Das Pattern
Hannahs Herz wanderte aus ihrer Brust in ihren Hals. Als sie in den Gang trat, der in die Reithalle führte, klopfte es irgendwo in ihrer Kehle. Hannah fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn Petersen sie hier entdeckte. Ob er sie zur Polizei schleppen würde? Ihre Eltern wären bestimmt total begeistert, wenn sie ihretwegen eine fette Geldstrafe zahlen durften.
Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte Hannah erneut. Sie beschloss, einen kurzen Blick in die Halle zu werfen und dann wieder abzuhauen.
Weiter hinten mündete der schmale Gang in einen großen Raum. Hannah drückte sich an der Wand entlang, bis sie fast das Ende erreicht hatte. Wenn man sich jetzt ein Stück nach vorn beugte, konnte man den Reitplatz sehen.
Neugierig reckte sie den Kopf … und zog ihn sofort erschrocken wieder zurück. Da vorne galoppierte Myriam. Heike Petersen stand in der Mitte der Reithalle, die Hände in die Hüften gestemmt.
Glücklicherweise konzentrierten sich die beiden viel zu sehr auf das Training, um Hannah zu bemerken. Sie wagte sich noch einen Schritt nach vorn, wobei sie sich so eng wie möglich an die Wand presste. Es war riskant, denn wenn Heike den Kopf auch nur ein Stück zur Seite drehte, würde sie sie hier entdecken. Aber das war Hannah plötzlich egal.
Myriam wechselte vom Galopp in den Trab. Sie saß nicht mehr auf dem großen Pferd, das sie bei der Vorausscheidung geritten hatte, sondern auf einer schlanken Westernstute. Es war kaum zu fassen, wie Myriam und das Quarterhorse harmonierten. Reiterin und Pferd bildeten eine vollkommene Einheit, sie bewegten sich wie ein einziger, zusammengehöriger Körper. Das dunkelbraune Fell der Stute hatte genau denselben Farbton wie Myriams langes Haar. Das war natürlich Zufall oder etwa nicht?
Jetzt lenkte Myriam die Stute über eine Holzbrücke. Ihre rechte Hand hielt die Zügel, die linke lag locker auf ihrem Oberschenkel. Die Haltung war entspannt und trotzdem einwandfrei.
„Super!“, lobte Heike und Hannah gab ihr im Stillen Recht. Myriam war einfach umwerfend gut. Ein lockerer Galopp über mehrere Stangen. Anschließend der Slalom. Leicht und wendig trabte das Quarterhorse um die Hütchen. Danach das Gleiche noch einmal rückwärts, diesmal allerdings im Schritt. Einmal vorwärts, dann wieder zurück.
Was war das für ein Pattern, das Myriam da ritt? Die Abfolge der Übungen hatte nichts mit dem zu tun, was Hannah vorhin auf der Sunshine Ranch trainiert hatte. Die Pylone in der Reithalle waren auch bei Weitem nicht so eng aufgestellt, die einzelnen Hütchen hatten mindestens siebzig Zentimeter Abstand zueinander.
Ein halber Meter ist der kleinste Abstand zwischen den Pylonen, der bei Turnieren in der Jugendklasse zugelassen ist, hatte Hannes ihr gestern noch erklärt. Aber Hannah hatte ja nicht auf ihn gehört. Sie hatte sich ganz auf Uwe verlassen. Und dem hatte die Turnierleitung offensichtlich die falschen Unterlagen zugeschickt.
Wie hatte das passieren können? Das war doch kein Zufall! Hinter der Nummer mit dem falschen Pattern steckte bestimmt die Kingsize Ranch.
Na klar! Mit einem Mal ergab auch das Hausverbot Sinn. Natürlich hatten die Petersens Hannah, Sue und Uwe mit allen Mitteln davon abhalten wollen, auf der Ranch aufzukreuzen und Myriam beim Training zu beobachten.
Aber nun bin ich doch hier und euer mieses Spiel ist aufgeflogen!, triumphierte Hannah. Wie hatten die Petersens es nur eingefädelt, ihnen das falsche Pattern unterzujubeln? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären.
Es war auch nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken.
„Noch mal von vorn!“, rief Heike und drehte sich um, sodass sie genau in Hannahs Richtung blickte. Jetzt war alles aus, jetzt musste sie sie entdecken! Hannahs Herz plumpste aus ihrem Hals in ihre Kniekehlen. Metertief.
Ausgerechnet in diesem Moment klingelte Heikes Handy. Stirnrunzelnd zog sie es aus ihrer Hosentasche. Nach einem Blick auf das Display nahm sie das Gespräch an. Während sie sprach, trabte Myriams Pferd zurück zum Ausgangspunkt. Leider konnte Hannah kein Wort von Heikes Unterhaltung verstehen, aber es war deutlich zu erkennen, dass sie immer genervter wurde.
Nachdem Myriam ihren Parcours fast wieder beendet hatte, klappte Heike das Handy zu.
„Wir müssen Schluss machen“, rief sie Myriam zu. „Ich muss leider weg!“
„Was? Jetzt? Aber ich wollte doch noch …“
„Du kannst das Pattern ja alleine noch mal durchgehen“, meinte Heike. „Und morgen Vormittag treffen wir uns dann zur endgültigen Abstimmung. Mach dir keine Sorgen, du bist schon richtig gut, das wird super!“
Sie steuerte auf den Nebenausgang zu, genau zu der Stelle, wo Hannah gerade noch gestanden hatte. Hannah rannte schon zurück zum Ausgang. Anstatt allerdings nach rechts abzubiegen und auf den Hof zu laufen, wo Heike sie mit Sicherheit entdeckt hätte, hastete sie geradeaus in den Stall.
Du liebe Zeit, der war ja fast doppelt so groß wie der Stall der Sunshine Ranch. Die meisten Boxen standen leer, wahrscheinlich waren die Pferde auf der Koppel.
Die Kleine, die Hannah vorhin vor dem Roundpen gesehen hatte, stand in einer der Boxen und striegelte ihren Haflinger. „Hast du Heike gefunden?“, fragte sie, als Hannah angeschossen kam.
„Heike?“ Hannah blieb stehen. Richtig, angeblich war sie ja mit ihr verabredet gewesen. „Nein … äh … sie war nicht in der Halle. Und nun suche ich … das Büro.“
„Geradeaus über den Hof. Das kannst du gar nicht verfehlen. Aber ich glaube nicht, dass sie um diese Zeit da ist …“
Hannah rannte schon weiter. Sie musste weg von hier, irgendwohin, wo sie in Ruhe über alles nachdenken konnte.
An der Stalltür hielt sie inne und spähte auf den Hof. Niemand war zu sehen. Direkt vor ihr stand ein offener Kleintransporter. Wo war Heike?
„Hi, Heike!“, hörte sie hinter sich die Stimme der Fünftklässlerin. „Gut, dass du kommst. Hier war gerade jemand, der dich gesucht hat.“
Hannah warf einen erschrockenen Blick über die Schulter. So ein Mist, Heike hatte offensichtlich den gleichen Weg eingeschlagen. Sie stand direkt hinter ihr, vor der Box der Haflingerstute.
„Mich? Wer denn? Ich hab jetzt keine Zeit …“
Hannah hatte auch keine Zeit. Noch hatte Heike sie nicht entdeckt, aber das würde sich ändern, wenn sie noch eine Sekunde zögerte. Sie schoss aus dem Stall und wollte über den Hof zu ihrem Fahrrad, aber im selben Moment bog Herr Petersen um die Ecke, ein Pferd am Halfter. Hannah schlug einen Haken und jagte wieder zurück.
Aber wohin? Über den Hof konnte sie nicht, im Stall war Heike. Blieb nur der offene Wagen. Ein Sprung und Hannah stand hinten auf der Ladefläche. Hier herrschte ein ziemliches Chaos, Paletten stapelten sich neben einem Strohballen, ein Berg von Pferdedecken reichte fast bis zur Decke.
Hannah duckte sich hinter dem Heuballen zusammen. Keine Sekunde zu früh. Rrrrrumsss! wurde die Seitentür zugehauen. Dann stieg jemand auf der Fahrerseite ein. Hannah hörte, wie der Motor angelassen wurde. Der Wagen setzte sich in Bewegung.
Langsam hob sie den Kopf und linste über den Strohballen nach vorn.
Hinter der Scheibe, die die Fahrerkabine vom Laderaum trennte, wippte ein Pferdeschwanz.
Heike.
Hannah ließ ihren Kopf wieder sinken. Sie machte sich ganz klein, zog die Knie zum Körper und legte ihre Stirn darauf. Wo war sie nur hineingeraten?
Sie waren ungefähr eine Viertelstunde in Richtung Stadtmitte gefahren, als der Wagen plötzlich anhielt. Hannah blinzelte beunruhigt nach vorn. Wenn Heike jetzt ausstieg und das Fahrzeug abschloss, dann wäre Hannah gefangen. Vielleicht müsste sie die ganze Nacht in dem Lieferwagen ausharren, bis Heike zurückkam und sie befreite.
Aber Heike stieg nicht aus. Stattdessen wurde die Beifahrertür aufgerissen und jemand setzte sich neben sie.
„Hi“, hörte sie Heike sagen. Das Schiebefenster, das die Fahrerkabine vom Laderaum trennte, stand einen Spaltbreit offen, deshalb konnte man sie gut verstehen. „Hast du dich inzwischen wieder eingekriegt?“ Ihre Stimme war fast nicht wiederzuerkennen. Die beiden Male, in denen Hannah sich mit ihr unterhalten hatte, hatte sie so fröhlich und sympathisch geklungen. Jetzt klirrte sie vor Kälte.
„Tut mir leid, wenn ich dich nerve. Aber ich musste dich einfach sehen.“ Die Männerstimme, die nun antwortete, klang dagegen ziemlich kläglich. Kläglich …. und vertraut. Sehr vertraut sogar. Hannah wusste nur nicht, woher.
„Du gefährdest unsere ganze Sache, ist dir das eigentlich bewusst?“, zischte Heike. „Das ist doch kein Kinderspiel. Wenn auffliegt, was wir vorhaben, bin ich meine Lizenz als Trainerin los.“
„Hey, ganz cool“, erwiderte der Mann, aber er klang selbst alles andere als gelassen.
Hannah hob ihren Kopf und blinzelte über den Strohballen nach vorn. Es war gar kein Mann, sondern eine Frau, die neben Heike saß, dachte Hannah zuerst verwirrt. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren.
„Ich fühl mich einfach so total scheiße“, sagte die Frau, die sich wie ein Mann anhörte. Dabei wandte sie den Kopf ein kleines Stück nach links und jetzt sah Hannah das Profil.
Es war Uwe.