16
»Man könnte es als eine Art höherer Gerechtigkeit sehen«, schlug Pieplow vor.
»Den toten Mörder, meinen Sie?« Schöbel verzog skeptisch das Gesicht. »Klar kann man das. Ich persönlich finde diese Art von höherer Gerechtigkeit allerdings unbefriedigend. Berufsbedingt, sozusagen. Keine Verhöre, kein Prozess, kein Urteil. Stattdessen Indizienschlüsse, Mutmaßungen und unschöne Lücken in der Rekonstruktion. Gefällt mir einfach nicht, so was. Ich wüsste gerne genau, was sich zwischen den Mantheys abgespielt hat. Aber da ist nichts zu machen. Er ist verblutet, und sie hat keine Ahnung, wie es passiert ist. Erinnert sich nur vage, dass jemand Fremdes im Haus war und sie sich so aufgeregt hat, dass man ihr etwas zur Beruhigung gegeben hat. Danach ist Schluss. Blackout. Laut Gerichtsmedizin womöglich ausgelöst durch die Kombination eines Sedativums mit Atropin.«
»Atropin? Das, was in Augentropfen ist?«
»Ungefähr, ja. Genau heißt das Zeug...« Schöbel blätterte in dem Ordner auf seinen Knien. »Hyoscyamin. Kann von Pupillenerweiterung und trockenen Schleimhäuten bis zum tödlichen Kollaps alles Mögliche verursachen und kommt in einer ganzen Reihe von Pflanzen vor. Tollkirsche, Alraunen, Stechapfel. Und eben in dem Kraut, das Manthey so liebevoll auf seiner Terrasse gepflegt hat.«
»Die Engelstrompeten?«
Schöbel nickte. »Die hat er ihr offenbar im Tee verabreicht. Wir haben Spuren der Trockensubstanz im Belag einer Kanne gefunden. Und Ironie des Schicksals – oder höhere Gerechtigkeit, wenn Sie so wollen – ist wohl, dass er die Katastrophe selbst ausgelöst hat. Erst gibt er ihr seit Monaten immer mal wieder dieses Pflanzenzeug, dann das Beruhigungsmittel, als sie beim Besuch des Bankberaters in Rage gerät. Und erreicht genau das Gegenteil damit. Den Rest können wir nur raten. Wir wissen, dass sie aus dem Schuppen die Sichel hatte, mit der sie die Rosen geköpft und die Engelstrompeten zersäbelt hat. Aber ob Gesine Manthey nun auf ihren Mann losgegangen ist oder er sie aufhalten wollte, wissen wir nicht. Nur, dass sie ihm die Verletzung der Achselarterie zugefügt haben muss, an der er verblutet ist. Mal sehen, ob nicht das eine oder andere doch noch aus der Erinnerung aufgetaucht ist, mit dem wir ein bisschen mehr Licht ins Dunkel bringen.« Schöbel klappte den Ordner zu und stieg aus, als der Streifenwagen am Hügelweg anhielt.
Der Plattenweg war gefegt. Im Rahmen des Giebelfensters trocknete Kitt um die neuen Scheiben. Von den Scherben der alten war im Gras vor dem Haus nichts mehr zu sehen. Der geschlossene Schuppen ließ nicht erkennen, ob auch darin aufgeräumt worden war. Manfred Graber hatte zwei Tage gebraucht und ganze Arbeit geleistet.
»Picobello, das muss man sagen.« Schöbel sah sich anerkennend um. »Bei euch funktioniert Nachbarschaftshilfe wenigstens noch.«
»Sieht so aus«, stimmte Pieplow zu und fand, das Schild unter der Klingel hätte auch gleich entsorgt werden können. ›Armin und Gesine Manthey‹ stand immer noch dort, und damit wäre es auf jeden Fall vorbei gewesen. So oder so. Denn einer wie Matthias Behnsen ließ sich vielleicht in die Flucht jagen, aber nicht für dumm verkaufen. Erst recht nicht, wenn der Missbrauch von Vollmachten seine Bank um das Vermögen einer Kundin brachte.
»Nanu«, wunderte sich Schöbel, als schwungvoll die Tür geöffnet wurde. »Sieht aus, als hätten wir uns in der Adresse geirrt.«
»Keineswegs, Herr Hauptkommissar, keineswegs«, widersprach der Professor vergnügt. »Ich bin nur der ärztliche Beistand. Ehrenamtlich, aber wohl nichtsdestoweniger sinnvoll. So ganz ist unsere Patientin nämlich noch nicht wieder auf dem Posten. Verständlich, wenn man bedenkt, wie es um sie stand, finden Sie nicht?«
Doch, gewiss, das fand Schöbel auch. Vor fünf Tagen komatös in die Klinik und gestern schon wieder entlassen, da waren selbst robustere Naturen noch etwas wackelig auf den Beinen.
»Aber vernehmungsfähig ist sie, oder?«, erkundigte er sich besorgt, bevor er ganz in den Flur trat.
»Ich denke schon. Zumal, wenn wir ein wenig Fingerspitzengefühl walten lassen.« Dahlke ging in den Wohnraum voraus, in dem Pieplow die Handschrift Manfred Grabers erkannte. Keine Spur der Verwüstungen mehr, alles an Ort und Stelle und im Holz der Terrasse nur noch ein dunkler Schemen dort, wo Manthey gelegen hatte.
Mit ihrem ungeschminkten Gesicht und dem spröden roten Haar, das sie jetzt streichholzkurz trug, wirkte Gesine Manthey zerbrechlich. Wie ein müdes trauriges Mädchen, das in einem zu großen Sessel auf das wartete, was man ihm zu sagen hatte.
Der Professor trat hinter sie und legte ihr väterlich eine Hand auf die Schulter.
»Darf ich vorstellen, mein Kind: Hauptkommissar Schöbel, den Leiter der Ermittlungen, kennen Sie ja schon. Und das ist Polizeiobermeister Pieplow, der sich um den glimpflichen Ausgang der Geschichte verdient gemacht hat.«
»Das war Zufall«, wehrte Pieplow ab.
»Davon, mein Lieber, kann ja gar keine Rede sein. Oder würden Sie sagen, dass der Spürhund am Ende seine Beute findet, sei Zufall, nur weil er am Anfang keine Ahnung hat, wo sie sich befindet?«
»Na ja«, sagte Pieplow. Als Spürhund hatte er sich noch nicht gesehen.
»Ich danke Ihnen.« Gesine Manthey bewegte sich nicht. Stand nicht auf, reichte niemandem die Hand. Sah nur aus ihren dunkel umschatteten Augen zu Pieplow auf und fügte hinzu: »Vor allem dafür, dass dem Jungen nichts passiert ist.« Sie legte eine Hand an den Hals, an dem von der Unmenge Schmuck nur eine einzige Kette geblieben war. Goldbraune Perlen im Wechsel mit harzgelben Tropfen.
Wandas kosmische Gabe.
Schöbel räusperte sich. Er wollte zum Eigentlichen kommen.
»Wir konnten ziemlich genau, aber leider nicht lückenlos ermitteln, was in den letzten Tagen passiert ist. Daran, dass Ihr Mann Wanda Sieveking getötet hat, besteht praktisch kein Zweifel mehr!«, sagte er, schlug sein Notizbuch auf und fasste zusammen: »In der Nacht vom fünften auf den sechsten August geht er auf den Swanti, um Wanda Sieveking umzubringen. Er zieht die dunkle Wetterjacke über, die Manfred Graber im Schuppen vergessen hat. Es ist Vollmond und der Weg dorthin auch ohne verräterische Lampe kein Problem. Entweder er erwartet sie dort oben bereits, oder, was wir eher vermuten, er folgt ihr dorthin, um sie die Klippe hinabzustoßen und ihren Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen. Aber sie wehrt sich. Klammert sich an der Jacke fest, in der Harri Graber ihn gegen eins am Klausner vorbeikommen sieht. Wenig später bemerkt eine Zeugin Licht in Wandas Haus, das Licht, das er braucht um zu beseitigen, was es an Hinweisen auf Sie, Frau Manthey, gibt. Darauf, dass Wanda Sie behandelt hat.« Schöbel machte eine Pause, trank von dem Wasser, das auf dem Tisch stand, und zog Wandas Kalender aus der Mappe. »Bis hierher sehen wir klar«, fuhr er fort. »Wir haben die Spuren von Wandas Händen auf der Jacke gesichert sowie Schweiß und Hautpartikel aus dem Inneren der Jacke. Die beweisen, wer sie getragen hat. In den feinen Rissen im Außenleder der Handschuhe haben wir sogar Spuren von Bernsteinstaub gefunden, der von Wandas Schreibtisch stammt. Wir wissen auch, dass Sie am Nachmittag des fünften August mit Ihrem Mann telefoniert haben. Wir wissen nur nicht, worum es dabei ging.«
»Aber ist das nicht offensichtlich?«, fragte der Professor, bevor Gesine Manthey etwas sagen konnte. »Lesen Sie noch mal vor, was da steht.«
»Gesine – Rizinus, viel Wasser! Und sie wird wieder allein sein! – Uriel.«
»Na, sehen Sie. Da wird der zugegeben etwas fragwürdige Plan einer Entgiftung skizziert. Jede denkbare Giftquelle beseitigen, abführen, viel trinken und den geeigneten Engel um Beistand bitten. Bedenklich, wie gesagt, und unorthodox, aber möglich. Durchaus.«
»Und die Giftquelle wird beseitigt, wenn man mit dem Ehemann telefoniert, meinen Sie?«
»Ganz genau. Anders kann es gar nicht gewesen sein. Wanda Sieveking hat, fragen Sie mich nicht woher, gewusst, dass er seine Frau vergiftete.«
»Ich sollte ihn anrufen, als Wanda bei mir war«, sagte Gesine Manthey leise. »Er war geschäftlich in Stralsund, und ich sollte ihm sagen, dass er nie mehr hierherkommen soll.«
»Und dann?«, hakte Schöbel nach, als sie nicht weitersprach.
»Ich hab’s versucht. Es ging nicht. Ich habe kein Wort herausbringen können. Deshalb hat Wanda mit ihm geredet.«
»Erinnern Sie sich noch, worüber gesprochen wurde?«
Sie hob ratlos ihre Schultern an. »Ich weiß nur, dass Wanda noch eine Weile geblieben ist. Sie hat mich beruhigt und versprochen, es werde alles gut.«
»Das passt nicht zu Wanda«, warf Pieplow ein und dachte dabei an Zorro, den Seemann. »Ich meine, dass sie Frau Manthey nicht ins Krankenhaus geschickt hat. Das tat sie sonst nämlich, wenn es nötig war.«
»Löblich, äußerst löblich für jemanden, der sich in den Grenzbereichen der Heilkunst tummelt«, sagte der Professor. »Aber mit Intoxikationen ist das so eine Sache. Der eine fällt ins Koma, wenn er sich regelmäßig Atropin ins Auge träufelt, der andere deliriert bereits nach dem Genuss von Honig aus Azaleenblüten, während ein Dritter sogar die Kombination mit Morphium verkraftet. Alles schon vorgekommen, alles wissenschaftlich dokumentiert. Und wenn jemand, wie sie mir gestanden hat, eine so panische – obgleich völlig ungerechtfertigte, wie ich betonen möchte – Angst vor Kliniken hat wie unsere liebe Frau Manthey, ist diese Entscheidung einigermaßen nachvollziehbar. Zumal Frau Sieveking offenbar über ein äußerst feines Gespür für den Zustand ihrer Patienten und den weiteren Krankheitsverlauf verfügte. Außerdem deutet ja einiges darauf hin, dass eine tödliche Dosis gar nicht angestrebt war.«
Schöbel hob interessiert den Kopf. »Wie kommen Sie darauf?«
»Wir haben darüber gesprochen, der Professor und ich, als er bei mir im Krankenhaus war. Dass mein... dass er... also... Oh, Gott.« Sie fing so heftig an zu weinen, dass die Männer erschraken.
»Vielleicht sollten wir...« Schöbel begann zusammenzuräumen, was vor ihm auf dem Tisch lag. Pieplow griff nach seiner Uniformmütze. Der Professor holte Wasser.
»Ein wenig instabil, ich sagte es ja.« Er reichte Gesine Manthey ein frisches Glas und Taschentücher.
»Es ist gleich vorbei«, schluchzte sie und wollte, dass sie blieben und sich die Geschichte anhörten, die sie selbst noch kaum glauben konnte. Vom Wechsel ihrer Stimmungen in der letzten Zeit und den Anfällen siedender Übelkeit. Davon, dass Herzrasen ihr manchmal den Atem nahm und sie umkam vor Durst.
Von der Angst, verrückt zu werden, weil kein Arzt die Ursache fand.
»Darum ging es ihm«, sagte der Professor. »Krank und, sagen wir, psychisch labil, war sie ihm nützlich. Damit verschaffte er sich den Spielraum für seine dubiosen Transaktionen.«
»Und nach deren Abschluss sogar eine plausible Vorgeschichte für einen erklärbaren Tod«, vermutete Schöbel.
»Vielleicht ist es ja ganz gut, dass ich vieles vergessen habe.« Gesine Manthey sah hinaus auf die Terrasse. »Was wird jetzt aus mir?«, fragte sie, ohne den Blick zu wenden, und lauschte aufmerksam in die Stille, die sich im Raum ausbreitete.
 
»Natürlich wird gegen sie ermittelt«, sagte Schöbel, als sie wieder im Streifenwagen saßen. Er hielt schützend eine Hand um das Feuerzeug, bis seine Zigarette brannte. »Und es kommt sicher auch zum Verfahren. Aber wenn sie bei Begehung der Tat nicht schuldunfähig war, wer denn dann?«
Ja, wer dann, dachte Pieplow und zog es vor zu schweigen. Ließ die Autoscheiben herunter und sah hinaus auf die frisch gemähten Boddenwiesen, deren Heuduft herüberwehte. Zwischen träge grasendem Rindvieh staksten Graureiher herum, und im wolkenlosen Blau darüber zerflossen Kondensstreifen zu flockigen Buttermilchwolken. Der Wagen rollte so gemächlich über die Straße am Seedeich, dass Zeit genug war für Schöbels Zigarette und Pieplows Gefühl, dass sie in ihre Ruhe zurückfanden, die Insel und er.