Slalom
„Angeblich hab ich mich auf die Kingsize Ranch geschlichen und versucht, Myriam beim Training zu beobachten“, erklärte Hannah den anderen Pferdemädchen am nächsten Vormittag in der großen Pause. „So steht es jedenfalls in dem Schriftstück, das mir dieser Anwalt gegeben hat.“
„Und?“, fragte Tori. „Warst du dort?“
„Quatsch. Was soll ich denn da? Ich hab überhaupt keine Zeit, mich da rumzutreiben.“
„Warum erteilen sie dir dann ein Hausverbot?“, fragte Sina. „Und Sue und Förster haben auch eines bekommen, sagst du?“
Hannah nickte.
„Ihr drei dürft nicht nach Kingsize“, überlegte Tori. „Aber den Rest von uns betrifft das Verbot nicht. Vielleicht sollten wir ja mal nachsehen …“
„Nein“, unterbrach Hannah sie. „Sue hat gleich gesagt, dass sie das nicht will. Sie hat keine Lust mehr auf den Kleinkrieg.“
„Kleinkrieg?“, wiederholte Ayla. „Das ist kein Kleinkrieg mehr, das ist reines Mobbing. Das kann man sich doch nicht gefallen lassen!“
„Aber Uwe meint auch, dass wir sie einfach ignorieren sollen“, erklärte Hannah. „Er sagt, dass die Turnierveranstalter die Sunshine Ranch vom Wettbewerb ausschließen können, wenn es nach dem Hausverbot neue Beschwerden gibt. Das betrifft seiner Meinung nach nicht nur uns drei, sondern uns alle. Wenn die Turnierleitung den Eindruck gewinnt, dass es auf Sunshine nicht ganz sauber zugeht, sind wir aus dem Rennen, noch bevor wir angetreten sind.“
„Ignorieren“, sagte Tori seufzend. „Das ist leichter gesagt als getan.“
„Also, ich find’s gut“, sagte Juliana. „Ich kann den Namen Kingsize nicht mehr hören. Seit Wochen reden wir über nichts anderes mehr.“
„Vielleicht gibt es ja auch bald nichts anderes mehr“, sagte Tori düster.
„Wie bitte?“, fragte Juliana.
„Ich hab vor Kurzem gehört, wie Sue zu Stefan gesagt hat, dass mehr als die Hälfte der Reitschüler ihre Verträge gekündigt hat, weil sie zu Kingsize wechseln wollen. Kannst dir ja vorstellen, was los ist, wenn die auch noch das Turnier gewinnen. Dann ist Kingsize endgültig obenauf.“
„Na und?“, gab Juliana zurück. „Sue hat einen langen Atem. So schnell gibt sie nicht auf.“
„Wenn du dich da nur mal nicht vertust“, unkte Tori. „Die Wirtschaftskrise hat ihre Ersparnisse nämlich ordentlich zum Schrumpfen gebracht. Also, ohne die Reitschüler kann Sunshine nicht lange überstehen.“
„Du musst dieses verdammte Turnier gewinnen, Hannah“, murmelte Sina.
Je größer der Druck wurde, desto schlechter ritt sie.
„Was machst du denn, Hannah?!“, rief Uwe irritiert, als er sah, wie sie am Zaumzeug zog, um Acapulco nach rechts zu den Hütchen zu dirigieren. „Du reitest ja wie ein Anfänger. Die Zügel sind tabu, das weißt du doch!“
Er fuhr entnervt mit der Hand durch die langen dunklen Haare.
„Was ist denn jetzt los?“, fragte er, als Hannah aus dem Sattel sprang.
„Ich schaff es nicht“, erklärte sie den Tränen nahe. „Das ist los.“
„Unsinn.“ Er schüttelte den Kopf. „Natürlich schaffst du das. Du hast einen schlechten Tag, mehr nicht. Steig wieder auf. Wir gehen das Pattern noch einmal durch.“
Missmutig kletterte Hannah wieder auf Acapulcos Rücken. Aber auch ein erneuter Durchgang brachte keine Verbesserung.
Das Wettkampfpattern war einfach viel zu schwer. Obwohl sie die Einzelübungen alle kannte, war die Abfolge der Aufgaben grausam: Unmittelbar an den Trot over, bei dem Acapulco ein Stangen-V überschreiten musste, schloss sich ein Galopp über vier Stangen-Ws an. Danach der Slalom, das war das Schlimmste. Der Abstand zwischen den einzelnen Hütchen betrug nämlich nur vierzig Zentimeter und das war für ein großes und recht breites Pferd wie Acapulco fast nicht zu bewältigen.
„Alles nur eine Frage der Technik“, hatte Uwe gesagt, als er ihr das Pattern gestern präsentiert hatte. „Das schaffst du mit links.“
Aber nun schien er sich da ganz und gar nicht mehr sicher zu sein. Den Übergang der einzelnen Übungen beherrschte der Wallach inzwischen zwar einigermaßen. Doch beim Rückwärtsrichten durch die engen Pylone versagte er jedes Mal.
„Vielleicht bin ich einfach zu schlecht“, jammerte Hannah.
Uwe schüttelte den Kopf, aber er war offensichtlich unzufrieden.
„Wir machen Schluss für heute“, meinte er. „Ich hab Sue versprochen, dass du nicht länger als eine Stunde im Sattel sitzt. Wenn ich das nicht einhalte, reißt sie mir den Kopf ab. Also: Entspann dich. Morgen sehen wir uns wieder. Das kriegen wir schon noch hin.“
Hannah fand keinen Schlaf. Sie wälzte sich von der linken Seite auf den Rücken, dann auf die rechte Seite und von dort auf den Bauch und schließlich wieder zurück in die Ausgangsposition. Dieser verdammte rückwärtsgerichtete Slalom! Den ganzen Abend hatte sie damit zugebracht, im Internet in den unterschiedlichen Reiterforen nach Tipps zu suchen, wie sie Acapulco am besten durch die engen Hütchen lotsen konnte. Ein Forumsmitglied aus Süddeutschland hatte ihr im Chat ein paar wirklich gute Tipps gegeben. Oder zumindest hatten sich seine Ratschläge gut angehört. Ob sie sich dann auf dem Reitplatz auch in die Praxis umsetzen ließen, blieb erst mal dahingestellt.
Hannah drehte sich auf den Bauch. Am liebsten wäre sie aufgestanden und zur Ranch gefahren, um die neue Strategie direkt auszuprobieren. Schlafen konnte sie ja ohnehin nicht. Aber das war natürlich undenkbar. Wenn sie mitten in der Nacht aufkreuzte, erteilte Sue ihr vermutlich auch für die Sunshine Ranch ein Hausverbot.
Wie viel Uhr es wohl sein mochte? Hannah wollte gerade nach ihrem Handy greifen, das auf dem Nachttisch lag, als es plötzlich dreimal laut und durchdringend piepste. Ihre Hand zuckte erschrocken zurück. Was war das denn?
„Eine neue Textnachricht“, verkündete das Display.
Wer schrieb ihr denn mitten in der Nacht noch eine SMS?
Hannes. Die Nachricht kam von Hannes.
Hannah zögerte einen Moment lang, bevor sie die SMS öffnete. Wollte sie überhaupt wissen, was er ihr schrieb? Schaudernd dachte sie wieder daran, wie hingebungsvoll Hannes Myriam bei Alberto mit Eis gefüttert hatte. Mmmmh.
Aber dann siegte ihre Neugier.
Er hatte nur ein einziges Wort geschrieben. Eigentlich waren es nur zwei Buchstaben.
„Hi“, las Hannah.
Sie überlegte, wie sie reagieren sollte. Die SMS löschen und so tun, als ob sie sie nie bekommen hätte? Oder antworten? Einfach ignorieren war bestimmt das Beste.
Aber andererseits. Sie fühlte sich so einsam. Und sie konnte nicht einschlafen. Und Hannes hatte so viel Erfahrung mit Westernturnieren. Vielleicht konnte er ihr sogar einen guten Rat geben.
Hannah tastete wieder nach ihrem Telefon.
„Hi“, schrieb sie zurück.
Es dauerte keine Minute, bis ihr Handy von Neuem piepste. Hektisch stellte sie den Empfang auf stumm. Fehlte ja gerade noch, dass ihre Mutter auf sie aufmerksam wurde.
„Wie geht’s?“, fragte Hannes.
„Danke“, schrieb Hannah. „Schlecht. Und selbst?“
„Gleichfalls“, lautete die Antwort. Meine Güte, war der Typ einsilbig.
„Na, dann gute Nacht“, simste Hannah.
„Wie läuft denn dein Training?“, fragte Hannes, ohne auf ihre letzte Nachricht einzugehen.
„Katastrophe. Slalom geht nicht. Die Hütchen sind so eng.“
„Wie eng?“, schrieb Hannes zurück.
„40 cm“, tippte Hannah.
Sie hatte die SMS kaum gesendet, als ihr Handy zu vibrieren begann. „Hannes ruft an“, verkündete das Display.
„Ein halber Meter ist das Minimum“, sagte er anstelle einer Begrüßung.
„Bitte was?“
„Ein halber Meter ist der kleinste Abstand zwischen den Pylonen, der bei Turnieren in der Jugendklasse zugelassen ist.“
„Das war vielleicht zu deiner Zeit so. In Aachen sind vierzig Zentimeter vorgegeben.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
Hannah merkte, wie sie wütend wurde. „Was soll das denn heißen? Ich hab das Pattern doch gesehen. Vierzig Zentimeter.“
„Das schafft kein normales Westernpferd. Ein Pony vielleicht, aber ein Quarterhorse? Glaub ich nicht.“
„Acapulco schafft es ja auch nicht. Ach, ist ja egal. Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles überhaupt erzähle. Du kannst mir doch auch nicht helfen.“
„Woher willst du das wissen?“ Jetzt klang Hannes gekränkt. „Ich könnte mir das morgen mal ansehen.“
„Was?“
„Na, das Pattern und wie du das Ganze so machst.“
Hannah zuckte mit den Schultern, was Hannes natürlich nicht sehen konnte. „Warum nicht?“, meinte sie dann. „Wenn du willst, können wir direkt nach der Schule auf die Ranch fahren.“
„Gerne. Aber jetzt solltest du schlafen.“
Hannah lachte. „Du bist doch auch noch wach!“
„Ich reite am Sonntag aber kein Turnier.“
„Ich vielleicht auch nicht.“
„Bitte was?“
Hannah schluckte. „Ich pack das nicht, Hannes. Sue und Uwe und dein Vater und die anderen, die erwarten doch alle von mir, dass ich gewinne. Aber heute beim Training hab ich völlig versagt. Ich hab totale Anfängerfehler gemacht, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen …“
„Doch“, sagte Hannes ruhig. „Ich weiß genau, wie du dich fühlst.“
„Ach. Echt?“, fragte Hannah schnippisch.
„Ja, echt. Weil es mir früher nämlich ganz genauso ging. Vor dem Turnier war ich jedes Mal überzeugt, dass ich alles vermasseln würde. Dann hab ich es doch irgendwie geschafft, jedenfalls meistens. Aber dieses Gefühl vorher, das war einfach … schrecklich.“
Ein paar Sekunden lang schwiegen sie beide.
„Ich versprech dir eines, Hannes“, sagte Hannah ernst. „Egal wie die Sache am Sonntag ausgeht …“
Sie machte eine kleine Pause und wartete darauf, dass Hannes etwas sagte, aber er schwieg weiter.
„Egal, wie die Sache am Sonntag ausgeht: Das wird mein erstes und letztes Turnier.“
Hannes schwieg immer noch.
„Bist du noch dran?“, fragte Hannah.
„Klar.“ Hannes räusperte sich. „Das wär schön, Hannah“, meinte er dann. „Wenn du am Sonntag gewinnst und danach trotzdem aufhörst, das wäre einfach richtig … grandios.“
„Aber das wird nicht passieren“, sagte Hannah düster. „Ich meine, dass ich gewinne.“
„Doch“, sagte Hannes. „Ich helf dir. Du schaffst es. Weißt du noch, wie es beim Vorreiten war? Das hast du auch geschafft. Einfach nur, weil du an dich geglaubt hast.“
„Aber …“
„Nichts aber“, unterbrach er sie. „Schlaf jetzt. Morgen wird alles gut.“
Schlaf jetzt. Das sagte er, als ob es so einfach wäre. Doch als Hannah das Telefon zurück auf den Nachttisch gelegt hatte, fühlte sich ihr Körper wirklich schwer und müde an.
„Morgen wird alles gut“, murmelte sie und versuchte sich noch einmal den Ablauf des Patterns ins Gedächtnis zu rufen. Sie kam nur bis zu den Stangen-Ws. Dann schlief sie ein.