Hannah will’s wissen
„Hast du Lust auf einen Ausritt, Hannah?“ Tori und Ayla führten ihre Pferde gerade zum Sattelplatz, als Hannah auf den Hof radelte. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Fast drei. In einer halben Stunde hatte sie Reitunterricht, danach hatten sich zwei Reporter der Zeitschrift „Westernfriends“ angekündigt. Sie wollten Hannah interviewen und fotografieren. „Wir machen ein schönes Porträt über dich und dein Pferd“, hatte die Journalistin am Telefon versprochen.
„Nee, das wird heut leider nichts“, meinte Hannah.
„Der Ruhm hat seinen Preis“, kommentierte Tori spöttisch.
Hannah nahm die Bemerkung gar nicht richtig wahr.
Bis zum Turnier waren es nur noch drei Wochen. Drei lächerliche Wochen. Jede Sekunde musste sie nutzen, um zu trainieren, sich zu verbessern und ihre Nerven zu stärken.
„So ein Schnitzer wie bei der 360°-Wendung darf mir beim Turnier nicht passieren“, verkündete Hannah, als sie Uwe am Roundpen traf. „Ich muss die einzelnen Übungen einfach besser beherrschen.“
Uwe nickte. „Seh ich genauso.“ Aber als Hannah das Tor zum Roundpen öffnen wollte, hielt er sie zurück. „Warte!“
„Worauf denn?“
„Auf mich und Harlekin“, sagte Uwe. „Ich sattle ihn schnell und dann geht’s los.“
Hannah starrte ihm verwirrt nach, als er in Richtung Pferdekoppel verschwand, um Harlekin zu holen. Was hatte Uwe vor? Wollte er ihr die Übungen auf Harlekin vorführen? Aber warum nahm er zum Vorreiten nicht einfach Acapulco?
„Wir reiten aus“, erklärte Uwe, als er wieder zurückkam. Dann schwang er sich auf Harlekins Rücken und ritt los, bevor Hannah nachfragen oder gar protestieren konnte.
Nebeneinander trabten sie durch den Wald bis zu der Löwenzahnwiese, auf der sie am Vortag noch mit Hannes gewesen war.
Hier ließ Uwe sie aus dem Gedächtnis das Pattern reiten, das er in der letzten Woche mit ihr geübt hatte. Es war total lächerlich. Acapulco trampelte durch kniehohes Gras über eine Wiese, auf der kein einziges Hinderniss stand. Hannah musste also die ganze Zeit so tun, als ob sie den Wallach über eine Holzbrücke oder durch eine Stangengasse lenkte.
„Das ist doch albern“, nörgelte sie nach dem ersten Durchgang. „Warum reiten wir nicht zurück und ich trainiere noch eine Weile richtig im Roundpen?“
„Das haben wir schon gemacht“, sagte Uwe. „Im Roundpen auf der Sunshine Ranch bist du perfekt. Und Acapulco auch. Aber in Aachen ward ihr nicht perfekt. Es reichte für die Vorausscheidung, aber um zu gewinnen, ist es nicht genug. Das ist dir bei der Drehung selbst aufgefallen, oder? Du musstest mit den Zügeln nachhelfen und du hast Acapulco ein Lautsignal gegeben. Das ist nicht erlaubt, wie du weißt.“
„Das hast du bemerkt?“, fragte sie betroffen. „Meinst du, die Wettkampfrichter haben es auch mitbekommen?“
„Natürlich. Die sind doch nicht blöd.“
„Aber ich verstehe trotzdem nicht, was es nun bringen soll, dass ich hier im Wald auf- und abtrabe. Das kommt mir alles so bescheuert vor.“
„Es ist aber nicht bescheuert. Acapulco muss lernen, dass die Umgebung völlig egal ist. Genauso wie das Hindernis, das er überwinden muss. Ob da ein Stangen-U liegt oder ein Quadrat, ob die Hütchen grün oder gelb sind oder meinetwegen auch in Flammen stehen … das ist alles überhaupt nicht von Interesse. Er muss genau das tun, was du von ihm willst. Ohne zusätzliche Anleitung, ohne Zwang. Verstehst du?“
Hannah nickte.
Sie ritt das gleiche Pattern noch einmal und diesmal sah sie die Hindernisse vor sich auf der Wiese liegen, als wären sie wirklich da. Konzentriert dirigierte sie Acapulco durch die ganze Übungsabfolge. Als er am unsichtbaren Stangen-U den Kopf senkte, um zu grasen, begann sie gleich noch mal von vorn.
„Das ist die richtige Einstellung“, sagte Uwe zufrieden, als Pferd und Reiterin nach einer Dreiviertelstunde schweißgebadet innehielten. „Wir nähern uns unserem Ziel.“
Hannah atmete auf. Wurde ja auch langsam Zeit.
Was die Reporter alles von ihr wissen wollten!
Welches ihr Lieblingsfach in der Schule war, wie sie in Mathe und Englisch stand, ob sie gerne las und wie sie sich mit ihrem Bruder verstand. Ob ihre Eltern ihre Reitkarriere förderten oder das Ganze eher kritisch sahen.
„Meine Reitkarriere“, wiederholte Hannah irritiert. „Ich hab ja bisher noch gar keine Karriere gemacht. Ich trete nur bei dem Turnier in Aachen an, das ist alles.“
„Na hör mal“, rief die Journalistin, die zusammen mit einem Fotografen auf die Sunshine Ranch gekommen war. „Das Aachener Westernturnier ist der größte und wichtigste Westernwettbewerb in ganz Deutschland. Und du giltst als absolute Favoritin. Ist dir das eigentlich klar?“
Hannah spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Dabei war es ein milder, sonniger Frühlingstag. Nein, so richtig klar war ihr das anscheinend noch nicht geworden. Aber langsam dämmerte es ihr.
Die beiden Reporter ließen sie auf Acapulco über die Pferdekoppel galoppieren, sie fotografierten sie im Roundpen, im Stall und am Sattelplatz. Sie knipsten sie zusammen mit Esel Fritz und dem Fohlen Frida, mit dem Reiterhelm auf dem Kopf und dem Sattel in den Armen. „Und jetzt noch ein Bild mit dem Hund“, sagte der Fotograf und blickte sich suchend um. „Unsere Leser lieben Hunde.“
„Wo ist das Tier denn jetzt?“, fragte die Journalistin, die in der letzten halben Stunde bestimmt viermal über Washington gestolpert war.
„Wenn man ihn braucht, ist er nie da“, erklärte Hannah.
„Na, egal.“ Die Frau klappte ihr Notizbüchlein zu und ließ es dann in ihrer Handtasche verschwinden. „Wir müssen jetzt los.“
„Okay.“ Hannah atmete erleichtert auf. Sie schrieb am nächsten Tag einen Biologietest und musste dringend lernen.
„Wo wohnst du noch mal?“, fragte der Fotograf.
„Lindenallee 5“, erwiderte die Reporterin an Hannahs Stelle. „Deine Familie weiß hoffentlich, dass wir kommen?“
„Also, irgendwie geht mir das Ganze langsam zu weit“, sagte Frau Hoffmann, nachdem sie abends um sieben endlich die Tür hinter den beiden Reportern geschlossen hatte. „Gestern der Fernsehbericht war ja ganz okay. Und gegen ein Interview hab ich auch nichts einzuwenden. Aber dass die uns nun fast eine Stunde lang auf die Nerven gehen mussten und das halbe Haus abfotografiert haben …“
„Hmmmh.“ Hannah konnte nicht antworten, weil sie sich gerade ein halbes belegtes Brot in den Mund gestopft hatte. Ihr fehlte die Zeit zum Essen. Sie hatte schließlich noch keine Hausaufgaben gemacht und auf den Biotest musste sie sich auch noch vorbereiten.
„Ich will in Zukunft keinen Reporter mehr hier sehen“, erklärte ihr Vater, der vor einer halben Stunde von der Arbeit nach Hause gekommen war und den Journalisten direkt in die Arme gelaufen war. „Ich komm mir ja schon vor wie bei Deutschland sucht den Superstar.“
„Also, ich fand die ganz cool“, sagte Max feixend. „Bin gespannt auf den Artikel. Vielleicht hauen die Hannah ja total in die Pfanne.“
„Oder dich!“, giftete Hannah zurück, während sie aufstand.
„Für mich interessieren die sich doch gar nicht“, meinte Max. „Du bist hier der Star. Jedenfalls so lange, bis sie dich wieder vom Podest holen.“
Hannah schüttelte wütend den Kopf. Sie konnte sich jetzt nicht streiten, sie musste noch so viel erledigen.
Als sie aus dem Zimmer eilte, spürte sie die besorgten Blicke ihrer Eltern in ihrem Rücken. Aber auch darum konnte sie sich nicht kümmern.
Die Reportage in „Westernfriends“ ging über zwei Doppelseiten. Fünf große Bilder zeigten Hannah auf der Sunshine Ranch, mit ihren Freundinnen, auf Acapulco und zu Hause mit ihrer Familie. In dem abgedruckten Interview erkannte sich Hannah fast nicht wieder. Die Sätze klangen so viel stolzer und selbstbewusster als das, was sie vor ein paar Tagen auf der Sunshine Ranch von sich gegeben hatte.
„Hannah will’s wissen“, lautete die Überschrift.
Neben „Westernfriends“ berichteten noch zwei weitere Reiterzeitschriften über Hannah, ein Internetportal brachte einen Artikel über sie und der lokale Radiosender sendete ebenfalls ein kurzes Interview.
„Das ist der absolute Hammer“, sagte Tori, die es geschafft hatte, sich bei fast allen Aufnahmen, die auf der Ranch gemacht worden waren, mit ins Bild zu drängen. Im Gegensatz zu Hannah liebte sie es, fotografiert zu werden.
„Also, ich find das komisch“, sagte Hannes. Er hatte vor der Schule auf Hannah gewartet, um gemeinsam mit ihr nach Hause zu fahren.
„Was findest du daran komisch?“, fragte Hannah leicht gekränkt.
„Na, wie kommen alle diese Reporter auf dich?“
„Hä? Das ist doch ganz einfach. Irgendeiner macht den Anfang und die anderen hängen sich dran. So funktioniert das mit allen Themen.“
„So einfach ist das nicht“, widersprach Hannes. „Ich hab mit Jonas’ Vater gesprochen. Der ist beim Rundfunk.“
„Ich weiß“, meinte Hannah. „Und was sagt Jonas’ Vater?“
„Dass irgendeiner dahinterstecken muss. Jemand, der die Redaktionen informiert hat und dem die Reporter vertrauen. Sonst hätte nämlich keiner auch nur eine Zeile über dich geschrieben.“
„Was willst du denn damit sagen?“, fragte Hannah verständnislos. „Wahrscheinlich haben die Preisrichter, die die Top Five der Vorausscheidung zusammenstellen, die Presse informiert.“
„Das reicht nicht“, widersprach Hannes. „Jedenfalls nicht für einen solchen Rummel. Hast du Förster gefragt, ob er vielleicht was damit zu tun hat?“
„Nee“, meinte Hannah.
„Sprich ihn mal darauf an.“
„Ist doch egal, wer dahintersteckt.“
Hannes zuckte mit den Schultern und schwieg.
„Oder?“, fragte Hannah angriffslustig.
„Vermutlich hast du Recht. Aber irgendwie gefällt mir dieser Wirbel nicht.“
Vielleicht bist du ja eifersüchtig, dachte Hannah. Vielleicht tut es dir leid, dass du deine Reitkarriere damals so schnell an den Nagel gehängt hast. Und gönnst mir meinen Erfolg nicht.
Aber diese Gedanken sprach sie nicht aus. Stattdessen sagte sie: „Ich frag Uwe nachher.“
„Okay.“ Hannes nickte zufrieden. „Sollen wir heute Nachmittag zusammen ausreiten?“, erkundigte er sich dann.
„Keine Zeit.“ Hannah schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich wollte mit Acapulco noch ein paar Patterns durchgehen. Und dann hab ich Reitunterricht.“
„Schade.“
„Nach dem Turnier hab ich wieder mehr Zeit“, tröstete ihn Hannah. „Es sind ja nur noch zwei Wochen.“
Nur noch zwei Wochen, du meine Güte, dachte Hannah erschrocken. Sie trat unwillkürlich schneller in die Pedale. Die Zeit drängte, sie musste sie nutzen.
„Also, wenn du Lust hast …“ Hannes keuchte. Er kam kaum noch nach, so schnell fuhr sie jetzt.
„Ich bin heut Abend um halb sieben bei Alberto. Wenn du willst, lad ich dich zum Eis ein. Kannst es dir ja überlegen.“
Nein danke, wollte Hannah eigentlich sagen. Aber dann warf sie einen Blick über die Schulter und sah Hannes’ Gesicht, das jetzt schon enttäuscht aussah. Obwohl sie noch gar nicht abgelehnt hatte.
„Gerne“, sagte sie. „Ich versuch, pünktlich zu sein, okay?“