Das Turnier
„Hannah und Myriam sind beide völlig unbekannt in der Turnierszene“, erklärte Stefan, nachdem er seine leere Kakaotasse gegen ein volles Rotweinglas getauscht hatte. „Keiner weiß etwas über euch, weil ihr noch nie zuvor angetreten seid. Also, jedenfalls nicht ernsthaft. Deshalb wurdet ihr ausgesucht. Förster hat mit Hannah trainiert und Heike Petersen hat ihren Mann überredet, dass er ihr Myriam überlässt.“ Er hob die Hand und fuhr fort, bevor Hannes etwas fragen konnte. „Bei der Vorausscheidung letzten Monat wurde Hannah unheimlich gepusht. Bestimmt hat Förster vorher schon seine Kontaktleute bei der Presse informiert und den Reportern vorgeschwärmt, wie toll sie ist. Vielleicht hat er sogar ein paar Preisrichter bestochen, dass sie Hannah auf Platz 1 ihrer Empfehlungsliste setzen. Myriam dagegen wurde von Heike angewiesen, so schlecht wie möglich zu reiten. Sie hat es gerade noch in die Auswahl geschafft.“
„Ich frage mich bloß, warum sie sich darauf eingelassen hat“, murmelte Sue.
„Keine Ahnung.“ Stefan zuckte mit den Schultern. „Aber ich hab mir sagen lassen, dass Heike Petersen unheimlich überzeugend sein kann.“
„Ich verstehe immer noch nicht, was das Ganze sollte“, sagte Hannah verständnislos.
„Ist doch ganz klar!“, rief Hannes. „Nach der Vorausscheidung warst du der absolute Favorit und Myriam der totale Außenseiter. Wenn nun jemand im Wettbüro große Mengen Geld auf Myriams Sieg setzt und sie das Turnier wider Erwarten gewinnt, dann hat dieser mutige Jemand richtig viel Asche verdient.“
„Du meinst also, Uwe und Heike haben auf Myriam gewettet?“
„Bingo“, nickte Hannes. „Und nicht zu knapp. Wenn sie gewinnt, dann sind sie reich. Danach kauft Heike ihrem Mann seinen Anteil der Ranch ab, lässt sich von ihm scheiden und lebt zusammen mit Uwe glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage …“
„… und wenn sie nicht gestorben sind, betrügen sie noch heute“, schloss Stefan.
„Aber damit das passiert, muss Myriam erst mal gewinnen“, sagte Sue.
„Sie wird gewinnen“, meinte Hannah düster. „Ich hab sie heute Abend beim Training gesehen. Sie reitet einfach fantastisch.“
„Nein“, widersprach Sue. „Sie wird nicht gewinnen. Du wirst gewinnen, Hannah.“
Dann redeten sie alle drei auf Hannah ein. Natürlich trittst du an, das ist doch keine Frage, du schaffst das, wir glauben an dich, du bist toll, du bist die Größte.
„Das ist absoluter Quatsch!“, rief Hannah schließlich. „Ich hab nicht die Spur einer Chance. Myriam ist perfekt und ich kenn noch nicht mal das Pattern, das ich beim Turnier reiten soll.“
„Das ist doch das geringste Problem“, erklärte Stefan. „Ich ruf morgen Früh in Aachen an und lass es mir rüberfaxen.“
„Aber dann hab ich nur noch einen Tag zum Üben“, wandte Hannah ein. „Das pack ich nie und nimmer.“
„Falsch“, meinte Stefan. „Du hast überhaupt keine Zeit mehr zum Üben. Ich muss Acapulco nämlich am Vormittag nach Aachen bringen, damit er sich vor dem Turnier noch an die neue Umgebung gewöhnen kann.“
„Na also.“ Hannah biss sich auf die Lippen. „Vergiss es.“
„Du hast vorhin selbst gesagt, dass das Pattern gar nicht so schwer ist“, erklärte Hannes. „Die einzelnen Übungen kannst du im Schlaf. Du musst die Abfolge nur auswendig lernen, dann reitest du das mit links.“
„Niemals“, sagte Hannah.
„Bitte“, flüsterte Sue.
„Komm schon“, sagte Stefan. „Für die Sunshine Ranch.“
„Und wenn ich verliere?“, wisperte Hannah.
„Dann verlierst du eben“, meinte Hannes. „Aber du hast es wenigstens versucht.“
Es war schlimmer, viel schlimmer als bei der Vorausscheidung.
Damals war Hannah nervös gewesen. Jetzt war sie panisch. Ihre Hände waren nass vor Schweiß, ihr Puls raste, ihre Knie zitterten.
Wenn Hannes nicht gewesen wäre, wäre sie vermutlich längst in Ohnmacht gefallen. Aber er wich nicht von ihrer Seite. Er fütterte sie mit Traubenzucker und Vitamindrinks, er hielt ihre Hand, er versicherte ihr wieder und wieder, wie super sie war.
Hannah hätte ihm so gerne geglaubt, aber sie schaffte es nicht. Jetzt schaute sie zum sechsten Mal in einer Viertelstunde auf die Uhr. „Noch vierzig Minuten. Wie soll ich das bloß überstehen?“
„Da drüben ist Uwe“, sagte Hannes.
Uwe. Hannahs Herzschlag wurde noch schneller. Wenn das so weiterging, würde sie gleich durchdrehen wie ein überhitzter Motor. Und aus den Ohren rauchen.
Uwe lehnte lässig an dem Gitter, das die Zuschauertribüne vom Reitplatz trennte. Er hatte Hannah nicht gesehen, weil er genau in die andere Richtung blickte. Am Haupteingang der Halle standen Heike und Myriam. Myriam trug ihr dunkles Haar offen. Glänzend fiel es auf ihr leuchtend grünes Westernhemd. Ihr Gesicht, ihre Haltung, ihr ganzes Wesen strahlten Selbstvertrauen aus. Ob Heike ihr das Outfit ausgesucht und geschenkt hatte, so wie Hannah bei der Vorausscheidung das rote Hemd von Uwe bekommen hatte? Auf jeden Fall sah Myriam einfach super aus.
„Komm“, sagte Hannes und zog Hannah am Ärmel in Richtung Seitenausgang. „Die müssen dich noch nicht sehen. Und ein bisschen frische Luft wird dir guttun.“
Hannah nickte schwach.
Sobald sie die stickige, überfüllte Halle verlassen hatten, ging es ihr tatsächlich besser.
„Uwe weiß doch längst, dass ich antrete“, meinte Hannah. „Mein Name steht schließlich auf der Teilnehmerliste. Und das, nachdem er mich gestern persönlich abgemeldet hat.“
„Vielleicht hält er das für einen Irrtum. Er rechnet bestimmt nicht damit, dass Sue dich wieder angemeldet hat.“
„Wenn es nur schon vorbei wäre“, murmelte Hannah.
Sie setzten sich unter einen Baum auf die Wiese. Hannah zupfte Gänseblümchen und ordnete die weißgelben Blüten zu einer Schlangenlinie. Wie es Myriam jetzt wohl ging? Ob sie ebenfalls aufgeregt war, zumindest ein bisschen? Vorhin in der Halle hatte sie absolut cool ausgesehen. Myriam war ja auch vor Klassenarbeiten niemals nervös. „Ich weiß eben, was ich kann“, sagte sie immer.
Und ich weiß nur, was ich nicht kann, dachte Hannah.
„Sollen wir das Pattern noch mal durchgehen?“, fragte sie laut.
„Nicht nötig.“ Hannes schüttelte den Kopf. „Es ist da drin.“ Er klopfte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. Das stimmte.
Sie hatte das Pattern am Vortag nur kurz angeschaut und direkt abgespeichert. Das verdankte sie Uwe. In seinen ersten Reitstunden hatte er sie so viele Patterns einstudieren und auswendig lernen lassen, dass es jetzt nur noch eine Frage von Minuten war, bis sie sich eine Übungsabfolge eingeprägt hatte. Aber trotzdem.
„Ich hab solche Angst“, flüsterte Hannah.
Hannes lächelte. „Ich hab früher vor meinen Turnieren immer so ein Spiel gemacht. Hab ich mir damals selbst ausgedacht. Es ist ziemlich albern, aber bei mir hat es funktioniert.“
„Und wie ging dieses Spiel?“
„Ich hab meine linke Hand geballt, so.“ Er schloss seine Linke zur Faust. „Und dann die Augen zugemacht. Und dabei hab ich mir etwas Wunderschönes vorgestellt.“
„Und was war das?“, wollte Hannah wissen.
Hannes schüttelte den Kopf. „Das verrat ich nicht. Ist eh egal, weil für jeden Menschen andere Dinge schön sind.“
„Okay. Und dann?“
„Wenn ich dann beim Turnier Angst bekam oder nervös wurde, hab ich die Faust wieder geballt. Und dann kam dieses Gefühl zurück.“ Er grinste. „Klingt total bescheuert, was?“
„Kann man so sagen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Mir hat’s jedenfalls geholfen.“
Hannah zögerte. „Ich kann’s ja mal ausprobieren.“
Sie ließ Hannes nicht los, während sie ihre linke Hand zur Faust ballte.
Dann schloss sie die Augen. Und nun? Was sollte sie sich vorstellen? Etwas Wunderschönes.
Es dauerte ein paar Sekunden, dann wusste sie, wie ihr Traum aussah.
„Hey“, sagte Hannes leise und drückte ihre Hand. „Ich glaube, wir sollten mal langsam wieder rein.“
„Was?“ Hannah öffnete verwirrt die Augen.
„In zehn Minuten beginnt das Turnier.“
Sie sprang auf. „Ach du Schreck!“
„Keine Panik. Geht es dir besser?“
Sie runzelte die Stirn. Ja, es ging ihr wirklich viel besser als vorher. Die Aufregung war nicht weg, aber sie loderte nicht mehr wild und unkontrolliert, sondern flackerte nur noch. „Dein Spiel hat funktioniert. Danke für den Tipp.“
Sue hatte Acapulco bereits gesattelt und aufgezäumt. „Willst du hier hinten mit ihm warten, bis ihr an der Reihe seid, oder möchtest du die anderen Reiter sehen?“, fragte sie Hannah.
„Ich warte hier“, sagte Hannah. Sie hatte die Startnummer 6. Das bedeutete, dass sie als eine der Ersten dran war. Zum Glück.
„Wenn es okay ist, lasse ich dich hier mit Hannes zurück“, sagte Sue. „Ich würde gerne zuschauen. I’m really curious.“
„Myriam startet als Zwölfte“, sagte Hannes. „Ich hab ihren Namen auf der Anzeigentafel gelesen.“
Aber Hannah hörte gar nicht richtig zu. Sie hielt ihre Augen geschlossen und hatte die Linke zur Faust geballt.
„Nummer 6: Hannah Hoffmann.“ Ihr Name drang über den Lautsprecher durch die ganze Halle. Spätestens jetzt wüssten Uwe und Heike Bescheid, dass Hannah wirklich antrat. Wie sie wohl reagierten? Uwes Miene war bestimmt undurchdringlich. Und Heike lächelte wahrscheinlich wieder ihr bezauberndstes Lächeln. Möge die Bessere gewinnen. Hahaha.
Acapulco schnaubte freudig, als Hannah sein Halfter ergriff, um ihn auf den Reitplatz zu führen. Als ob er es kaum noch erwarten könnte.
„Toi, toi, toi!“, sagte Hannes. Er spuckte dreimal über Hannahs Schulter, dann küsste er sie auf beide Wangen und zum Schluss auf den Mund.
„Danke.“ Hannah schloss ein letztes Mal die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und holte tief Luft. Jetzt ging es los.
Am Anfang rutschte Hannah vor Aufregung fast aus dem Sattel. Nachdem sie auf den Platz geritten war, hielt sie Acapulco an, um die Jury zu grüßen. Aber ihr Herz galoppierte einfach weiter.
Die Preisrichter saßen auf erhöhten Plätzen in der ersten Reihe. Hannah nickte ihnen kurz zu, während sie die Linke zur Faust ballte. Es wirkte. Sie fühlte sich augenblicklich ruhiger.
Nichts kann dir geschehen, Hannah!, hörte sie Hannes wieder sagen.
Lächelnd lenkte sie Acapulco auf die Startposition und rief sich gleichzeitig das Pattern ins Gedächtnis.
Im Trab ging es über ein kompliziertes Geflecht aus Stangen, von links nach rechts und dann wieder zurück. Danach kam eine einzelne Stange. Nachdem Acapulco darübergesetzt hatte, beschleunigte Hannah das Tempo. Er galoppierte über fünf Stangen, die in unregelmäßigen Abständen auf dem Boden lagen, ein weiteres Hindernis ließen sie links liegen und hielten nun auf die Stangengasse zu. Vor der hinteren Begrenzung blieb Acapulco stehen und verharrte einen Moment bewegungslos, bis Hannahs Schenkel ihm das Zeichen gaben, langsam zurückzugehen.
Während Hannah den Appaloosa wieder zum Galopp brachte, fiel ihr Blick auf Uwe. Er saß direkt neben den Preisrichtern, das Kinn auf die Hände gestützt, der Gesichtsausdruck schwer zu deuten. Hannah ballte ihre Faust und schaute wieder nach vorn auf die Bahn. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr stark und ungeheuer stolz.
Rückwärtsgerichteter Slalom, Wendung, Holzbrücke und Tor – sämtliche Übungen absolvierte Acapulco fehlerfrei und mühelos.
Als Hannah den Ausgangspunkt wieder erreichte, brandete auf den Tribünen tosender Beifall auf. Einige Leute erhoben sich sogar von ihren Plätzen, um ihr zu applaudieren. Beim Verabschieden strahlte Hannah die Wettkampfrichter an.
Und alle fünf lächelten zurück.
Unter dem Applaus des Publikums führte sie Acapulco an Uwe vorbei. Am liebsten wäre sie einfach weitergegangen, aber als sie direkt vor ihm war, zwang sie sich stehenzubleiben. Und ihn anzusehen.
Sie erwartete eigentlich, dass ihr Herz sofort wieder losrasen würde, aber es blieb ganz ruhig. Vermutlich hatte sie gerade ihren ganzen Vorrat an Adrenalin für die nächsten Wochen aufgebraucht.
Uwe erwiderte ihren Blick, ruhig und ohne zu lächeln. Dann erhob er sich langsam und begann ebenfalls zu applaudieren.