Die Vorausscheidung
Hannah bekam die Startnummer 31. „Das ist dreizehn von hinten“, sagte sie düster, als ihr einer der Wettkampfrichter ihre Startunterlagen aushändigte. „Eine Unglückszahl.“
„Du spinnst“, meinte Hannes.
Er war zusammen mit seinem Vater, Sue, Tori und Sina heute Morgen in Aachen angekommen. Hannah war völlig von den Socken gewesen, als sie sie vor der Reithalle getroffen hatte. „Das wäre doch nicht nötig gewesen!“
„Na hör mal“, meinte Tori. „Wir müssen dich doch anfeuern.“
„Hm, diese Stimmung, diese Atmosphäre!“ Sue zog genießerisch die Luft ein. „Am liebsten würde ich auch gleich mit antreten.“
„Echt?“ Hannes verzog das Gesicht. „Ich bin bloß froh, dass ich nicht mitmache.“
Das konnte Hannah nur zu gut nachvollziehen. Am liebsten hätte sie ihre Anmeldung direkt wieder zurückgezogen. Ihr war schlecht vor Aufregung.
Es lag an der Stimmung in der Reithalle. Die Luft knisterte, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Überall standen aufgeregte Teilnehmer, die ihre Wettkampfunterlagen studierten und die letzten Details mit ihren Trainern besprachen. Und auf den Rängen rund um den großen Reitplatz drängten sich die Besucher. Obwohl es heute nur um die Vorausscheidung ging, waren die Reihen dicht gefüllt. Die Leute lachten, redeten und tranken Kaffee und Limo. Wie auf einem Volksfest.
„Willst du noch was essen?“, fragte Hannes. „Ich kann dir ein Brötchen holen. Oder was Süßes? Das ist gut für die Nerven.“
„Nicht für meine.“ Hannah knetete nervös ihre Hände. Dann zog sie zum hundertsten Mal an diesem Morgen das Blatt mit dem Wettkampfpattern aus der Tasche. „Lope over poles, jog, 360°-turn … he, was machst du denn da?“, schrie sie empört, als Hannes ihr das Papier aus der Hand nahm.
„Keine Sorge“, sagte er. „Du kannst es längst auswendig. Wenn du dir das immer wieder anschaust, machst du dich nur verrückt.“
„Und wenn ich nun einen totalen Blackout habe und alles vergesse? So was kommt vor.“
„Dann atmest du ruhig durch und alles fällt dir wieder ein.“
Genau dasselbe hatte ihr gestern auch Uwe gesagt. Wo steckte er überhaupt?
Während Hannah mit ihren Eltern erst am frühen Morgen in Aachen angekommen war, war Uwe schon seit gestern hier. Er hatte Acapulco zum Turnierplatz gefahren und im Pferdestall neben der Halle untergebracht. Es war besser, wenn der Wallach genügend Zeit hatte, sich an die Umgebung zu gewöhnen.
Vielleicht suchte Uwe ja schon nach Hannah, um ihr letzte Instruktionen für das Vorreiten zu geben. Hannah begann wieder ihre Hände zu kneten.
„Komm“, sagte Hannes. „Wir hauen ab. Wir gehen nach hinten zu den Boxen. Pferde haben so was Beruhigendes. Das tut dir bestimmt gut.“
Er hatte Recht. Die vielen Pferde, die ihre großen Köpfe über die Abtrennung der Boxen streckten und an ihnen schnupperten, wirkten tatsächlich ungemein entspannend.
„Da hinten steht Acapulco“, sagte Hannah. Sie wühlte in ihren Taschen nach einem Stück Brot oder einer Möhre und fand nichts.
Hannes hatte ein Zuckerstück dabei.
„Zur Feier des Tages“, meinte er, während er dem Appaloosa über die schwarz gefleckte Nase streichelte. „Schau nur, wie gelassen er ist. Er macht sich überhaupt keine Sorgen. Warum auch?“
„Tja, warum auch?“, echote Hannah spöttisch. „Vielleicht fliege ich ja gleich raus. Aber was soll’s.“
„Eben. Was soll’s?“
Hannah warf ihm einen empörten Blick zu. „Dann war alles umsonst!“
Hannes lachte leise. „Quatsch. Es gibt immer ein nächstes Mal.“ Er sah Hannah ernst an. „Und es gibt Wichtigeres als so ein blödes Turnier. Das darfst du nicht vergessen, Hannah.“
„Das sagst du so leicht. Aber ich hab wochenlang trainiert. Uwe auch. Und Sue hat eine Menge Geld für mich bezahlt. Wenn ich versage, war das alles für die Katz.“
Hannes zuckte mit den Schultern. „Sie werden es überleben.“ Dann grinste er. „Auf jeden Fall siehst du super aus.“
„So ein Blödsinn“, widersprach Hannah und wurde rot. Super war vollkommen übertrieben. Aber für Hannah-Verhältnisse sah sie tatsächlich gut aus, da hatte Hannes Recht.
Durch die vielen Reitstunden und den Trainingsstress der letzten Wochen hatte sie ein paar Kilo abgenommen, sodass ihr rundes Kindergesicht viel schmaler und erwachsener wirkte. Ihre Breeches hatte sie mit einem Gürtel zusammenziehen müssen, damit sie ihr nicht über die Hüften rutschten. Und das rote Westernhemd passte einfach hervorragend zu ihrem dunklen Pagenkopf.
Das Hemd hatte Uwe ihr gestern geschenkt. „Die Wettkampfrichter sind auch nur Menschen“, hatte er ihr erklärt. „Wenn du gut aussiehst, hast du automatisch ein paar Pluspunkte.“
„Ich hoffe …“, begann Hannes neben ihr, aber was er hoffte, bekam Hannah nicht mehr mit.
Weil sie plötzlich Myriam entdeckte.
Myriam stand am Ende der Stallgasse vor der Box eines großen Westernpferdes und unterhielt sich mit Heike Petersen.
„Was?“, fragte Hannes, der ihrem Blick gefolgt war.
„Myriam“, flüsterte Hannah. „Meine Güte, die wirkt ja total fertig.“
Es war wirklich erschreckend. Auch Myriam hatte abgenommen, aber im Gegensatz zu Hannah sah sie dürr und abgespannt aus. Ihr Haar fiel zerzaust und speckig auf ihre Schultern. Ihre Breeches waren an den Knien ausgebeult, als hätte sie in ihnen geschlafen. Und das Hemd musste sie heute Morgen von ihrem Vater geborgt haben. Auf jeden Fall war es viel zu groß und schlackerte um ihren schmalen Oberkörper.
Hannes schüttelte betroffen den Kopf. „Da siehst du, wie einem dieser blödsinnige Westernbetrieb zusetzen kann“, sagte er leise. „Die Kingsize-Leute machen Myriam ganz kaputt mit ihrem Psychokram und Leistungsdruck.“
Bevor Hannah antworten konnte, hatte Heike sie bemerkt.
„Hey!“ Sie lachte und winkte zu ihnen herüber. „Sunshine ist also auch da! Trittst du beim Turnier an?“
Hannah nickte. „Ich will’s zumindest versuchen.“
Myriams Augen wurden groß vor Erstaunen. „Was? Du? Aber du hast doch überhaupt keine Turniererfahrung.“
„So viele Turniere bist du doch auch noch nicht geritten“, sagte Hannah. „Und probieren kann man es ja mal.“
„Ja klar“, sagte Myriam verächtlich. „Da steckt doch Sue dahinter. Sie ist sauer, dass ich zu Kingsize gewechselt bin und will mir jetzt beweisen, was ihr Tolles draufhabt.“ Sie lachte spöttisch. „Da hat sie sich ja die Richtige ausgesucht!“
Ihre abfälligen Worte trafen Hannah wie ein Schlag in den Bauch. Während sie noch nach einer passenden Erwiderung suchte, trat Hannes neben sie.
„Hat sie auch“, sagte er ruhig. „Hi, Myriam. Du startest also heute deine Weltkarriere?“
Myriam ignorierte ihn einfach. „Hat Sue dich trainiert?“, fragte sie Hannah.
„Nee. Wir haben jetzt einen neuen Reitlehrer.“
„Na, dann hat’s ja vielleicht was gebracht, dass ich abgehauen bin.“
„Du bist Hannes Müller, oder?“, wandte sich Heike nun an Hannes. „Reitest du auch mit?“
„Nee, ich fang bestimmt nicht wieder an.“
„Und in welcher Disziplin startest du, Hannah?“
„Trail“, erwiderte Hannah. „Myriam und ich treten also gar nicht direkt gegeneinander an. Du machst ja Reining, oder?“
„Quatsch. Ich reite auch Trail“, gab Myriam unwirsch zurück.
Hannah unterdrückte ein Lächeln. Anscheinend hatten Myriams Leistungen beim Reining nicht gereicht, also hatte sie Petersen nur beim Trail angemeldet. Das konnte die ehrgeizige Myriam natürlich nicht ertragen. Wahrscheinlich sah sie deshalb so elend aus.
„Also dann …“ Heike streckte Hannah ihre Hand hin. „Hals- und Beinbruch. Und viel Glück.“
„Das meinen Sie doch nicht im Ernst“, meinte Hannah, während sie die Hand ergriff.
Heike lachte. „Möge die Bessere gewinnen. Und das meine ich ernst, glaub mir.“
„Das ist ein Wort.“ Hannes schüttelte ebenfalls Heikes Hand.
Nach kurzem Zögern streckte Hannah auch Myriam die Hand hin. „Alles Gute, Myriam.“
Myriam berührte ihre Finger nur ganz flüchtig, dann zog sie ihre Hand wieder zurück.
„Ja, ja. Danke“, meinte sie geistesabwesend. „Dir auch, Hannah.“
„Lass dich davon bloß nicht runterziehen“, warnte Uwe Hannah, als sie ihm von dem Zusammentreffen mit Myriam berichtet hatte.
„Bestimmt nicht“, meinte Hannah grimmig. „Diese blöde Kuh sollte sich besser warm anziehen. Die wird nämlich gleich erleben, was Sache ist.“
„Ich wusste doch, dass mehr in dir steckt als nur das schüchterne, nette Mädchen“, sagte Uwe anerkennend. „Endlich zeigst du, dass du auch richtig Biss hast. Myriam ist gut. Aber du bist besser. Das ist die Einstellung, die dich zum Sieg bringt.“
Er lehnte an der Abtrennung der Box, während Hannah Acapulco sattelte.
„Sollen wir das Pattern noch mal durchgehen?“, fragte Hannah, während sie den Sattelgurt festzog.
„Quatsch“, wehrte Uwe ab. „Du kannst es im Schlaf, da bin ich mir ganz sicher. Iss noch eine Kleinigkeit, bevor du reitest. Du hast heute Morgen bestimmt nicht gefrühstückt.“
Das stimmte. Vor lauter Lampenfieber hatte Hannah beim Frühstück keinen Bissen runtergebracht.
Uwe reichte ihr einen Schokoriegel. „Nicht sehr gesund, ich weiß. Aber dafür lecker. Welche Startnummer hast du überhaupt?“
„Einunddreißig“, sagte Hannah. „Meine Glückszahl.“
Hannah klopfte Acapulco ermutigend den Hals. „Wir schaffen das, alter Junge“, flüsterte sie.
Dann richtete sie sich auf und grüßte die drei Wettkampfrichter, die an der Stirnseite des Reitplatzes hinter einem Tisch saßen. Die beiden Männer starrten ausdruckslos zurück. Die Frau, die ihr vorhin auch ihre Unterlagen gegeben hatte, lächelte freundlich.
Noch ein schneller Blick ins Publikum. Irgendwo da oben saßen ihre Eltern, Hannes und der Rest. Uwe stand unten hinter der Absperrung und nickte ermutigend, als sich ihre Blicke begegneten.
Also dann. Los.
Hannah brachte Acapulco in einen leichten Galopp. In einem großen Z überquerte er das Stangenkreuz, dann ein Trab um den ganzen Platz, bis zu einem Quadrat aus Stangen, in dem er eine 360°-Drehung absolvieren sollte. Das Pattern war kurz, viel kürzer als die Übungsabfolge, die sie später beim Turnier würde reiten müssen. Aber zur Vorausscheidung traten ja auch über sechzig Kandidaten an, von denen mehr als zwei Drittel ausscheiden würden.
„Du schaffst es auf jeden Fall“, hatte Uwe Hannah vorhin noch versichert.
Natürlich schaffe ich es, dachte sie jetzt. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, während des Vorreitens nicht ins Publikum zu schauen, glitt ihr Blick in die Ränge. Ob Myriam irgendwo dort oben saß und ihr zusah? Hannah selbst hatte sich die Auftritte der anderen Teilnehmer nicht angeschaut, weil sie wusste, dass sie das nur noch aufgeregter gemacht hätte. Sie hatte auch keine Ahnung, ob Myriam vor ihr geritten war oder erst nach ihr an der Reihe war.
Konzentration, ermahnte sich Hannah selbst, als Acapulco nun das Stangenquadrat betrat. Die 360°-Wendung war ihre Zitterübung. Die Drehung hatte Acapulco nämlich früher nur unter enormem Zügeleinsatz vollführt. Aber Uwe hatte Hannah erklärt, dass das Pferd allein auf ihren Schenkeldruck reagieren sollte. „Die Zügel werden nur als allerletztes Hilfsmittel eingesetzt.“
Leider fand Acapulco es jedoch ganz und gar nicht nachvollziehbar, dass er sich einmal um seine eigene Achse drehen sollte, nur weil ihm Hannah ihre Schenkel in die Flanken presste.
Hannah schnalzte behutsam mit der Zunge. Eigentlich waren Lautsignale bei Wettkämpfen verboten, aber das Geräusch war so leise, dass die Preisrichter es unmöglich hören konnten. Acapulco dagegen vernahm es genau und setzte sich auch sofort in Bewegung. Allerdings wurde er nach einer halben Drehung gefährlich langsam, sodass sie noch leicht mit dem linken Zügel nachhelfen musste.
Das blieb der einzige Schönheitsfehler. Sowohl die Brücke als auch das Tor absolvierte der Wallach einwandfrei. Erleichtert klopfte Hannah seinen Hals und sprang aus dem Sattel.
Im Publikum wurde applaudiert, die Wettkampfrichterin lächelte noch wohlwollender als vorhin. Die beiden Männer nickten immerhin anerkennend, bevor sie sich über ihre Unterlagen beugten, um sich Notizen zu machen.
Auch Uwe klatschte begeistert, als Hannah mit Acapulco auf ihn zukam. „Herzlichen Glückwunsch, Hannah“, raunte er ihr zu.