiten.“ Aber nicht einmal Sina hatte Lust, ihn zu begleiten.
Um vier marschierte Frau Fischer, die pedantische Nachbarin, in den Hof, um sich zu beschweren, dass Sue ihre Mülltonnen zu nahe an die Einfahrt gestellt hatte.
Um Viertel nach vier kam Stefan an. „Lässt Uwe euch warten?“, fragte er kopfschüttelnd. „Das ist echt gemein. Normalerweise ist er total pünktlich. Vielleicht steht er im Stau.“
„Oder er will uns quälen“, knurrte Jonas.
Um zwanzig nach vier radelte Hannes auf die Ranch. „Und?“, fragte er, als er sie alle vor dem Stall sitzen sah. „Wer ist es geworden?“
Erst um kurz nach halb fünf fuhr Försters Sportwagen durchs Tor.
„Hallo zusammen!“, rief er beim Aussteigen. „Das ist ja eine richtige Versammlung! Wartet ihr auf was Bestimmtes?“
Damit sie in Ruhe reden konnten, lud Sue sie in ihre große Küche ein.
„Will jemand eine Cola?“, fragte sie.
„Nein danke“, sagte Tori, bevor einer der anderen irgendetwas entgegnen konnte. „Kommen wir lieber zur Sache.“
Förster lachte. „Die Einstellung gefällt mir.“ Dann räusperte er sich. „Also gut.“
Als er bedeutungsvoll in die Runde blickte, klopfte Hannahs Herz mit einem Mal wie verrückt.
Warum war sie so aufgeregt? Sie hatte ihren Teil geleistet und konnte voll und ganz mit sich zufrieden sein. Du lieber Gott, jetzt sah er sie auch noch an. Ihr Herz blieb fast stehen. Wollte er ihr etwas sagen? Nein, sein Blick wanderte weiter.
„Ich glaub, ich nehm doch eine Cola“, sagte Viktor.
Alle brachen in erleichtertes Lachen aus. Auch Förster grinste, während Sue aufstand, um Viktor ein Glas zu bringen.
„Tori“, sagte Förster dann.
„Was?“ Ein spitzer, heller Schrei. „Wusste ich es doch!“, jubelte Tori. „Hurra! Ich freu mich so!“
Förster hob warnend eine Hand. „Nicht so schnell.“
Der Triumph verschwand aus Toris Gesicht, als habe ihn jemand weggewischt.
„Du warst nicht schlecht“, sagte Förster. „Aber du kennst dein Pferd nicht richtig.“
„Wie bitte?“, fragte Tori verständnislos. „Ich reite Tibor seit vier Jahren.“
„Das bedeutet noch lange nicht, dass du ihn kennst. Manche Leute reiten ein Pferd ihr halbes Leben lang und haben dennoch keine Ahnung von ihm. Wenn man dir beim Reiten zusieht, erkennt man sofort, dass du dich nicht richtig auf Tibor einlässt.“
„Ich hatte gestern einfach einen schlechten Tag!“, protestierte Tori. „Wirklich! Geben Sie mir noch eine Chance, dann zeige ich Ihnen …“
Förster lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
„Juliana“, fuhr er dann fort.
Juliana lächelte tapfer, aber ein bisschen schief.
„Sehr schöne Übung, gut geritten.“ Mit einem Mal wurde ihr Lächeln sehr viel sicherer.
„Aber du bist mit dem Herzen nicht ganz bei der Sache“, sagte Förster bedauernd. „Weißt du, was ich damit meine?“
Juliana nickte unglücklich. „Ich glaube schon.“
„Auch du musst noch lernen, besser auf dein Pferd einzugehen.“
„Ich würde es ja so gerne lernen“, erwiderte Juliana kläglich.
Förster nickte. „Das wirst du auch, da bin ich mir ganz sicher.“ Aber nicht von mir, sagte sein Blick, der bereits zu Ayla weitergewandert war.
„Ayla?“
„Ja?“
„Du warst einfach super!“, sagte Förster. „Wirklich. Ich glaub, das war der mutigste Auftritt, den ich jemals gesehen habe.“
Ayla grinste breit. „Ach, kommen Sie. Das war der letzte Mist, den ich gestern gebracht habe.“
„Natürlich war es Mist“, stimmte Förster ihr zu. „Du hast nicht die geringste Ahnung vom Reining. Wahrscheinlich hast du es auch noch nie richtig trainiert.“ Jetzt nickten Ayla und Sue im Gleichtakt. „Aber dass du dich trotzdem getraut hast, mir diesen Spin und einen Sliding Stop vorzuführen …“ Er machte eine kleine Pause. „Ich vermute doch, dass das ein Sliding Stop sein sollte?“
„Ich glaube schon“, meinte Ayla.
„Toll. Ayla, ich hab lange hin und her überlegt. Am Ende hat mich eine deiner Freundinnen einfach noch mehr überzeugt. Aber die Entscheidung ist mir wahnsinnig schwergefallen.“
„Ist schon okay“, sagte Ayla großzügig. „Um ehrlich zu sein, ich bin auch so irre stolz.“
„Das kannst du auch sein.“ Nun wandte Förster sich an Sue. „Hast du vielleicht doch eine Cola für mich?“
„Du liebe Zeit“, stöhnte Viktor. „Sie machen es aber spannend. Können Sie nicht einfach kurz sagen, wer jetzt der neue Westernstar wird? Sind ja nur noch zwei übrig. Sina oder Hannah – wie heißt unser Champion?“
Förster nahm unbeeindruckt sein Glas in Empfang. „Sina oder Hannah“, wiederholte er dann nachdenklich. Bevor er weitersprach, trank er erst mal einen großen Schluck.
Bitte, bitte, bring’s endlich zu Ende!, dachte Hannah, deren Herz inzwischen presslufthammerartig dröhnte. Sie konnte kaum noch verstehen, was Förster sagte. Sag mir, was du zu sagen hast, dachte sie, zerreiß mich meinetwegen in der Luft, aber bitte tu’s schnell.
„Sina, du warst perfekt“, begann Förster schließlich. „Man kann es nicht anders sagen. Souveräner Auftritt, deine Gelassenheit hat sich auf dein Pferd übertragen. Du hast Janko gut im Griff, aber gleichzeitig lässt du ihm eine Menge Freiheit. Ich bin sehr beeindruckt …“
„Aber?“, unterbrach ihn Sina. „Das kommt doch jetzt, oder?“
Förster schüttelte den Kopf. „Aber da war eben eine, bei der ich noch mehr Potenzial sehe.“
Er sah Hannah an.
Hannah starrte zurück.
Das ist ein Witz, dachte Hannah. Wahrscheinlich dachten die anderen dasselbe. Auf jeden Fall fehlten allen die Worte.
Ayla fasste sich als Erste wieder. „Wow! Hannah! Herzlichen Glückwunsch!“ Sie sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte, rannte zu Hannah und umarmte sie. Auch die übrigen Mädchen drängten sich jetzt um Hannah und gratulierten ihr.
„Mensch, Hannah, wer hätte das gedacht!“, meinte Tori, die sie als Letzte umarmte. Obwohl sie versuchte, so viel Freude wie möglich in ihre Stimme zu legen, hörte man sofort, dass sie selbst die Entscheidung nicht nachvollziehen konnte.
Nach den Mädchen gratulierten die Jungen, Viktor, Jonas und zum Schluss Hannes. „Du hast es wirklich geschafft“, sagte er leise und gab Hannah einen Kuss auf die Wange. „Viel Glück.“
Ihr Gesicht begann sofort zu glühen. Erst wählte Förster sie aus und dann ein Kuss von Hannes. Das war alles zu viel, viel zu viel.
„Hey, hey, hey“, spottete Jonas. „Das hab ich genau gesehen.“
„Das genügt“, meinte Förster jetzt. „Nun kommt mal alle wieder runter.“
„Dass ich Hannah trainieren will, bedeutet erst mal gar nichts“, erklärte er, als sich alle einigermaßen beruhigt hatten. „Vielleicht passen sie und ich ja gar nicht zusammen. Vielleicht kommt sie mit mir als Trainer nicht klar, vielleicht komme ich mit ihr als Schülerin nicht zurecht. Vielleicht beenden wir unsere Zusammenarbeit in ein paar Tagen. Kann alles vorkommen.“
„Vielleicht haben Sie sich auch einfach in mir getäuscht“, sagte Hannah. Ihre Stimme klang so hell und dünn, dass sie sie selbst kaum wiedererkannte.
„Kann auch sein“, meinte Förster achselzuckend. „Wenn es so ist, werden wir es herausfinden. Die Qualifikation für das Turnier in Aachen findet in genau vier Wochen statt. Bis dahin haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns. Schaffst du es, dreimal die Woche mit mir zu trainieren?“
Hannah nickte. Ihre Eltern würden alles andere als begeistert sein, aber sie würden es akzeptieren. Sie mussten es einfach akzeptieren.
Es war schließlich unfassbar, dass Förster sich ausgerechnet für sie entschieden hatte. Wahrscheinlich war es ein Irrtum. In ein paar Tagen würde er feststellen, dass er sie total überschätzt hatte. Aber bis dahin würde sie alles tun, um ihn nicht zu enttäuschen.
So eine Chance würde sie niemals wieder bekommen.