Alles Kingsize
Zwei Tage später ließ Myriam in der großen Pause die Bombe platzen.
„Was?“, schrie Tori. „Sag mal, bist du eigentlich noch zu retten?“
„Warum regst du dich so auf?“, fragte Myriam zurück. „Wir leben in einem freien Land. Ich kann tun und lassen, was ich will.“
„Vielleicht erklärst du es uns trotzdem“, schlug Juliana vor. „Irgendwie sind wir so was wie Freundinnen, oder? Da redet man miteinander.“
„Was soll ich denn lang rumlabern, wenn ihr es doch nicht versteht“, meinte Myriam ungeduldig. „Ich hab keine Lust, mir von Sue meine Zukunft verbauen zu lassen …“
„Deine Zukunft?“, wiederholte Sina ungläubig. „Es geht um ein blödsinniges Westernturnier. Ist doch völlig egal, ob du in Aachen dabei bist oder eben erst beim nächsten Mal.“
„Dir ist das vielleicht egal, aber mir nicht“, sagte Myriam so eisig, dass Hannah schauderte. „Ich bin fast dreizehn. Wenn ich jetzt nicht langsam durchstarte, kann ich meine Karriere als Turnierreiterin komplett vergessen.“
„Deine … was?“, stammelte Tori. „Seit wann willst du denn als Turnierreiterin Karriere machen? Ich dachte immer, wir reiten zum Spaß.“
Zum Spaß. Hannah hätte fast gelacht. Im Moment gab es nichts, was Myriam nur zum Vergnügen tat. Für sie ging es nur noch darum, besser zu werden, weiterzukommen, ihre Konkurrenz hinter sich zu lassen.
„Du vielleicht“, erklärte Myriam jetzt. „Aber ich will keine Zeit verplempern. Selbst wenn Sue mich ausnahmsweise mal nicht versetzt, sind mir ihre Reitstunden viel zu lasch. Hannes hat mir in einer Stunde mehr beigebracht als Sue in zwei Monaten. Weil er nämlich weiß, was Sache ist.“
„Hat er dich auf diese bescheuerte Idee gebracht?“, fragte Ayla.
„Quatsch. Mein Vater ….“
„Dein Vater!“, riefen Tori, Sina und Ayla im Chor.
„Natürlich steckt dein Vater dahinter“, sagte Tori verächtlich. „Lass mich raten: Als du ihm erzählt hast, dass Sue dich schon wieder versetzt hat, hat er seinen Kumpel aus dem Tennisclub angerufen und der hat die Sache für dich klargemacht.“
„Na und?“, rief Myriam. „Und wenn es so wäre?“
„Woher willst du überhaupt wissen, dass der Reitunterricht auf der Kingsize Ranch so viel besser ist?“, fragte Tori. „Die kochen auch nur mit Wasser. Aber dafür zahlst du das Doppelte.“
„Es ist sogar billiger als bei Sue“, trumpfte Myriam auf. „Und außerdem hab ich natürlich zuerst eine Probestunde gemacht, bevor ich den Vertrag unterschrieben habe. Ich bin doch nicht blöd.“
„Du hast den Vertrag schon unterschrieben?“ Jetzt war Hannah wirklich fassungslos. Myriam hatte Nägel mit Köpfen gemacht, ohne ihr vorher auch nur ein Wort mitzuteilen.
„Weiß Sue schon davon?“, erkundigte sich Ayla.
„Sie wird’s überleben“, sagte Myriam kalt. „Wahrscheinlich interessiert es sie gar nicht.“
„Sag mal, merkst du nicht selbst, wie fies das ist?“, fragte Juliana ruhig. „Sue hat sich gerade von ihrem Freund getrennt, da kann man doch verstehen, dass sie ziemlich durcheinander ist. Und statt ihr den Rücken zu stärken, hast du nichts Besseres zu tun, als dich sofort auf der nächstbesten Ranch anzumelden. Nur wegen so einem blöden Turnier.“
„Ihr habt ja keine Ahnung!“, schrie Myriam so laut, dass ihre Stimme über den halben Schulhof gellte. „Lasst mich doch in Ruhe!“ Wütend schleuderte sie ihren Apfel, den sie gerade einmal angebissen hatte, in Richtung Mülleimer. Allerdings verfehlte sie ihr Ziel, sodass er neben dem Korb aufs Pflaster klatschte. Einen Moment lang starrte sie angewidert auf den Apfelmatsch. Dann drehte sie sich einfach um und marschierte wortlos weg.
„Die ist ja wohl nicht mehr ganz dicht“, murmelte Juliana empört.
Hannah öffnete den Mund, um ihre Freundin zu verteidigen. Aber dann machte sie ihn wieder zu, ohne etwas zu sagen. Ihr fehlten einfach die Worte.
Am Anfang hatte Hannah noch die Hoffnung, dass Myriam einfach wieder zur Vernunft kommen würde. Aber der Entschluss ihrer Freundin stand fest. Myriam würde in Zukunft auf Kingsize trainieren. Dabei hatte sie genau wie Hannah ein gutes Drittel ihres Lebens auf der Sunshine Ranch verbracht.
Als Sue ihnen ihre erste Reitstunde gegeben hatte, waren Hannah und Myriam noch in die dritte Klasse gegangen. Über vier Jahre war das jetzt her. Inzwischen war die Sunshine Ranch ihr zweites Zuhause geworden. Sie kamen praktisch jeden Tag her, wenn man einmal von lästigen Urlauben und Sonntagsausflügen mit den Eltern absah, die sich eben nicht umgehen ließen.
Und das alles wollte Myriam so mir nichts, dir nichts aufgeben?
„Was ist mit Camilla?“, fragte Hannah, als sie sich nach der Pause wieder auf ihre Plätze setzten. „Willst du die einfach so im Stich lassen?“
„Ich lass sie nicht im Stich“, erwiderte Myriam empört. „Ich kümmere mich natürlich um sie, bis Sue jemanden gefunden hat, der sie übernimmt.“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein. Macht dein Vater dir Druck oder warum tust du das?“
„Nun fang du nicht auch noch damit an“, fauchte Myriam. „Mein Vater hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun! Ich will einfach weiterkommen und das funktioniert mit Sue nun mal nicht. Im Gegensatz zu euch hab ich ein Ziel und das werde ich auch erreichen.“
Im Gegensatz zu euch, sagte Myriam, so als ob Hannah mit den anderen mehr verband als mit ihr.
„Ich verstehe einfach nicht, was mit dir los ist“, versuchte Hannah es noch einmal. „Du bist total verbissen, merkst du das nicht?“
„Nenn es, wie du willst“, meinte Myriam gleichgültig.
Es war sinnlos. Was Hannah auch sagte, ihre Worte prallten an Myriam ab wie Hagelkörner an einer Fensterscheibe. Wenn Myriam sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie das durch, das war schon immer so gewesen. Nur dass es diesmal kein Zurück gab.
Denn wenn Myriam glaubte, dass sie nach ein paar Wochen einfach wieder auf der Sunshine Ranch aufkreuzen könnte, als wäre nichts gewesen, dann hatte sie sich mächtig geschnitten. Aber bevor Hannah diesen Gedanken aussprechen konnte, betrat ihre Englischlehrerin das Klassenzimmer. Frau Possin stellte die erste Frage und Myriams Hand schoss in die Höhe.
Sie hatte keine Lust, sich mit Hannah zu unterhalten, das war offensichtlich.
„Diese blöde Kuh soll es bloß wagen, sich noch mal auf der Ranch blicken zu lassen!“ Tori hieb mit einem morschen Ast gegen die Brombeerhecken am Waldrand. Das Holz zersplitterte in alle Richtungen.
Hannah, Sina, Ayla und Juliana saßen auf der Bank am Weg. Die Pferde grasten auf der Wiese. Die Luft war erfüllt von Bienensummen, die Sonne schien heiß wie im Juli, obwohl es erst Anfang Mai war. Eine Idylle.
Aber Hannah konnte sie nicht genießen. Seit Myriam auf Kingsize trainierte, fühlte sie sich total hin- und hergerissen. Zwischen Myriam, ihrer besten Freundin, die sie nicht so einfach aufgeben konnte, und den anderen Pferdemädchen. „Du musst dich schon entscheiden, zu wem du hältst“, hatte Tori neulich gesagt, als Hannah wieder einmal versucht hatte, Myriam zu verteidigen. Aber Hannah wollte sich nicht entscheiden. Sie wollte, dass alles wieder so wurde, wie es einmal gewesen war.
Sie wollte, dass sich die Kingsize Ranch in Luft auflöste und Myriam zu ihnen zurückkam.
„Also, ich könnte das nicht. Ein Leben ohne die Sunshine Ranch, unmöglich!“, meinte Ayla. „Und ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie Camilla einfach so aufgibt. Ich würde lieber sterben, als Nike zu verlassen.“
„Sue kümmert sich jetzt vorübergehend um Camilla“, sagte Hannah. „Und wer weiß, vielleicht sieht Myriam ja doch ein, dass es bei uns besser ist als auf Kingsize.“
„Meinetwegen kann sie da bleiben“, erklärte Sina entschieden. „Habt ihr den Artikel gelesen, der heute Morgen in der Zeitung stand? Da stand drin, dass Kingsize die modernste Ranch überhaupt ist, weil die beim Reitunterricht die ‚neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Hightech-Methoden‘ nutzen. Was soll das denn heißen? Reiten die etwa auf Robotern?“
„Die haben ja wohl einen Sprung in der Schüssel!“, stimmte Ayla ihr zu.
Hannah biss sich auf die Lippen. Wie immer diese Methoden aussehen mochten, Myriam war total überzeugt von ihnen.
„Der Reitunterricht bei Kingsize ist tausendmal besser als in der Sunshine Ranch!“, hatte sie heute Früh in der Schule geschwärmt.
„Was machen die denn anders als Sue?“, hatte sich Hannah skeptisch erkundigt.
„Die geben sich einfach viel mehr Mühe. Jede Reitstunde wird von einem Mitarbeiter gefilmt. Und hinterher analysieren Andreas und ich das Ganze gemeinsam am Bildschirm. Das bringt dich echt weiter.“
Andreas – das war Andreas Petersen, der Besitzer der Kingsize Ranch, der Myriam persönlich unterrichtete. „Andreas ist so was von cool“, säuselte Myriam. „Er bringt mir Reining bei. Und er ist überzeugt, dass ich die Qualifikation für das Turnier schaffe.“
„Hightech! So ein Blödsinn“, lästerte Tori jetzt. „Na, Myriam wird schon sehen, was sie davon hat. Ich finde jedenfalls …“
Sie unterbrach sich, als zwei Reiter auf die Lichtung galoppierten. Direkt vor der Bank brachte Sue ihren Colorado Ranger Dakota zum Stehen. Neben ihr zügelte Stefan Harlekin. Hinter den beiden Reitern hechelten Washington und Heinrich auf die Waldwiese. Washington ließ sich sofort vor Sina zu Boden plumpsen. Er hasste Ausritte.
„Hi!“ Sue sprang aus dem Sattel. „Stören wir?“
„Und wenn schon!“ Auch Stefan stieg ab. „Ich brauch dringend eine Pause.“
„Was macht ihr denn für finstere Gesichter?“, fragte Sue. „Ist irgendwas?“
„Nö“, erklärte Ayla. „Wir unterhalten uns nur gerade über diese Kingsize Ranch.“
„O dear.“ Sues Miene verdüsterte sich ebenfalls. „Echt schlechtes Thema.“
„Wieso?“
„Ich war gestern dort. Wollte mir das Ganze mal anschauen und mich kurz vorstellen. Auf gute Nachbarschaft und so.“
„Und?“, fragte Hannah gespannt.
„Nichts und. Die haben mich rausgeschmissen. Diese Leute sind so was von … stupid bigheads!“ Immer wenn Sue wütend wurde, verfiel sie automatisch in ihre Muttersprache.
„Echt? Was haben die denn gemacht? Erzähl mal“, sagte Sina.
„Also, das ist einfach unglaublich.“ Sue verdrehte die Augen. „Ich hatte den Hof kaum betreten, da kam schon einer der Angestellten auf mich zugeschossen. ‚Nehmen Sie es mir nicht übel, Frau Mirador, aber das geht nun wirklich nicht. Wir sind schließlich Konkurrenten und wir müssen sicherstellen, dass Sie unser Konzept nicht kopieren.‘ Also wirklich, das ist … that’s ridiculous. Dieser Petersen ist ein totaler Anfänger und beschuldigt mich, bei ihm zu spionieren.“
„Vielleicht wusste er gar nichts von der Aktion“, gab Hannah zu bedenken. „Ich meine, er hat dich doch nicht persönlich rausgeschmissen.“
„Natürlich wusste er davon“, schnaubte Sue.
„So ein arroganter Idiot“, sagte Juliana.
„Gar nicht drüber aufregen“, riet Sina. „In zwei Monaten ist er bestimmt wieder pleite.“
„Oder wir“, bemerkte Stefan.
„Bitte?“, zischte Sue. „Was soll das denn heißen?“
„Das soll heißen, dass wir ihn nicht unterschätzen dürfen“, meinte Stefan ruhig. „Ich hab mir die Kingsize Ranch nämlich ebenfalls angesehen. Allerdings inkognito. Ich hab einfach so getan, als ob ich Reitstunden nehmen wollte. Petersen persönlich hat mich rumgeführt.“
„Und eingewickelt“, meinte Tori. „Hast du dich etwa auch schon angemeldet wie Myriam?“
„Unsinn. Petersen ist ein Großmaul, da hat Sue schon Recht. Aber er hat seinen Reitschülern auch einiges zu bieten.“ Stefan räusperte sich. „Ganz im Gegensatz zu uns.“
„Was?“, fragte Sue empört. „Jetzt reicht’s aber! Stop it! Are you really telling me …“
„Sue“, unterbrach Stefan sie. „Ich will dich nicht angreifen, wirklich nicht. Aber überleg doch mal, was in den letzten Wochen auf der Sunshine Ranch so gelaufen ist. Alles ist drunter und drüber gegangen, weil du überhaupt nicht ansprechbar warst.“
„I ’ve had a hard time“, sagte Sue gekränkt. „Es war wirklich nicht leicht.“
„Ich weiß.“ Stefan nickte. „Ich verstehe dich ja. Aber dieser Petersen ist richtig gefährlich. Wenn wir nicht aufpassen, dann sind wir in spätestens zwei Monaten weg vom Fenster, das garantier ich dir.“
„Das glaub ich nicht“, widersprach Tori. „Unsere Leute wissen doch, was sie an der Sunshine Ranch haben. Die halten uns die Stange.“
„Wir haben ja an Myriam gemerkt, wie uns unsere Leute die Stange halten“, bemerkte Stefan sarkastisch. „Kingsize bietet bessere Beratung und intensiveres Training für weniger Geld. Sobald Petersen Sunshine plattgemacht hat, wird er die Preise anheben, da bin ich mir ganz sicher. Dann hat er ja auch keine Konkurrenz mehr.“
„Okay“, sagte Sue nachdenklich. „Maybe you’re right. Was sollen wir tun?“
„Wir müssen uns wehren“, sagte Stefan. „Und zwar richtig.“
„I see.“ Sue nickte. „Ab jetzt lass ich keine Stunde mehr ausfallen.“
„Ich befürchte, das reicht nicht“, meinte Stefan. „Du kannst die Anfänger unterrichten, Sue, aber für die Fortgeschrittenen brauchen wir einen professionellen Reitlehrer.“
Hannah hielt den Atem an und wartete darauf, dass Sue ausflippte. Wie konnte Stefan es wagen, sie als unprofessionell zu bezeichnen? Schließlich hatte sie in den Staaten viele große Turniere gewonnen.
Aber zu ihrer Überraschung blieb die Ranchbesitzerin ganz ruhig. „Es ist nicht so einfach“, meinte sie. „Seit Mike weg ist, suche ich wie eine Verrückte nach einem guten Trainer. Aber die Leute, die sich bisher vorgestellt haben, sind entweder total unfähig oder arrogant oder viel zu teuer. Ich bin echt nicht scharf darauf, die Schüler selbst zu unterrichten. Aber ich find nun mal keinen, der’s besser macht.“
„Ich hab vielleicht einen guten Mann an der Hand“, sagte Stefan. „Uwe Förster.“
„Förster, Förster“, murmelte Sue. „Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Kann ich mir vorstellen. Förster war früher selbst erfolgreicher Turnierreiter. Trail und Reining.“
„Was – der Förster? Gegen den bin ich einmal in Denver angetreten!“, rief Sue. „Förster hat gewonnen.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Never. Förster fängt nie und nimmer auf der Sunshine Ranch an.“
„Vielleicht doch“, meinte Stefan. „Ich kenn ihn ganz gut. Er will sich die Ranch auf jeden Fall mal ansehen. Montagnachmittag kommt er vorbei.“
„Das klingt doch super.“ Tori strahlte über das ganze Gesicht. „Hoffentlich lässt er sich überzeugen.“
„Das hoffe ich auch“, nickte Stefan. „Aber wenn wir uns gegen Petersen durchsetzen wollen, dann ist das erst der Anfang.“
„Was sollen wir denn noch machen?“, fragte Sue ratlos.
„Wir brauchen einen Sieg. Wir müssen in einem Turnier gegen Kingsize antreten“, erklärte Stefan. „Und gewinnen.“