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Auch die Kripo kam übers Wasser. In kleiner Besetzung, aber ganz professionell mit einem Boot der Wasserschutzpolizei. Zwei Männer vom Erkennungsdienst mit Koffern und Kameras.
Schöbel, Hauptkommissar. Rothaarig, groß, mit einer melancholischen Ruhe in allem, was er tat.
In seinem Schlepptau Oberkommissar Böhm, braungebrannt, dynamisch, die unvermeidliche Sonnenbrille auf der Nase.
Den ernsten Blick auf die Tote gerichtet, hörte Schöbel mit ausdruckslosem Gesicht zu, während Kästner Bericht erstattete.
Wann sie was vorgefunden hatten. Die Zeugen ärztlich versorgt. Spurenlage. Sicherungsmaßnahmen. Am Fundort so wenig wie möglich verändert. Ihn abgesperrt, so gut es ging. Helfer aus den Zuschauern rekrutiert. Einen Finanzbeamten, einen Taxifahrer. Sie südlich und nördlich des Fundorts postiert. Man musste sich schließlich irgendwie behelfen, und bislang hatte noch kein Gaffer gewagt, sich an denen vorbeizudrängeln.
»Weiter oben« – Kästner wies Richtung Enddorn – »und am Klausner sind die beiden einzigen Strandzugänge inzwischen gesperrt. Genau wie alle Wege ins Hochland.« Alle Blicke folgten Kästners Armbewegung nach oben zur Kliffkante. Zu sehen war nichts. Aber darauf, dass an den Jungs von Feuerwehr und Seenotrettung niemand vorbeikam, war Verlass.
»Gut«, sagte Schöbel und nickte anerkennend. »Und was ist mit den Zeugen?«
»Mit dem Rettungskreuzer zurück nach Vitte gebracht, nachdem wir die Personalien notiert haben.« Kästner klopfte mit der flachen Hand auf die Hemdtasche, in der sein Notizbuch steckte. »Viel sagen konnten sie nicht. Der Mann nur, dass er uns angerufen, aber sonst nichts unternommen hat. Bloß versucht, sich um die Frau zu kümmern, was aber schwierig gewesen sein soll.«
Schöbels hochgezogene Augenbrauen zeigten an, dass er nähere Erklärungen wünschte.
»Na ja«, sagte Kästner gedehnt. »Sie war – wie soll ich sagen – ziemlich durcheinander. Wollte erst niemanden an sich’ranlassen, nicht mal den Arzt. Wenn ich alles richtig verstanden habe, ist das da ihr Werk.« Weil er merkte, wie missverständlich das klang, schob er nach: »Nicht die Tote. Die will sie am Wasser liegend vorgefunden und da hochgeschleppt haben.«
»Und weswegen die Steine?«, hakte Schöbel nach.
Der Ekel in Kästners Stimme war nicht zu überhören. »Sie sagt, als Schutz gegen die Vögel. Genau wie der Knüppel, den sie in der Hand hielt. Angeblich hat sich ein Möwenschwarm über die Tote hergemacht.«
Schöbel starrte ihn für einige Sekunden schweigend an und wandte sich dann an die Männer des Erkennungsdienstes: »Ihr könnt«, sagte er knapp.
Pieplow stand abseits und folgte schweigend Wanda Sievekings trauriger Verwandlung. Wie aus der rätselhaften, heiteren Frau die Leichensache Sieveking wurde. Ein Fall, ein Vorgang. Eine Akte mit Berichten, Protokollen, Laborergebnissen. Nichts, worauf Wanda viel gegeben hätte. Für sie hatte sich Erkenntnis aus anderen Quellen gespeist. Viel taugen konnten die nicht, dachte er bitter. Sonst hätte das hier nicht passieren dürfen. Was immer es auch gewesen sein mochte. Damit konnte kein Mensch einverstanden sein. Auch nicht einer, für den der Tod nur eine Station auf der Reise durch alle möglichen Welten war.
Es wurde nur das Notwendigste gesprochen. Ein paar Anweisungen von Schöbel. Ab und zu ein Hinweis auf etwas, das wichtig sein könnte. Ein Stück Holz, eine Feder, Steine mit Anhaftungen, die aussahen wie Blut. Vor und nach jeder Veränderung des Fundortes wurden Fotos gemacht, jeder Stein vorsichtig von der Toten genommen. Möglichst ohne die Lage eines anderen zu verändern. Quälend langsam kam der zerschundene Frauenkörper ganz zum Vorschein.
Pieplow fühlte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Der Anblick gehörte zum Schlimmsten, vor dem er je gestanden hatte. Die Augenhöhlen nur noch schorfige Wunden. Ein Arm, so grotesk gewinkelt, dass Pieplow meinte, noch das Bersten der Knochen zu hören.
Schöbel starrte wortlos auf die Tote. Betrachtete jede einzelne Verletzung. Er sah sich am Strand um, bevor sein Blick nach oben ging.
»Sie hat keine Schuhe an«, sagte er schließlich. »Habt ihr irgendwo ihre Schuhe gefunden?«
Kästner räusperte sich. »Wann hätten wir danach suchen sollen? Wir mussten …«
»Augen aufmachen hätte schon gereicht«, fiel Böhm ihm ins Wort. Er konnte es einfach nicht lassen. Trotzdem war Pieplow ihm fast dankbar. Es war, als hätte der kleine, plötzliche Zorn auf dieses Großmaul bewirkt, dass der eisige Panzer Risse bekam.
»Möglich, dass sie da oben irgendwo liegen«, sagte er ruhig und registrierte zufrieden die Handbewegung, mit der Schöbel Böhm Einhalt gebot. Unwillkürlich hoben alle die Köpfe.
»Wie kommt man da’rauf?«, wollte Böhm wissen.
Pieplow erklärte es ihm. Anderthalb Kilometer nach Süden oder Norden. Dann durch das Hochland von Osten auf den welligen Rücken des Swanti.
»Habt ihr gehört?«, fragte Schöbel die Männer von der Kriminaltechnik. »Macht euch auf den Weg, sobald hier alles erledigt ist.«
Dass daraus nichts werden würde, wusste Pieplow, als die erste Bö Sand aufwirbelte. Fein wie Zucker kreiselte er über den Strand und bedeckte alles mit einer pudrigen Schicht. Irgendwann war im Westen die dunkle wattige Linie am Horizont aufgestiegen, hatte sich ausgedehnt und ließ nun ein bedrohlich grollendes Blauschwarz in den Himmel fließen, durch das die ersten Blitze zuckten. Eine halbe Stunde noch, eher weniger, und der Wind würde das Wasser bis an die Kliffwand peitschen.
Es blieb nicht viel Zeit, wenigstens die Tote zu bergen. Was es sonst noch an Spuren geben mochte, würde danach wohl in Sturmböen und Regen verloren gehen. Unwiederbringlich. Das war klar, als die ersten schweren Tropfen auf die graue Plane des Leichensacks fielen, der sich über Wanda Sievekings Leichnam schloss.
002
Himmel und Meer tobten in allen Farben des Zorns. Die Wolken höllenschwarz, von grellweißen Blitzen zerrissen. Der Wind heulte. Brüllte. Peitschte Sturzregen vor sich her. Die See schäumte vor Wut.
So wenigstens schien es Pieplow. Auch wenn nur ein Sommergewitter über sie hinwegfegte, wollten ihm die Geister des Ewigen, an die Wanda Sieveking geglaubt hatte, nicht aus dem Kopf und begleiteten ihn, bis die Nausikaa in den Hafen von Vitte einlief. Sturm und Wellen hatten sich beruhigt. Auf dem Anlegeplatz neben ihnen wagten sich zwei Hobbysegler wieder aus ihrer Kajüte.
»Mein lieber Mann«, ächzte Schöbel, »das war wohl der stürmischste Einsatz, den ich je hatte.«
»Ist eben’ne windige Ecke hier.« Kästner wischte sich das nasse, zerzauste Haar aus der Stirn. »Aber gleich sieht’s hier wieder ganz anders aus.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zum Himmel, wo ein schwefeliges Gelb in das Grau der Wolken einsickerte und sie aufzulösen begann. »Aber jetzt gibt’s erstmal einen Kaffee, was meint ihr?«
Schöbel nickte gleichgültig. Böhm sagte nichts. Gab nach der rauen Fahrt nur fahlgrün und klatschnass eine traurige Figur ab, die sich zur Frage, ob Berliner oder Kirschschnecken zum Kaffee, nicht äußerte.
Pieplow wusste, was als Nächstes kam.
»Bring beides«, wies ihn Kästner an und genoss sehr offensichtlich seinen Platzvorteil als Dienststellenleiter und sturmerprobter Hiddenseer. »Aber lass dich von den Damen hinterm Tresen nicht ausquetschen. Die erfahren noch früh genug, was passiert ist.«
Der Anschein von Normalität tat Pieplow gut. Ein paar Minuten so tun, als sei dies ein Sommertag wie jeder andere. Das war es, was er jetzt brauchen konnte. Sich seinen Weg durch die Urlauber bahnen. Fahrrädern ausweichen und Bollerwagen, turmhoch mit Strandausrüstung bepackt.
Dass ihm neugierige Blicke folgten, ignorierte Pieplow. Auch die zum Tuscheln zusammengesteckten Köpfe. Er sah einfach niemanden an, gab nicht das kleinste Signal, dass man ihn ansprechen könne. Wartete vor dem Bäckereitresen, bis die Reihe an ihm war.
»Vier Berliner, vier Kirschschnecken.« Was Böhm nicht in seinen lädierten Magen bekam, würde Kästner verdrücken.
»Ist die Kripo noch da?« Lore Mann sah nicht auf, während sie das zuckrige Gebäck in rot-weißes Papier einschlug. Wer seit Jahr und Tag Kuchen an seine Polizisten verkaufte, durfte das wohl fragen. Dass etwas Grauenvolles geschehen war, wusste man längst. Irgendwann würde man auch Einzelheiten erfahren. Das hatte keine Eile.
Pieplow nickte nur.
Lore reichte Wechselgeld über den Ladentisch. »Lasst es euch trotzdem schmecken. Wird ja nicht besser davon, dass ihr hungert.«
»Danke«, sagte Pieplow, ohne genau zu wissen, warum. Wahrscheinlich, weil sie Anteil nahm, ohne neugierig zu sein. Weil sie ihn nicht in die Verlegenheit brachte, irgendwelche Polizeifloskeln von sich zu geben. Er zog das Kuchenpaket vom Tresen, öffnete die große Glastür und trat ins Freie.
Tausendmal war er den Weg Richtung Rathaus schon gegangen, seit er sich vor fünfzehn Jahren für die Insel entschieden hatte, nachdem der Traum vom Großstadtbullen ausgeträumt war. Wer nicht schnell und mutig genug ist, einen sinnlosen Mord zu verhindern, taugt vielleicht gerade mal noch zum Dorfpolizisten. So hatte er es damals gesehen und nicht einen einzigen Pfennig darauf gesetzt, sich hier jemals zu Hause zu fühlen. Und doch war es so gekommen.
»Wir kommen auch ohne diesen Firlefanz prima klar«, tönte Kästner in die versammelte Runde.
Pieplow wusste sofort, wovon die Rede war, als er das Dienstzimmer betrat. Von zwanzig Quadratmeter Polizeistation mit spärlichster Ausstattung. Zwei Schreibtische, Aktenschränke, Telefon. Für Besucher zwei Stühle. Außer dem Streifenwagen vor der Tür war das alles, womit sie auch die turbulenteste Hauptsaison bewältigten. Dienst meist allein, abwechselnd früh oder spät. Nur wenn es sein musste, wurde der andere aus der Freischicht geholt. Den Hiddenseern und ihren Polizisten genügte das völlig. Die einen, weil sie von präsenter Staatsgewalt aus Tradition und Prinzip wenig hielten. Die anderen, weil ihre Arbeit überschaubar war. Mal kam ein Diebstahl zur Anzeige, selten ein Einbruch. Verbotene Lagerfeuer am Strand, hin und wieder Randale. Besonders am Herrentag und in Tateinheit mit Volltrunkenheit. Wer ausnüchtern musste, wurde nach Hause verfrachtet. Zur Not auch mit der Schubkarre, damit der Streifenwagen sauber blieb.
»Mit der Schubkarre? Das gibt’s doch nicht!« Böhms Kaffeebecher drohte überzuschwappen, so heftig stellte er ihn auf Pieplows Schreibtischplatte ab. Seine Haltung verlor das Leidende, sein Gesicht bekam wieder Farbe. »Wie im letzten Jahrhundert! Fehlen nur noch Pferd und Repetiergewehr, dann wär’s hier wie im wilden...«
»Böhm! Bitte!« Schöbels Miene verfinsterte sich. »Lassen wir das!« Er schwieg, bis er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der Runde wieder sicher sein konnte. »Also: Wir wissen, wer das Opfer ist und wer es gefunden hat. Wir kennen den Namen des Mannes, der uns benachrichtigt hat. Das muss fürs Erste reichen. Die Spuren am Fundort sind uns im wahrsten Sinne des Wortes verhagelt, und was die Obduktion ergeben wird, wissen wir nicht. Bleibt uns also die Wohnung des Opfers. – Sie wissen, wo sie gewohnt hat?«
Pieplow brauchte nur aufzustehen, um mit dem Finger über die Karte hinter seinem Schreibtisch zu fahren. Bei einem namenlosen Sandweg im Nordwesten von Kloster hielt er an.
»Hier müsste es sein. Ganz genau weiß ich das erst, wenn wir davorstehen.« Er scherte sich nicht darum, dass Böhm verächtlich schnaubte. Auf Hiddensee hatte eben nicht jeder Trampelpfad einen Namen. Trotzdem fanden sich alle, die es etwas anging, problemlos zurecht. Post, Rettungsdienst, Feuerwehr. Und die Polizei.
Schöbel war Pieplows Zeigefinger mit den Augen gefolgt und überlegte jetzt laut: »Wenn sie allein gelebt hat, stellt sich die Frage, wie wir ins Haus kommen. Schlüssel hatte sie nicht bei sich. Wie steht’s mit Schlüsseldienst oder Schlosser? Irgendwem, der die Tür öffnen kann?«
»Das wird wohl nicht nötig sein.« Pieplow fühlte sich selbstsicherer als sonst, wenn er seine gewohnte Zurückhaltung aufgeben musste. Aber das hier war sein Revier. Er wusste, dass hier Einbruchssicherung und Diebstahlprävention noch als neumodischer Stadtkram galten. Die Urlauber bevorzugten das Versteck zwischen Steinen und Muscheln am Eingang. Die Hiddenseer sahen ihre Schlüssel gern etwas abseits verwahrt. »Wir sollten erstmal im Schuppen nachsehen. An den Balken neben der Tür zum Beispiel. Zwischen dem Werkzeug. Oder in alten Konservendosen.«
Schöbel hob nur eine seiner buschigen rotblonden Augenbrauen. »Gut«, sagte er. »Dann die Zeugen. – Wo sind die?«
Kästner klopfte auf sein aufgeschlagenes Notizbuch. »In ihren Urlaubsquartieren. Obwohl die Frau, die die Leiche gefunden hat, Anita Burgwald, ins Krankenhaus gehört hätte. Meinte jedenfalls der Doktor. Aber sie wollte partout in ihr Ferienhaus zurück. Auch der Mann, der uns angerufen hat, müsste in seiner Ferienwohnung sein. Beide wissen, dass sie im Laufe des Tages noch einmal befragt werden sollen.«
Schöbel erhob sich und zog sein Jackett vom Besucherstuhl. Es war immer noch feucht vom Gewitterregen und ganz knittrig dort, wo er sich angelehnt hatte. »Dann wollen wir mal. Zuerst in Wanda Sievekings Wohnung, danach mit den Zeugen sprechen. Sie, Pieplow, begleiten mich. Böhm, du fährst zurück nach Bergen und prüfst, was es an Informationen über alle Beteiligten gibt. Finde heraus, ob Angehörige benachrichtigt werden müssen. Und Sie«, Schöbel wandte sich an Kästner. »Sie nehmen die Nachhut in Empfang und weisen sie ein. Nicht, dass die sich noch im Hochland verfransen.«
Kästner trug es mit Gleichmut, dass er zum zweiten Mal an diesem Tag zu Fuß hinunter zum Hafen musste. Immerhin würde es von dort mit den Fahrzeugen der Bergener weitergehen.
003
Nur wer die Straße am Seedeich so gut kannte wie Pieplow, bemerkte noch Zeichen des Unwetters. Zu niedrigen Wällen aufgeschwemmtes Bruchholz, Zweige, kleine Äste. Nass glänzender, schwarzer Morast in den Furchen der Feldzufahrten. Als hätte gerade eine gigantische Hochzeit stattgefunden, waren überall auf dem Asphalt Wildrosenblätter verstreut, deren süßlicher Duft sich in der reglosen Luft zwischen den Hecken am Waldrand hielt. Und der Himmel über der Insel leuchtete wieder so makellos blau, dass die Erinnerung an das finstere Toben des Morgengewitters etwas Unwirkliches hatte. Genau wie die Bilder, die in Pieplows Kopf aufblitzten. Von klaffenden Wunden, ausgewaschen, hell wie gekochter Fisch. Von schlaffen, seltsam eckig gewinkelten Armen. Von einem Gesicht, so entstellt, dass der Gedanke daran Übelkeit aufwogen ließ.
Pieplow holte ein paar Mal tief Luft. Er war froh, dass trotz des Strandwetters in Kloster reger Betrieb herrschte. Die Passagiere des Mittagsschiffs schwärmten über die Insel. Essen kaufen, Kutsche fahren. Nachmittags zurück nach Stralsund oder Rügen. Wie Eintagsfliegen schwirrten sie über die Insel. Die Hiddenseer und ihre Urlauber waren froh, wenn abends wieder Ruhe einkehrte.
Jetzt allerdings boten sie mit ihrem Urlaubergleichmut willkommene Ablenkung. Ältere Herrschaften, so schwerhörig oder dickköpfig oder beides, dass sie das Auto hinter sich nicht beachteten. Kinder, die, Streifenwagen hin oder her, plötzlich über die Straße flitzten. Ein Frauenpulk in hitzigem Disput mitten auf der Fahrbahn. Autofrei, gifteten die Blicke, die Pieplow einfing, heißt ja wohl Vortritt für Fußgänger.
In den Seitenstraßen wurde es ruhiger. Pieplow bog links ab, dann rechts, und schließlich rumpelte der Wagen über ein ausgefahrenes Stück Sandweg.
»Hier ist es.« Pieplow wies auf ein taubenblaues Maschendrahttor. Etwas schief, aber sorgfältig lackiert hing es zwischen den Pfosten eines Zauns, an dem Malven in allen Farben blühten. Etwas erhöht über der blühenden Pracht des Gartens stand das Haus. Rosenüberwuchertes weißes Mauerwerk unter einem dicken Strohdachpolster.
»Ziemlich abgelegen. Erst recht für eine Frau.« Schöbels Stimme klang kratzig. Er hatte kaum gesprochen während der Fahrt. Sein Blick suchte die Umgebung ab. Große Grundstücke, dichte, niedrige Hecken von anthrazitgrauen reetgedeckten Dächern und mächtigen Birken überragt. Zur Seeseite unter landwärts geneigten Kiefern dichtes Gestrüpp, in das sich ein Pfad hineinschlängelte.
Schöbel wies auf die sandige Spur. »Wo führt der hin?«
»Zum Wald und weiter zum Hochufer.«
»Wie weit?«
»Zum Hochufer? Zwei-, höchstens dreihundert Meter«, schätzte Pieplow.
»Wären wir zu Fuß nicht schneller gewesen als übers Wasser?« Schöbel folgte dem Pfad mit den Augen über das kurze Stück durch die Grasfläche in den Wald hinein, hinter dem er anscheinend den Fundort vermutete.
»Nein«, sagte Pieplow. Mit einer ausholenden Armbewegung nach Norden versuchte er die Entfernung deutlich zu machen. »Hinter dem Wald streckt sich das Hochland noch kilometerlang hin, bis es in die Steilküste übergeht, und dort ist der Swanti. Eine gute Stunde hätten wir sicher gebraucht.«
»Was bedeutet, Wanda Sieveking muss mindestens genauso lange unterwegs gewesen sein«, folgerte Schöbel.
Eher länger, dachte Pieplow. Sie konnte sich schließlich alle Zeit der Welt lassen. Ohne jeden vernünftigen Grund hatte er ein unbehagliches Gefühl, als er hinter Schöbel durch das Gartentor auf Wanda Sievekings Haus zuging. Sah sich sogar um wie jemand, der bei dem, was er tat, nicht beobachtet werden wollte. Wie ein ungebetener Gast, dem die Hausherrin niemals erlauben würde, so weit in ihr Leben vorzudringen, wie sie es jetzt vorhatten. Es nutzte nichts, dass zwischen den Vorhängen des Erdgeschossfensters zwei schlappohrige Porzellanhunde die Besucher freundlich willkommen zu heißen schienen. Es nutzte auch nichts, dass die Haustür leicht und einladend aufschwang, als würden sie erwartet. Pieplows Unbehagen blieb.
Durch das Laub der Bäume fiel Mittagslicht mit grünlichem Schimmer auf das Schachbrettmuster der Fliesen und die weiß gekalkten Wände der Diele. Kühl war es hier und dämmrig und in der Luft hing ein Hauch von frischem Kiefernholz.
»Geräumiger, als ich dachte«, murmelte Schöbel, während er zwei Schritte in den Raum neben dem Eingang trat.
Eine Liege sahen sie. Niedrige Bücherregale rechts und links des Kopfendes. An der Wand gegenüber eine helle Kommode. Am Fenster ein Tisch, zwei Korbsessel. Bezüge und Gardinen aus grau-blau gestreiftem Stoff.
»Sieht aus, als könnte sie hier ihre …« Patienten? Kunden? Schöbel suchte nach dem passenden Wort, »… ihre Besucher behandelt haben.«
Weder Kästner noch Pieplow hatten Schöbels Fragen nach Wandas Heilungsmethoden beantworten können.
»Irgendwas mit Handauflegen und Besprechen«, hatte Kästner mehr geraten als gewusst. Er hatte immer nur mit halbem Ohr zugehört, wenn es um Wandas Künste ging, denen er sich um nichts in der Welt ausgeliefert hätte.
Marie würde mehr über Wanda wissen, ging es Pieplow durch den Kopf. In all den Stunden am Bett der alten Fine war nicht nur über Krankheit und Sterben gesprochen worden. Ganz sicher nicht. Hin und wieder hatte er sogar leises Lachen durch die Zimmertür gehört, obwohl Josefine Gau es sich nicht leicht gemacht hatte. Ein langes Leben hindurch zupacken und dann loslassen müssen fiel schwer. Dass es ganz am Ende doch gut war, hatte sie Wanda Sieveking zu verdanken. Behauptete zumindest Marie.
Die Stufen knarzten, als Schöbel die steile Treppe hinauf ins Dachgeschoss nahm, um sich auch dort nur flüchtig umzusehen, bevor er rückwärts wieder hinabstieg.
Nach einem kurzen Blick in das winzige Bad widmete er seine Aufmerksamkeit der Küche mit dem alten Spülstein und den soliden Einbauten, an denen nur der taubenblaue Anstrich neu war. Zwei Stühle, ein blank gescheuerter Holztisch mit einem Strauß aus Wiesenblumen und Gräsern, ganz frisch, als sei er gerade erst dorthin gestellt worden. Schöbel öffnete keinen Schrank, zog keine Schublade auf. Hielt nur für einen Moment inne und ließ die ruhige Ordnung auf sich wirken, in der Wanda Sieveking gelebt hatte.
Alles an seinem Platz. Kein schmutziges Geschirr. Kein Hinweis auf einen hastigen Aufbruch.
Auch im Schlafzimmer nicht, in dem ein Windspiel aus Federn und kleinen Bernsteinen über dem Bett in leises Schweben geriet, als Schöbel der angelehnten Tür einen Schubs gab, um sie ganz zu öffnen. Sie gab den Blick frei auf einen sonnigen Raum. Fast quadratisch und nur sparsam möbliert. Ein Wandbrett mit Haken für den Bademantel und eine Wolljacke. Auf der Kommode schweres elfenbeinfarbenes Waschgeschirr, darüber das Bild zweier Engel.
Im Wohnzimmer ging durch eine breite dreiflügelige Glastür der Blick auf Hochland und Wald, dem alles im Raum zugewandt schien. Das helle Sofa mit dem niedrigen Tischchen, auch Sessel und Hocker weiter hinten im Raum neben dem Bücherregal.
Schöbel bewegte sich langsam weiter und nahm konzentriert in Augenschein, womit Wanda Sieveking sich umgeben hatte. Bücher, Bilder. Muscheln, Steine. Etwas abseits, im schattenlosen Licht des einzigen Nordfensters, stand der Schreibtisch, massiv und schwer wie kein anderes Möbel im Haus. Auf der Schreibplatte ein Tongefäß mit Stiften und eine kleine Galerie gerahmter Fotografien. Bernsteine in allen Formen und Farben. Die schönsten klar und glänzend wie flüssiger Honig. In einer Schale daneben die Utensilien, um daraus Schmuck zu machen – Schleifpapier, Fadenrollen, Ösen, winzige Karabiner.
»Nirgendwo etwas, das nach Kalender aussieht. Entweder sie hatte ein phänomenales Gedächtnis oder sie war ein glücklicher Mensch ohne Termine«, sagte Schöbel und beugte sich vor, um die Fotos zu betrachten.
»Ist sie das?« Er reichte Pieplow eines der Bilder.
So wie Wanda darauf aussah, musste es etliche Jahre alt sein. Ihr halblanges Haar war noch dunkel und nicht im Nacken zusammengebunden, das Gesicht voller und glatter, als Pieplow es kannte. Aber sonst … der gleiche aufmerksame, ein wenig abwartend wirkende Blick, das gleiche Lächeln: warm und zurückhaltend zugleich.
»Ich denke schon«, sagte er vorsichtig. »Oder eine Frau, die ihr sehr ähnlich sieht. Vielleicht eine Schwester?«
»Und die Kleine? Kennen Sie die?« Schöbel tippte auf den Rand der Fotografie. Das Mädchen neben Wanda mochte zehn oder elf sein. Sauber und ordentlich in weißer Bluse und Trägerrock, der Pagenkopf blond und ordentlich gekämmt, wie es sich gehört, wenn man vor wolkig marmorierter Papierwand für den Fotografen posieren soll.
»Keine Ahnung.« Pieplow hob ratlos die Schultern. »Sie hat nie erwähnt, dass sie Kinder hat. Jedenfalls nicht mir gegenüber.«
»Wie steht’s mit Herrn Sieveking?«
Wieder musste Pieplow passen. »Kann sein, dass es früher mal einen gegeben hat, aber hier hat sie allein gelebt.«
Schöbel stellte das Foto zurück zu den anderen. »Gehen Sie schon’ran«, brummte er, als Pieplows Telefon klingelte. »Und dann machen Sie mal die Runde bei den Nachbarn, solange ich mich hier umsehe. Vielleicht hat ja jemand etwas gehört oder gesehen, was für uns interessant ist.«
Marie klang angespannt. »Daniel? Wo bist du?«
»Das ist wohl …« Gedankenübertragung, wollte er sagen.
»Was, um Himmels willen, ist denn passiert?«, fiel sie ihm ins Wort. »Du glaubst gar nicht, was für furchtbare Geschichten die Leute erzählen. Von zerstückelten …«
»Mama!«
Der Aufschub, den ihm Leonies Stimme aus dem Hintergrund verschaffte, würde nicht reichen, um die richtige Antwort zu finden. Marie zu belügen kam nicht in Frage. Zu sagen, was er wusste, ebenso wenig. Erst mussten andere entscheiden, was die Öffentlichkeit erfahren sollte. Solange würde es an den Umschlagplätzen für Neuigkeiten wohl noch hoch hergehen.
Dabei ist die Wahrheit schon grausam genug, dachte er. Zerstückelt! Was, zum Teufel, geht in den Köpfen von Menschen vor, die es noch blutrünstiger machen, als es ohnehin schon ist?
»Du kannst nichts sagen, oder?« Maries Stimme klang jetzt tiefer. Nicht mehr ängstlich, eher bedrückt.
»Noch nicht, nein.«
»Aber es ist tatsächlich jemand ermordet worden?«
»Wir wissen noch gar nichts, Marie. Erst wenn …« Er brach ab. Der Polizistensatz vom Ergebnis der Obduktion wollte ihm nicht über die Lippen. »Ich melde mich«, sagte er stattdessen. »Sobald es geht. Versprochen.«
 
Vor dem Nachbarhaus türmte sich Gepäck. Koffer, Taschen, eine Angelausrüstung. An der Hauswand lehnten Räder. Zwei große, ein mittleres und ein kleines getigertes, auf dem sein Besitzer seine liebe Mühe mit den Hiddenseer Sandpisten haben würde. Vielleicht war für diese Umstände der hochlehnige Sitz auf dem Gepäckträger des Herrenrades montiert.
»Willst du zu uns?« Der Dreikäsehoch, der Pieplow neugierig musterte, war offenbar der Tigerbiker. Den passenden Helm dazu trug er noch auf dem Kopf.
»Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht, wenn ihr heute erst angekommen seid.« Das war zwar keine Erklärung dafür, dass ein Polizist im Sommerhausgarten aufkreuzte, warf aber auch keinen Schatten auf den ersten Urlaubstag.
Der Steppke nickte. »Grade eben.« Seine kleine Hand schwebte mit gestreckten Fingern in langen Wellen durch die Luft. »Mit dem Schiff!«
Es musste sich um eine Art Fluggleitboot handeln, das Pieplow bisher auf dem Bodden entgangen war.
»Mama und Papa sind drinnen. Soll ich sie holen?«
Pieplow winkte ab. »Nicht nötig. Ich seh’ ja, dass alles in Ordnung ist.« Wer heute erst angekommen war, konnte wohl kaum etwas über die vergangene Nacht aussagen. Er tippte erst gegen den getigerten Helm, dann, fast vorschriftsmäßig, gegen den eigenen Mützenschirm.
»Willkommen auf Hiddensee, junger Mann.«
Im Haus gegenüber hatte man sich schon eingelebt. Ein Bobbycar lag seitwärts unter dem Flieder, auf der Leine im Garten hing Wäsche im Größensortiment wie die Fahrräder nebenan. Groß, mittel, klein, sehr klein sogar.
»Was ist passiert?« Die Frau musste ihn durch das Küchenfenster gesehen haben. Sie trat in die Haustür, bevor Pieplow entschieden hatte, wie er sich bemerkbar machen wollte. Klopfen? Rufen? Eine Klingel gab es nicht. »Ist was mit den Kindern?«
Immer dieselbe Frage, dachte Pieplow und beruhigte die Frau. Mit ihren Kindern sei nichts passiert, mit ihrem Mann auch nicht, der wahrscheinlich mit den Großen am Strand war, während sie den Mittagsschlaf des Jüngsten bewachte und nebenher aufräumte, abwusch, Wäsche aufhängte und was sonst noch zu tun war, wenn man mit drei Kindern Urlaub machte.
»Gott sei Dank!« Sie legte die Hand mit dem Ehering auf ihr üppiges Dekolleté über dem Herzen, das nun wieder langsamer schlagen durfte.
Wandas Schicksal erschreckte sie weniger. Auch wenn so ein Unfall, wie Pieplow ihn andeutete, natürlich furchtbar war. Sie war zu erschöpft, zu übernächtigt, als dass sie viel Interesse für das Unglück anderer Leute aufbringen konnte. Trotzdem gab sie sich Mühe mit der Antwort auf Pieplows Fragen und schüttelte erst nach einer kleinen Bedenkzeit den Kopf.
»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Ich hab aber, ehrlich gesagt, auch nicht drauf geachtet. Wenn Sie jede Nacht zwei, drei Mal hochmüssen, denken Sie nur noch an eins: Ich will wieder ins Bett. Nichts hören, nichts sehen. Nur schlafen. Der Kleine ist erst acht Wochen alt und alle vier Stunden hungrig. Sie können sich ja denken, was das bedeutet.«
Pieplow nickte verständnisvoll wie ein kinderreicher Leidensgenosse. »Und Ihr Mann? Könnte der etwas bemerkt haben?«
»Wie denn?« Die Frage kam mit einem kleinen Schnauben und wirkte fast zornig. »Der schläft wie ein Stein. Zu Hause sowieso und hier erst recht. Den brauchen sie gar nicht zu fragen.«
»Ich verstehe«, sagte Pieplow. »Sie waren in der Nacht zwar mehrmals wach, haben aber nichts Ungewöhnliches bemerkt?«
»Genau. Alles so friedlich, wie es sein sollte. Hier und da mal ein Licht, ansonsten Dunkelheit und Stille. Zumindest da draußen.« Ein kleines müdes Lächeln begleitete den Gedanken an den Hungerrabatz ihres Jüngsten.
»Was meinen Sie damit: Hier und da mal ein Licht? War das Haus gegenüber nicht leer?«
»Doch, ja. Die Urlauber dort sind gestern abgereist und die Neuen packen ja grade erst aus, das sehen Sie doch.«
»Das heißt, bei Frau Sieveking brannte Licht?«
»Klar tat es das. So ein funzeliges wie von Kerzen. Wenigstens als ich das erste Mal wach war. Später war’s dunkel. Nicht so wie bei uns, wo die ganze Nacht irgendeine Lampe brennen muss. Die alte Dame hatte schließlich keine Kinder, die nachts herumwebern, oder?«
»Wann haben Sie denn das letzte Mal Licht dort drüben gesehen?«
Sie überlegte. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass ich beinahe im Sitzen eingeschlafen wäre, obwohl ich schon mit den Hühnern ins Bett gegangen bin. Als ich das nächste Mal aufstand, also etwa drei Stunden später, wurde es schon wieder hell.« Die Frau warf einen kurzen Blick hinter sich ins Haus, wo das Baby zu krähen begann. »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann. Die arme Frau. Wir kannten sie schon aus den letzten beiden Jahren. Wobei kennen eigentlich zu viel gesagt ist. Aber sie war nett, wissen Sie. Hat gleich gesehen, wie’s mir ging, als wir hier ankamen, und mir die hier gebracht.« Sie berührte mit den Fingerspitzen die Reihe glänzender Bernsteine, die sie an einem feinen Draht um den Hals trug. »Als Geschenk zur Geburt von Max. Sie hat gesagt, die Steine sind energetisch aufgeladen oder so. Ganz verstanden hab ich’s nicht. Und darauf, dass sie mir Gelassenheit und die Kräfte der Sonne bringen, warte ich auch irgendwie noch.«
Baby Max schrie jetzt so vernehmlich, dass es vermutlich ein Kilo energetischen Bernsteins brauchte, um gelassen zu bleiben. Trotzdem lachte die Frau. Herzlich und mütterlich, wie Pieplow fand und sich schnell noch Namen und Heimatadresse notierte, bevor er Nora Schilling aus Apolda ihrem aufreibenden Glück überließ.
Hinter der nächsten Tür blieb es still, als er klopfte.
Kein Wunder, dachte Pieplow. An einem Tag wie diesem wäre ich auch lieber am Strand. Oder ließe mir sonst wo den Sommerwind um die Nase wehen.
Allerdings wäre hinter Rosenhecken verborgen auf einer Decke im Gras die Liebste umschlingen auch nicht schlecht. Damit nämlich waren die jungen Leute beschäftigt, die er aufscheuchte, als er auf der Suche nach einem der Bewohner um die winzige Kate herumging. Gehört oder gesehen hatten die beiden nichts. Außer einander, was aber wohl nicht als ermittlungsrelevant gelten konnte. Pieplow übersah geflissentlich alle sichtbaren Zeichen von Erregung, bat um Entschuldigung für die Störung und zog sich zurück.
Blieb das Sommerhaus gegenüber. Das letzte vor der Kurve, hinter der es zum Hügelweg hinabging. Namensschild und Klingel bewahrten Pieplow vor neuerlichen Peinlichkeiten. Armin und Gesine Manthey. Die jungen Mantheys, wie man im Dorf sagte. Pieplow war der Frau nur ein paar Mal begegnet, seit sie das Haus vor ein paar Jahren geerbt hatten, das leer stand, wenn seine Besitzer es nicht bewohnten und die Pflege des großen Gartens Manfred Graber überließen. Pieplow drückte auf den Knopf.
Der Mittvierziger, der ihm öffnete, hatte sich gut gehalten. Braungebrannt, groß, muskulös. Blätter einer großformatigen Zeitung in der einen, Brille in der anderen Hand. Leutselig und höflich mit einem Hauch Ironie, das war Pieplows Eindruck.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Wachtmeister?« Erstens war der Dienstgrad nicht korrekt und zweitens klang er so, wie Manthey ihn aussprach, mehr nach Nachtwächter.
Es gehe, erläuterte Pieplow, um Wanda Sieveking, die alte Dame aus dem Haus schräg gegenüber am Weg ins Hochland. Sie sei heute Nacht an der Steilküste tödlich verunglückt. Und darum, ob die Nachbarn vielleicht etwas bemerkt hätten, das möglicherweise im Zusammenhang mit dem Sturz stehen könne.
»Das ist ja furchtbar!« Manthey war sichtlich betroffen. »Wer war das, sagten Sie?«
Pieplow beschrieb Wanda, wie er sie in Erinnerung hatte. Eine stattliche Siebzigjährige, die jünger wirkte, als sie war. Graues Haar, meist weite, helle Kleidung. Hose und Bluse. Seltener Kleider. Und ihr Weg hatte sie ganz gewiss des Öfteren hier vorbeigeführt. Wenn sie zum Einkaufen wollte, zum Beispiel. Oder in die Kirche. Zum Hafen.
Manthey machte ein nachdenkliches Gesicht. »Gut möglich, dass wir ihr begegnet sind, aber dass ich jetzt konkret wüsste, wer das ist, kann ich nicht sagen. Außerdem – als Zeugen für einen Unfall oben an der Steilküste sind wir dann vielleicht doch etwas weit weg, nicht wahr?« Manthey zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Stimmt«, räumte Pieplow ein. »Trotzdem wäre es ja möglich, dass die Nachbarn etwas bemerkt haben, das für unsere Ermittlungen von Bedeutung ist.«
Manthey hob bedauernd die Hand mit der Brille und setzte sie bei der Gelegenheit auch gleich auf die Nase. »Tut mir leid, dass ich in dieser traurigen Angelegenheit nicht weiterhelfen kann.« Für ihn war es an der Zeit, sich wieder der Lektüre zu widmen.