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»Man könnte es als eine Art höherer Gerechtigkeit
sehen«, schlug Pieplow vor.
»Den toten Mörder, meinen Sie?« Schöbel verzog
skeptisch das Gesicht. »Klar kann man das. Ich persönlich finde
diese Art von höherer Gerechtigkeit allerdings unbefriedigend.
Berufsbedingt, sozusagen. Keine Verhöre, kein Prozess, kein Urteil.
Stattdessen Indizienschlüsse, Mutmaßungen und unschöne Lücken in
der Rekonstruktion. Gefällt mir einfach nicht, so was. Ich wüsste
gerne genau, was sich zwischen den Mantheys abgespielt hat. Aber da
ist nichts zu machen. Er ist verblutet, und sie hat keine Ahnung,
wie es passiert ist. Erinnert sich nur vage, dass jemand Fremdes im
Haus war und sie sich so aufgeregt hat, dass man ihr etwas zur
Beruhigung gegeben hat. Danach ist Schluss. Blackout. Laut
Gerichtsmedizin womöglich ausgelöst durch die Kombination eines
Sedativums mit Atropin.«
»Atropin? Das, was in Augentropfen ist?«
»Ungefähr, ja. Genau heißt das Zeug...« Schöbel
blätterte in dem Ordner auf seinen Knien. »Hyoscyamin. Kann von
Pupillenerweiterung und trockenen Schleimhäuten bis zum tödlichen
Kollaps alles Mögliche verursachen und kommt in einer ganzen Reihe
von Pflanzen vor. Tollkirsche, Alraunen, Stechapfel. Und eben in
dem Kraut, das Manthey so liebevoll auf seiner Terrasse gepflegt
hat.«
»Die Engelstrompeten?«
Schöbel nickte. »Die hat er ihr offenbar im Tee
verabreicht. Wir haben Spuren der Trockensubstanz im Belag einer
Kanne gefunden. Und Ironie des Schicksals – oder höhere
Gerechtigkeit, wenn Sie so wollen – ist wohl, dass er die
Katastrophe selbst ausgelöst hat. Erst gibt er ihr seit Monaten
immer mal wieder dieses Pflanzenzeug, dann das Beruhigungsmittel,
als sie beim Besuch des Bankberaters in Rage gerät. Und erreicht
genau das Gegenteil damit. Den Rest können wir nur raten. Wir
wissen, dass sie aus dem Schuppen die Sichel hatte, mit der sie die
Rosen geköpft und die Engelstrompeten zersäbelt hat. Aber ob Gesine
Manthey nun auf ihren Mann losgegangen ist oder er sie aufhalten
wollte, wissen wir nicht. Nur, dass sie ihm die Verletzung der
Achselarterie zugefügt haben muss, an der er verblutet ist. Mal
sehen, ob nicht das eine oder andere doch noch aus der Erinnerung
aufgetaucht ist, mit dem wir ein bisschen mehr Licht ins Dunkel
bringen.« Schöbel klappte den Ordner zu und stieg aus, als der
Streifenwagen am Hügelweg anhielt.
Der Plattenweg war gefegt. Im Rahmen des
Giebelfensters trocknete Kitt um die neuen Scheiben. Von den
Scherben der alten war im Gras vor dem Haus nichts mehr zu sehen.
Der geschlossene Schuppen ließ nicht erkennen, ob auch darin
aufgeräumt worden war. Manfred Graber hatte zwei Tage gebraucht und
ganze Arbeit geleistet.
»Picobello, das muss man sagen.« Schöbel sah
sich anerkennend um. »Bei euch funktioniert Nachbarschaftshilfe
wenigstens noch.«
»Sieht so aus«, stimmte Pieplow zu und fand, das
Schild unter der Klingel hätte auch gleich entsorgt werden können.
›Armin und Gesine Manthey‹ stand immer noch dort, und damit wäre es
auf jeden Fall vorbei gewesen. So oder so. Denn einer wie Matthias
Behnsen ließ sich vielleicht in die Flucht jagen, aber nicht für
dumm verkaufen. Erst recht nicht, wenn der Missbrauch von
Vollmachten seine Bank um das Vermögen einer Kundin brachte.
»Nanu«, wunderte sich Schöbel, als schwungvoll
die Tür geöffnet wurde. »Sieht aus, als hätten wir uns in der
Adresse geirrt.«
»Keineswegs, Herr Hauptkommissar, keineswegs«,
widersprach der Professor vergnügt. »Ich bin nur der ärztliche
Beistand. Ehrenamtlich, aber wohl nichtsdestoweniger sinnvoll. So
ganz ist unsere Patientin nämlich noch nicht wieder auf dem Posten.
Verständlich, wenn man bedenkt, wie es um sie stand, finden Sie
nicht?«
Doch, gewiss, das fand Schöbel auch. Vor fünf
Tagen komatös in die Klinik und gestern schon wieder entlassen, da
waren selbst robustere Naturen noch etwas wackelig auf den
Beinen.
»Aber vernehmungsfähig ist sie, oder?«,
erkundigte er sich besorgt, bevor er ganz in den Flur trat.
»Ich denke schon. Zumal, wenn wir ein wenig
Fingerspitzengefühl walten lassen.« Dahlke ging in den Wohnraum
voraus, in dem Pieplow die Handschrift Manfred Grabers erkannte.
Keine Spur der Verwüstungen mehr, alles an Ort und Stelle und im
Holz der Terrasse nur noch ein dunkler Schemen dort, wo Manthey
gelegen hatte.
Mit ihrem ungeschminkten Gesicht und dem spröden
roten Haar, das sie jetzt streichholzkurz trug, wirkte Gesine
Manthey zerbrechlich. Wie ein müdes trauriges Mädchen, das in einem
zu großen Sessel auf das wartete, was man ihm zu sagen hatte.
Der Professor trat hinter sie und legte ihr
väterlich eine Hand auf die Schulter.
»Darf ich vorstellen, mein Kind: Hauptkommissar
Schöbel, den Leiter der Ermittlungen, kennen Sie ja schon. Und das
ist Polizeiobermeister Pieplow, der sich um den glimpflichen
Ausgang der Geschichte verdient gemacht hat.«
»Das war Zufall«, wehrte Pieplow ab.
»Davon, mein Lieber, kann ja gar keine Rede
sein. Oder würden Sie sagen, dass der Spürhund am Ende seine Beute
findet, sei Zufall, nur weil er am Anfang keine Ahnung hat, wo sie
sich befindet?«
»Na ja«, sagte Pieplow. Als Spürhund hatte er
sich noch nicht gesehen.
»Ich danke Ihnen.« Gesine Manthey bewegte sich
nicht. Stand nicht auf, reichte niemandem die Hand. Sah nur aus
ihren dunkel umschatteten Augen zu Pieplow auf und fügte hinzu:
»Vor allem dafür, dass dem Jungen nichts passiert ist.« Sie legte
eine Hand an den Hals, an dem von der Unmenge Schmuck nur eine
einzige Kette geblieben war. Goldbraune Perlen im Wechsel mit
harzgelben Tropfen.
Wandas kosmische Gabe.
Schöbel räusperte sich. Er wollte zum
Eigentlichen kommen.
»Wir konnten ziemlich genau, aber leider nicht
lückenlos ermitteln, was in den letzten Tagen passiert ist. Daran,
dass Ihr Mann Wanda Sieveking getötet hat, besteht praktisch kein
Zweifel mehr!«, sagte er, schlug sein Notizbuch auf und fasste
zusammen: »In der Nacht vom fünften auf den sechsten August geht er
auf den Swanti, um Wanda Sieveking umzubringen. Er zieht die dunkle
Wetterjacke über, die Manfred Graber im Schuppen vergessen hat. Es
ist Vollmond und der Weg dorthin auch ohne verräterische Lampe kein
Problem. Entweder er erwartet sie dort oben bereits, oder, was wir
eher vermuten, er folgt ihr dorthin, um sie die Klippe
hinabzustoßen und ihren Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen.
Aber sie wehrt sich. Klammert sich an der Jacke fest, in der Harri
Graber ihn gegen eins am Klausner
vorbeikommen sieht. Wenig später bemerkt eine Zeugin Licht in
Wandas Haus, das Licht, das er braucht um zu beseitigen, was es an
Hinweisen auf Sie, Frau Manthey, gibt. Darauf, dass Wanda Sie
behandelt hat.« Schöbel machte eine Pause, trank von dem Wasser,
das auf dem Tisch stand, und zog Wandas Kalender aus der Mappe.
»Bis hierher sehen wir klar«, fuhr er fort. »Wir haben die Spuren
von Wandas Händen auf der Jacke gesichert sowie Schweiß und
Hautpartikel aus dem Inneren der Jacke. Die beweisen, wer sie
getragen hat. In den feinen Rissen im Außenleder der Handschuhe
haben wir sogar Spuren von Bernsteinstaub gefunden, der von Wandas
Schreibtisch stammt. Wir wissen auch, dass Sie am Nachmittag des
fünften August mit Ihrem Mann telefoniert haben. Wir wissen nur
nicht, worum es dabei ging.«
»Aber ist das nicht offensichtlich?«, fragte der
Professor, bevor Gesine Manthey etwas sagen konnte. »Lesen Sie noch
mal vor, was da steht.«
»Gesine – Rizinus, viel Wasser! Und sie wird
wieder allein sein! – Uriel.«
»Na, sehen Sie. Da wird der zugegeben etwas
fragwürdige Plan einer Entgiftung skizziert. Jede denkbare
Giftquelle beseitigen, abführen, viel trinken und den geeigneten
Engel um Beistand bitten. Bedenklich, wie gesagt, und unorthodox,
aber möglich. Durchaus.«
»Und die Giftquelle wird beseitigt, wenn man mit
dem Ehemann telefoniert, meinen Sie?«
»Ganz genau. Anders kann es gar nicht gewesen
sein. Wanda Sieveking hat, fragen Sie mich nicht woher, gewusst,
dass er seine Frau vergiftete.«
»Ich sollte ihn anrufen, als Wanda bei mir war«,
sagte Gesine Manthey leise. »Er war geschäftlich in Stralsund, und
ich sollte ihm sagen, dass er nie mehr hierherkommen soll.«
»Und dann?«, hakte Schöbel nach, als sie nicht
weitersprach.
»Ich hab’s versucht. Es ging nicht. Ich habe
kein Wort herausbringen können. Deshalb hat Wanda mit ihm
geredet.«
»Erinnern Sie sich noch, worüber gesprochen
wurde?«
Sie hob ratlos ihre Schultern an. »Ich weiß nur,
dass Wanda noch eine Weile geblieben ist. Sie hat mich beruhigt und
versprochen, es werde alles gut.«
»Das passt nicht zu Wanda«, warf Pieplow ein und
dachte dabei an Zorro, den Seemann. »Ich meine, dass sie Frau
Manthey nicht ins Krankenhaus geschickt hat. Das tat sie sonst
nämlich, wenn es nötig war.«
»Löblich, äußerst löblich für jemanden, der sich
in den Grenzbereichen der Heilkunst tummelt«, sagte der Professor.
»Aber mit Intoxikationen ist das so eine Sache. Der eine fällt ins
Koma, wenn er sich regelmäßig Atropin ins Auge träufelt, der andere
deliriert bereits nach dem Genuss von Honig aus Azaleenblüten,
während ein Dritter sogar die Kombination mit Morphium verkraftet.
Alles schon vorgekommen, alles wissenschaftlich dokumentiert. Und
wenn jemand, wie sie mir gestanden hat, eine so panische – obgleich
völlig ungerechtfertigte, wie ich betonen möchte – Angst vor
Kliniken hat wie unsere liebe Frau Manthey, ist diese Entscheidung
einigermaßen nachvollziehbar. Zumal Frau Sieveking offenbar über
ein äußerst feines Gespür für den Zustand ihrer Patienten und den
weiteren Krankheitsverlauf verfügte. Außerdem deutet ja einiges
darauf hin, dass eine tödliche Dosis gar nicht angestrebt
war.«
Schöbel hob interessiert den Kopf. »Wie kommen
Sie darauf?«
»Wir haben darüber gesprochen, der Professor und
ich, als er bei mir im Krankenhaus war. Dass mein... dass er...
also... Oh, Gott.« Sie fing so heftig an zu weinen, dass die Männer
erschraken.
»Vielleicht sollten wir...« Schöbel begann
zusammenzuräumen, was vor ihm auf dem Tisch lag. Pieplow griff nach
seiner Uniformmütze. Der Professor holte Wasser.
»Ein wenig instabil, ich sagte es ja.« Er
reichte Gesine Manthey ein frisches Glas und Taschentücher.
»Es ist gleich vorbei«, schluchzte sie und
wollte, dass sie blieben und sich die Geschichte anhörten, die sie
selbst noch kaum glauben konnte. Vom Wechsel ihrer Stimmungen in
der letzten Zeit und den Anfällen siedender Übelkeit. Davon, dass
Herzrasen ihr manchmal den Atem nahm und sie umkam vor Durst.
Von der Angst, verrückt zu werden, weil kein
Arzt die Ursache fand.
»Darum ging es ihm«, sagte der Professor. »Krank
und, sagen wir, psychisch labil, war sie ihm nützlich. Damit
verschaffte er sich den Spielraum für seine dubiosen
Transaktionen.«
»Und nach deren Abschluss sogar eine plausible
Vorgeschichte für einen erklärbaren Tod«, vermutete Schöbel.
»Vielleicht ist es ja ganz gut, dass ich vieles
vergessen habe.« Gesine Manthey sah hinaus auf die Terrasse. »Was
wird jetzt aus mir?«, fragte sie, ohne den Blick zu wenden, und
lauschte aufmerksam in die Stille, die sich im Raum
ausbreitete.
»Natürlich wird gegen sie ermittelt«, sagte
Schöbel, als sie wieder im Streifenwagen saßen. Er hielt schützend
eine Hand um das Feuerzeug, bis seine Zigarette brannte. »Und es
kommt sicher auch zum Verfahren. Aber wenn sie bei Begehung der Tat
nicht schuldunfähig war, wer denn dann?«
Ja, wer dann, dachte Pieplow und zog es vor zu
schweigen. Ließ die Autoscheiben herunter und sah hinaus auf die
frisch gemähten Boddenwiesen, deren Heuduft herüberwehte. Zwischen
träge grasendem Rindvieh staksten Graureiher herum, und im
wolkenlosen Blau darüber zerflossen Kondensstreifen zu flockigen
Buttermilchwolken. Der Wagen rollte so gemächlich über die Straße
am Seedeich, dass Zeit genug war für Schöbels Zigarette und
Pieplows Gefühl, dass sie in ihre Ruhe zurückfanden, die Insel und
er.