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Auch die Kripo kam übers Wasser. In kleiner
Besetzung, aber ganz professionell mit einem Boot der
Wasserschutzpolizei. Zwei Männer vom Erkennungsdienst mit Koffern
und Kameras.
Schöbel, Hauptkommissar. Rothaarig, groß, mit
einer melancholischen Ruhe in allem, was er tat.
In seinem Schlepptau Oberkommissar Böhm,
braungebrannt, dynamisch, die unvermeidliche Sonnenbrille auf der
Nase.
Den ernsten Blick auf die Tote gerichtet, hörte
Schöbel mit ausdruckslosem Gesicht zu, während Kästner Bericht
erstattete.
Wann sie was vorgefunden hatten. Die Zeugen
ärztlich versorgt. Spurenlage. Sicherungsmaßnahmen. Am Fundort so
wenig wie möglich verändert. Ihn abgesperrt, so gut es ging. Helfer
aus den Zuschauern rekrutiert. Einen Finanzbeamten, einen
Taxifahrer. Sie südlich und nördlich des Fundorts postiert. Man
musste sich schließlich irgendwie behelfen, und bislang hatte noch
kein Gaffer gewagt, sich an denen vorbeizudrängeln.
»Weiter oben« – Kästner wies Richtung Enddorn –
»und am Klausner sind die beiden einzigen
Strandzugänge inzwischen gesperrt. Genau wie alle Wege ins
Hochland.« Alle Blicke folgten Kästners Armbewegung nach oben zur
Kliffkante. Zu sehen war nichts. Aber darauf, dass an den Jungs von
Feuerwehr und Seenotrettung niemand vorbeikam, war Verlass.
»Gut«, sagte Schöbel und nickte anerkennend.
»Und was ist mit den Zeugen?«
»Mit dem Rettungskreuzer zurück nach Vitte
gebracht, nachdem wir die Personalien notiert haben.« Kästner
klopfte mit der flachen Hand auf die Hemdtasche, in der sein
Notizbuch steckte. »Viel sagen konnten sie nicht. Der Mann nur,
dass er uns angerufen, aber sonst nichts unternommen hat. Bloß
versucht, sich um die Frau zu kümmern, was aber schwierig gewesen
sein soll.«
Schöbels hochgezogene Augenbrauen zeigten an,
dass er nähere Erklärungen wünschte.
»Na ja«, sagte Kästner gedehnt. »Sie war – wie
soll ich sagen – ziemlich durcheinander. Wollte erst niemanden an
sich’ranlassen, nicht mal den Arzt. Wenn ich alles richtig
verstanden habe, ist das da ihr Werk.« Weil er merkte, wie
missverständlich das klang, schob er nach: »Nicht die Tote. Die
will sie am Wasser liegend vorgefunden und da hochgeschleppt
haben.«
»Und weswegen die Steine?«, hakte Schöbel
nach.
Der Ekel in Kästners Stimme war nicht zu
überhören. »Sie sagt, als Schutz gegen die Vögel. Genau wie der
Knüppel, den sie in der Hand hielt. Angeblich hat sich ein
Möwenschwarm über die Tote hergemacht.«
Schöbel starrte ihn für einige Sekunden
schweigend an und wandte sich dann an die Männer des
Erkennungsdienstes: »Ihr könnt«, sagte er knapp.
Pieplow stand abseits und folgte schweigend
Wanda Sievekings trauriger Verwandlung. Wie aus der rätselhaften,
heiteren Frau die Leichensache Sieveking wurde. Ein Fall, ein
Vorgang. Eine Akte mit Berichten, Protokollen, Laborergebnissen.
Nichts, worauf Wanda viel gegeben hätte. Für sie hatte sich
Erkenntnis aus anderen Quellen gespeist. Viel taugen konnten die
nicht, dachte er bitter. Sonst hätte das hier nicht passieren
dürfen. Was immer es auch gewesen sein mochte. Damit konnte kein
Mensch einverstanden sein. Auch nicht einer, für den der Tod nur
eine Station auf der Reise durch alle möglichen Welten war.
Es wurde nur das Notwendigste gesprochen. Ein
paar Anweisungen von Schöbel. Ab und zu ein Hinweis auf etwas, das
wichtig sein könnte. Ein Stück Holz, eine Feder, Steine mit
Anhaftungen, die aussahen wie Blut. Vor und nach jeder Veränderung
des Fundortes wurden Fotos gemacht, jeder Stein vorsichtig von der
Toten genommen. Möglichst ohne die Lage eines anderen zu verändern.
Quälend langsam kam der zerschundene Frauenkörper ganz zum
Vorschein.
Pieplow fühlte, wie Übelkeit in ihm aufstieg.
Der Anblick gehörte zum Schlimmsten, vor dem er je gestanden hatte.
Die Augenhöhlen nur noch schorfige Wunden. Ein Arm, so grotesk
gewinkelt, dass Pieplow meinte, noch das Bersten der Knochen zu
hören.
Schöbel starrte wortlos auf die Tote.
Betrachtete jede einzelne Verletzung. Er sah sich am Strand um,
bevor sein Blick nach oben ging.
»Sie hat keine Schuhe an«, sagte er schließlich.
»Habt ihr irgendwo ihre Schuhe gefunden?«
Kästner räusperte sich. »Wann hätten wir danach
suchen sollen? Wir mussten …«
»Augen aufmachen hätte schon gereicht«, fiel
Böhm ihm ins Wort. Er konnte es einfach nicht lassen. Trotzdem war
Pieplow ihm fast dankbar. Es war, als hätte der kleine, plötzliche
Zorn auf dieses Großmaul bewirkt, dass der eisige Panzer Risse
bekam.
»Möglich, dass sie da oben irgendwo liegen«,
sagte er ruhig und registrierte zufrieden die Handbewegung, mit der
Schöbel Böhm Einhalt gebot. Unwillkürlich hoben alle die
Köpfe.
»Wie kommt man da’rauf?«, wollte Böhm
wissen.
Pieplow erklärte es ihm. Anderthalb Kilometer
nach Süden oder Norden. Dann durch das Hochland von Osten auf den
welligen Rücken des Swanti.
»Habt ihr gehört?«, fragte Schöbel die Männer
von der Kriminaltechnik. »Macht euch auf den Weg, sobald hier alles
erledigt ist.«
Dass daraus nichts werden würde, wusste Pieplow,
als die erste Bö Sand aufwirbelte. Fein wie Zucker kreiselte er
über den Strand und bedeckte alles mit einer pudrigen Schicht.
Irgendwann war im Westen die dunkle wattige Linie am Horizont
aufgestiegen, hatte sich ausgedehnt und ließ nun ein bedrohlich
grollendes Blauschwarz in den Himmel fließen, durch das die ersten
Blitze zuckten. Eine halbe Stunde noch, eher weniger, und der Wind
würde das Wasser bis an die Kliffwand peitschen.
Es blieb nicht viel Zeit, wenigstens die Tote zu
bergen. Was es sonst noch an Spuren geben mochte, würde danach wohl
in Sturmböen und Regen verloren gehen. Unwiederbringlich. Das war
klar, als die ersten schweren Tropfen auf die graue Plane des
Leichensacks fielen, der sich über Wanda Sievekings Leichnam
schloss.
Himmel und Meer tobten in allen Farben des Zorns.
Die Wolken höllenschwarz, von grellweißen Blitzen zerrissen. Der
Wind heulte. Brüllte. Peitschte Sturzregen vor sich her. Die See
schäumte vor Wut.
So wenigstens schien es Pieplow. Auch wenn nur
ein Sommergewitter über sie hinwegfegte, wollten ihm die Geister
des Ewigen, an die Wanda Sieveking geglaubt hatte, nicht aus dem
Kopf und begleiteten ihn, bis die Nausikaa
in den Hafen von Vitte einlief. Sturm und Wellen hatten sich
beruhigt. Auf dem Anlegeplatz neben ihnen wagten sich zwei
Hobbysegler wieder aus ihrer Kajüte.
»Mein lieber Mann«, ächzte Schöbel, »das war
wohl der stürmischste Einsatz, den ich je hatte.«
»Ist eben’ne windige Ecke hier.« Kästner wischte
sich das nasse, zerzauste Haar aus der Stirn. »Aber gleich sieht’s
hier wieder ganz anders aus.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zum
Himmel, wo ein schwefeliges Gelb in das Grau der Wolken einsickerte
und sie aufzulösen begann. »Aber jetzt gibt’s erstmal einen Kaffee,
was meint ihr?«
Schöbel nickte gleichgültig. Böhm sagte nichts.
Gab nach der rauen Fahrt nur fahlgrün und klatschnass eine traurige
Figur ab, die sich zur Frage, ob Berliner oder Kirschschnecken zum
Kaffee, nicht äußerte.
Pieplow wusste, was als Nächstes kam.
»Bring beides«, wies ihn Kästner an und genoss
sehr offensichtlich seinen Platzvorteil als Dienststellenleiter und
sturmerprobter Hiddenseer. »Aber lass dich von den Damen hinterm
Tresen nicht ausquetschen. Die erfahren noch früh genug, was
passiert ist.«
Der Anschein von Normalität tat Pieplow gut. Ein
paar Minuten so tun, als sei dies ein Sommertag wie jeder andere.
Das war es, was er jetzt brauchen konnte. Sich seinen Weg durch die
Urlauber bahnen. Fahrrädern ausweichen und Bollerwagen, turmhoch
mit Strandausrüstung bepackt.
Dass ihm neugierige Blicke folgten, ignorierte
Pieplow. Auch die zum Tuscheln zusammengesteckten Köpfe. Er sah
einfach niemanden an, gab nicht das kleinste Signal, dass man ihn
ansprechen könne. Wartete vor dem Bäckereitresen, bis die Reihe an
ihm war.
»Vier Berliner, vier Kirschschnecken.« Was Böhm
nicht in seinen lädierten Magen bekam, würde Kästner
verdrücken.
»Ist die Kripo noch da?« Lore Mann sah nicht
auf, während sie das zuckrige Gebäck in rot-weißes Papier
einschlug. Wer seit Jahr und Tag Kuchen an seine Polizisten
verkaufte, durfte das wohl fragen. Dass etwas Grauenvolles
geschehen war, wusste man längst. Irgendwann würde man auch
Einzelheiten erfahren. Das hatte keine Eile.
Pieplow nickte nur.
Lore reichte Wechselgeld über den Ladentisch.
»Lasst es euch trotzdem schmecken. Wird ja nicht besser davon, dass
ihr hungert.«
»Danke«, sagte Pieplow, ohne genau zu wissen,
warum. Wahrscheinlich, weil sie Anteil nahm, ohne neugierig zu
sein. Weil sie ihn nicht in die Verlegenheit brachte, irgendwelche
Polizeifloskeln von sich zu geben. Er zog das Kuchenpaket vom
Tresen, öffnete die große Glastür und trat ins Freie.
Tausendmal war er den Weg Richtung Rathaus schon
gegangen, seit er sich vor fünfzehn Jahren für die Insel
entschieden hatte, nachdem der Traum vom Großstadtbullen
ausgeträumt war. Wer nicht schnell und mutig genug ist, einen
sinnlosen Mord zu verhindern, taugt vielleicht gerade mal noch zum
Dorfpolizisten. So hatte er es damals gesehen und nicht einen
einzigen Pfennig darauf gesetzt, sich hier jemals zu Hause zu
fühlen. Und doch war es so gekommen.
»Wir kommen auch ohne diesen Firlefanz prima
klar«, tönte Kästner in die versammelte Runde.
Pieplow wusste sofort, wovon die Rede war, als
er das Dienstzimmer betrat. Von zwanzig Quadratmeter Polizeistation
mit spärlichster Ausstattung. Zwei Schreibtische, Aktenschränke,
Telefon. Für Besucher zwei Stühle. Außer dem Streifenwagen vor der
Tür war das alles, womit sie auch die turbulenteste Hauptsaison
bewältigten. Dienst meist allein, abwechselnd früh oder spät. Nur
wenn es sein musste, wurde der andere aus der Freischicht geholt.
Den Hiddenseern und ihren Polizisten genügte das völlig. Die einen,
weil sie von präsenter Staatsgewalt aus Tradition und Prinzip wenig
hielten. Die anderen, weil ihre Arbeit überschaubar war. Mal kam
ein Diebstahl zur Anzeige, selten ein Einbruch. Verbotene
Lagerfeuer am Strand, hin und wieder Randale. Besonders am
Herrentag und in Tateinheit mit Volltrunkenheit. Wer ausnüchtern
musste, wurde nach Hause verfrachtet. Zur Not auch mit der
Schubkarre, damit der Streifenwagen sauber blieb.
»Mit der Schubkarre? Das gibt’s doch nicht!«
Böhms Kaffeebecher drohte überzuschwappen, so heftig stellte er ihn
auf Pieplows Schreibtischplatte ab. Seine Haltung verlor das
Leidende, sein Gesicht bekam wieder Farbe. »Wie im letzten
Jahrhundert! Fehlen nur noch Pferd und Repetiergewehr, dann wär’s
hier wie im wilden...«
»Böhm! Bitte!« Schöbels Miene verfinsterte sich.
»Lassen wir das!« Er schwieg, bis er sich der ungeteilten
Aufmerksamkeit der Runde wieder sicher sein konnte. »Also: Wir
wissen, wer das Opfer ist und wer es gefunden hat. Wir kennen den
Namen des Mannes, der uns benachrichtigt hat. Das muss fürs Erste
reichen. Die Spuren am Fundort sind uns im wahrsten Sinne des
Wortes verhagelt, und was die Obduktion ergeben wird, wissen wir
nicht. Bleibt uns also die Wohnung des Opfers. – Sie wissen, wo sie
gewohnt hat?«
Pieplow brauchte nur aufzustehen, um mit dem
Finger über die Karte hinter seinem Schreibtisch zu fahren. Bei
einem namenlosen Sandweg im Nordwesten von Kloster hielt er
an.
»Hier müsste es sein. Ganz genau weiß ich das
erst, wenn wir davorstehen.« Er scherte sich nicht darum, dass Böhm
verächtlich schnaubte. Auf Hiddensee hatte eben nicht jeder
Trampelpfad einen Namen. Trotzdem fanden sich alle, die es etwas
anging, problemlos zurecht. Post, Rettungsdienst, Feuerwehr. Und
die Polizei.
Schöbel war Pieplows Zeigefinger mit den Augen
gefolgt und überlegte jetzt laut: »Wenn sie allein gelebt hat,
stellt sich die Frage, wie wir ins Haus kommen. Schlüssel hatte sie
nicht bei sich. Wie steht’s mit Schlüsseldienst oder Schlosser?
Irgendwem, der die Tür öffnen kann?«
»Das wird wohl nicht nötig sein.« Pieplow fühlte
sich selbstsicherer als sonst, wenn er seine gewohnte Zurückhaltung
aufgeben musste. Aber das hier war sein Revier. Er wusste, dass
hier Einbruchssicherung und Diebstahlprävention noch als
neumodischer Stadtkram galten. Die Urlauber bevorzugten das
Versteck zwischen Steinen und Muscheln am Eingang. Die Hiddenseer
sahen ihre Schlüssel gern etwas abseits verwahrt. »Wir sollten
erstmal im Schuppen nachsehen. An den Balken neben der Tür zum
Beispiel. Zwischen dem Werkzeug. Oder in alten
Konservendosen.«
Schöbel hob nur eine seiner buschigen rotblonden
Augenbrauen. »Gut«, sagte er. »Dann die Zeugen. – Wo sind
die?«
Kästner klopfte auf sein aufgeschlagenes
Notizbuch. »In ihren Urlaubsquartieren. Obwohl die Frau, die die
Leiche gefunden hat, Anita Burgwald, ins Krankenhaus gehört hätte.
Meinte jedenfalls der Doktor. Aber sie wollte partout in ihr
Ferienhaus zurück. Auch der Mann, der uns angerufen hat, müsste in
seiner Ferienwohnung sein. Beide wissen, dass sie im Laufe des
Tages noch einmal befragt werden sollen.«
Schöbel erhob sich und zog sein Jackett vom
Besucherstuhl. Es war immer noch feucht vom Gewitterregen und ganz
knittrig dort, wo er sich angelehnt hatte. »Dann wollen wir mal.
Zuerst in Wanda Sievekings Wohnung, danach mit den Zeugen sprechen.
Sie, Pieplow, begleiten mich. Böhm, du fährst zurück nach Bergen
und prüfst, was es an Informationen über alle Beteiligten gibt.
Finde heraus, ob Angehörige benachrichtigt werden müssen. Und Sie«,
Schöbel wandte sich an Kästner. »Sie nehmen die Nachhut in Empfang
und weisen sie ein. Nicht, dass die sich noch im Hochland
verfransen.«
Kästner trug es mit Gleichmut, dass er zum
zweiten Mal an diesem Tag zu Fuß hinunter zum Hafen musste.
Immerhin würde es von dort mit den Fahrzeugen der Bergener
weitergehen.
Nur wer die Straße am Seedeich so gut kannte wie
Pieplow, bemerkte noch Zeichen des Unwetters. Zu niedrigen Wällen
aufgeschwemmtes Bruchholz, Zweige, kleine Äste. Nass glänzender,
schwarzer Morast in den Furchen der Feldzufahrten. Als hätte gerade
eine gigantische Hochzeit stattgefunden, waren überall auf dem
Asphalt Wildrosenblätter verstreut, deren süßlicher Duft sich in
der reglosen Luft zwischen den Hecken am Waldrand hielt. Und der
Himmel über der Insel leuchtete wieder so makellos blau, dass die
Erinnerung an das finstere Toben des Morgengewitters etwas
Unwirkliches hatte. Genau wie die Bilder, die in Pieplows Kopf
aufblitzten. Von klaffenden Wunden, ausgewaschen, hell wie
gekochter Fisch. Von schlaffen, seltsam eckig gewinkelten Armen.
Von einem Gesicht, so entstellt, dass der Gedanke daran Übelkeit
aufwogen ließ.
Pieplow holte ein paar Mal tief Luft. Er war
froh, dass trotz des Strandwetters in Kloster reger Betrieb
herrschte. Die Passagiere des Mittagsschiffs schwärmten über die
Insel. Essen kaufen, Kutsche fahren. Nachmittags zurück nach
Stralsund oder Rügen. Wie Eintagsfliegen schwirrten sie über die
Insel. Die Hiddenseer und ihre Urlauber waren froh, wenn abends
wieder Ruhe einkehrte.
Jetzt allerdings boten sie mit ihrem
Urlaubergleichmut willkommene Ablenkung. Ältere Herrschaften, so
schwerhörig oder dickköpfig oder beides, dass sie das Auto hinter
sich nicht beachteten. Kinder, die, Streifenwagen hin oder her,
plötzlich über die Straße flitzten. Ein Frauenpulk in hitzigem
Disput mitten auf der Fahrbahn. Autofrei, gifteten die Blicke, die
Pieplow einfing, heißt ja wohl Vortritt für Fußgänger.
In den Seitenstraßen wurde es ruhiger. Pieplow
bog links ab, dann rechts, und schließlich rumpelte der Wagen über
ein ausgefahrenes Stück Sandweg.
»Hier ist es.« Pieplow wies auf ein taubenblaues
Maschendrahttor. Etwas schief, aber sorgfältig lackiert hing es
zwischen den Pfosten eines Zauns, an dem Malven in allen Farben
blühten. Etwas erhöht über der blühenden Pracht des Gartens stand
das Haus. Rosenüberwuchertes weißes Mauerwerk unter einem dicken
Strohdachpolster.
»Ziemlich abgelegen. Erst recht für eine Frau.«
Schöbels Stimme klang kratzig. Er hatte kaum gesprochen während der
Fahrt. Sein Blick suchte die Umgebung ab. Große Grundstücke,
dichte, niedrige Hecken von anthrazitgrauen reetgedeckten Dächern
und mächtigen Birken überragt. Zur Seeseite unter landwärts
geneigten Kiefern dichtes Gestrüpp, in das sich ein Pfad
hineinschlängelte.
Schöbel wies auf die sandige Spur. »Wo führt der
hin?«
»Zum Wald und weiter zum Hochufer.«
»Wie weit?«
»Zum Hochufer? Zwei-, höchstens dreihundert
Meter«, schätzte Pieplow.
»Wären wir zu Fuß nicht schneller gewesen als
übers Wasser?« Schöbel folgte dem Pfad mit den Augen über das kurze
Stück durch die Grasfläche in den Wald hinein, hinter dem er
anscheinend den Fundort vermutete.
»Nein«, sagte Pieplow. Mit einer ausholenden
Armbewegung nach Norden versuchte er die Entfernung deutlich zu
machen. »Hinter dem Wald streckt sich das Hochland noch
kilometerlang hin, bis es in die Steilküste übergeht, und dort ist
der Swanti. Eine gute Stunde hätten wir sicher gebraucht.«
»Was bedeutet, Wanda Sieveking muss mindestens
genauso lange unterwegs gewesen sein«, folgerte Schöbel.
Eher länger, dachte Pieplow. Sie konnte sich
schließlich alle Zeit der Welt lassen. Ohne jeden vernünftigen
Grund hatte er ein unbehagliches Gefühl, als er hinter Schöbel
durch das Gartentor auf Wanda Sievekings Haus zuging. Sah sich
sogar um wie jemand, der bei dem, was er tat, nicht beobachtet
werden wollte. Wie ein ungebetener Gast, dem die Hausherrin niemals
erlauben würde, so weit in ihr Leben vorzudringen, wie sie es jetzt
vorhatten. Es nutzte nichts, dass zwischen den Vorhängen des
Erdgeschossfensters zwei schlappohrige Porzellanhunde die Besucher
freundlich willkommen zu heißen schienen. Es nutzte auch nichts,
dass die Haustür leicht und einladend aufschwang, als würden sie
erwartet. Pieplows Unbehagen blieb.
Durch das Laub der Bäume fiel Mittagslicht mit
grünlichem Schimmer auf das Schachbrettmuster der Fliesen und die
weiß gekalkten Wände der Diele. Kühl war es hier und dämmrig und in
der Luft hing ein Hauch von frischem Kiefernholz.
»Geräumiger, als ich dachte«, murmelte Schöbel,
während er zwei Schritte in den Raum neben dem Eingang trat.
Eine Liege sahen sie. Niedrige Bücherregale
rechts und links des Kopfendes. An der Wand gegenüber eine helle
Kommode. Am Fenster ein Tisch, zwei Korbsessel. Bezüge und Gardinen
aus grau-blau gestreiftem Stoff.
»Sieht aus, als könnte sie hier ihre …«
Patienten? Kunden? Schöbel suchte nach dem passenden Wort, »… ihre
Besucher behandelt haben.«
Weder Kästner noch Pieplow hatten Schöbels
Fragen nach Wandas Heilungsmethoden beantworten können.
»Irgendwas mit Handauflegen und Besprechen«,
hatte Kästner mehr geraten als gewusst. Er hatte immer nur mit
halbem Ohr zugehört, wenn es um Wandas Künste ging, denen er sich
um nichts in der Welt ausgeliefert hätte.
Marie würde mehr über Wanda wissen, ging es
Pieplow durch den Kopf. In all den Stunden am Bett der alten Fine
war nicht nur über Krankheit und Sterben gesprochen worden. Ganz
sicher nicht. Hin und wieder hatte er sogar leises Lachen durch die
Zimmertür gehört, obwohl Josefine Gau es sich nicht leicht gemacht
hatte. Ein langes Leben hindurch zupacken und dann loslassen müssen
fiel schwer. Dass es ganz am Ende doch gut war, hatte sie Wanda
Sieveking zu verdanken. Behauptete zumindest Marie.
Die Stufen knarzten, als Schöbel die steile
Treppe hinauf ins Dachgeschoss nahm, um sich auch dort nur flüchtig
umzusehen, bevor er rückwärts wieder hinabstieg.
Nach einem kurzen Blick in das winzige Bad
widmete er seine Aufmerksamkeit der Küche mit dem alten Spülstein
und den soliden Einbauten, an denen nur der taubenblaue Anstrich
neu war. Zwei Stühle, ein blank gescheuerter Holztisch mit einem
Strauß aus Wiesenblumen und Gräsern, ganz frisch, als sei er gerade
erst dorthin gestellt worden. Schöbel öffnete keinen Schrank, zog
keine Schublade auf. Hielt nur für einen Moment inne und ließ die
ruhige Ordnung auf sich wirken, in der Wanda Sieveking gelebt
hatte.
Alles an seinem Platz. Kein schmutziges
Geschirr. Kein Hinweis auf einen hastigen Aufbruch.
Auch im Schlafzimmer nicht, in dem ein Windspiel
aus Federn und kleinen Bernsteinen über dem Bett in leises Schweben
geriet, als Schöbel der angelehnten Tür einen Schubs gab, um sie
ganz zu öffnen. Sie gab den Blick frei auf einen sonnigen Raum.
Fast quadratisch und nur sparsam möbliert. Ein Wandbrett mit Haken
für den Bademantel und eine Wolljacke. Auf der Kommode schweres
elfenbeinfarbenes Waschgeschirr, darüber das Bild zweier
Engel.
Im Wohnzimmer ging durch eine breite
dreiflügelige Glastür der Blick auf Hochland und Wald, dem alles im
Raum zugewandt schien. Das helle Sofa mit dem niedrigen Tischchen,
auch Sessel und Hocker weiter hinten im Raum neben dem
Bücherregal.
Schöbel bewegte sich langsam weiter und nahm
konzentriert in Augenschein, womit Wanda Sieveking sich umgeben
hatte. Bücher, Bilder. Muscheln, Steine. Etwas abseits, im
schattenlosen Licht des einzigen Nordfensters, stand der
Schreibtisch, massiv und schwer wie kein anderes Möbel im Haus. Auf
der Schreibplatte ein Tongefäß mit Stiften und eine kleine Galerie
gerahmter Fotografien. Bernsteine in allen Formen und Farben. Die
schönsten klar und glänzend wie flüssiger Honig. In einer Schale
daneben die Utensilien, um daraus Schmuck zu machen –
Schleifpapier, Fadenrollen, Ösen, winzige Karabiner.
»Nirgendwo etwas, das nach Kalender aussieht.
Entweder sie hatte ein phänomenales Gedächtnis oder sie war ein
glücklicher Mensch ohne Termine«, sagte Schöbel und beugte sich
vor, um die Fotos zu betrachten.
»Ist sie das?« Er reichte Pieplow eines der
Bilder.
So wie Wanda darauf aussah, musste es etliche
Jahre alt sein. Ihr halblanges Haar war noch dunkel und nicht im
Nacken zusammengebunden, das Gesicht voller und glatter, als
Pieplow es kannte. Aber sonst … der gleiche aufmerksame, ein wenig
abwartend wirkende Blick, das gleiche Lächeln: warm und
zurückhaltend zugleich.
»Ich denke schon«, sagte er vorsichtig. »Oder
eine Frau, die ihr sehr ähnlich sieht. Vielleicht eine
Schwester?«
»Und die Kleine? Kennen Sie die?« Schöbel tippte
auf den Rand der Fotografie. Das Mädchen neben Wanda mochte zehn
oder elf sein. Sauber und ordentlich in weißer Bluse und
Trägerrock, der Pagenkopf blond und ordentlich gekämmt, wie es sich
gehört, wenn man vor wolkig marmorierter Papierwand für den
Fotografen posieren soll.
»Keine Ahnung.« Pieplow hob ratlos die
Schultern. »Sie hat nie erwähnt, dass sie Kinder hat. Jedenfalls
nicht mir gegenüber.«
»Wie steht’s mit Herrn Sieveking?«
Wieder musste Pieplow passen. »Kann sein, dass
es früher mal einen gegeben hat, aber hier hat sie allein
gelebt.«
Schöbel stellte das Foto zurück zu den anderen.
»Gehen Sie schon’ran«, brummte er, als Pieplows Telefon klingelte.
»Und dann machen Sie mal die Runde bei den Nachbarn, solange ich
mich hier umsehe. Vielleicht hat ja jemand etwas gehört oder
gesehen, was für uns interessant ist.«
Marie klang angespannt. »Daniel? Wo bist
du?«
»Das ist wohl …« Gedankenübertragung, wollte er
sagen.
»Was, um Himmels willen, ist denn passiert?«,
fiel sie ihm ins Wort. »Du glaubst gar nicht, was für furchtbare
Geschichten die Leute erzählen. Von zerstückelten …«
»Mama!«
Der Aufschub, den ihm Leonies Stimme aus dem
Hintergrund verschaffte, würde nicht reichen, um die richtige
Antwort zu finden. Marie zu belügen kam nicht in Frage. Zu sagen,
was er wusste, ebenso wenig. Erst mussten andere entscheiden, was
die Öffentlichkeit erfahren sollte. Solange würde es an den
Umschlagplätzen für Neuigkeiten wohl noch hoch hergehen.
Dabei ist die Wahrheit schon grausam genug,
dachte er. Zerstückelt! Was, zum Teufel, geht in den Köpfen von
Menschen vor, die es noch blutrünstiger machen, als es ohnehin
schon ist?
»Du kannst nichts sagen, oder?« Maries Stimme
klang jetzt tiefer. Nicht mehr ängstlich, eher bedrückt.
»Noch nicht, nein.«
»Aber es ist tatsächlich jemand ermordet
worden?«
»Wir wissen noch gar nichts, Marie. Erst wenn …«
Er brach ab. Der Polizistensatz vom Ergebnis der Obduktion wollte
ihm nicht über die Lippen. »Ich melde mich«, sagte er stattdessen.
»Sobald es geht. Versprochen.«
Vor dem Nachbarhaus türmte sich Gepäck. Koffer,
Taschen, eine Angelausrüstung. An der Hauswand lehnten Räder. Zwei
große, ein mittleres und ein kleines getigertes, auf dem sein
Besitzer seine liebe Mühe mit den Hiddenseer Sandpisten haben
würde. Vielleicht war für diese Umstände der hochlehnige Sitz auf
dem Gepäckträger des Herrenrades montiert.
»Willst du zu uns?« Der Dreikäsehoch, der
Pieplow neugierig musterte, war offenbar der Tigerbiker. Den
passenden Helm dazu trug er noch auf dem Kopf.
»Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht, wenn ihr
heute erst angekommen seid.« Das war zwar keine Erklärung dafür,
dass ein Polizist im Sommerhausgarten aufkreuzte, warf aber auch
keinen Schatten auf den ersten Urlaubstag.
Der Steppke nickte. »Grade eben.« Seine kleine
Hand schwebte mit gestreckten Fingern in langen Wellen durch die
Luft. »Mit dem Schiff!«
Es musste sich um eine Art Fluggleitboot
handeln, das Pieplow bisher auf dem Bodden entgangen war.
»Mama und Papa sind drinnen. Soll ich sie
holen?«
Pieplow winkte ab. »Nicht nötig. Ich seh’ ja,
dass alles in Ordnung ist.« Wer heute erst angekommen war, konnte
wohl kaum etwas über die vergangene Nacht aussagen. Er tippte erst
gegen den getigerten Helm, dann, fast vorschriftsmäßig, gegen den
eigenen Mützenschirm.
»Willkommen auf Hiddensee, junger Mann.«
Im Haus gegenüber hatte man sich schon
eingelebt. Ein Bobbycar lag seitwärts unter dem Flieder, auf der
Leine im Garten hing Wäsche im Größensortiment wie die Fahrräder
nebenan. Groß, mittel, klein, sehr klein sogar.
»Was ist passiert?« Die Frau musste ihn durch
das Küchenfenster gesehen haben. Sie trat in die Haustür, bevor
Pieplow entschieden hatte, wie er sich bemerkbar machen wollte.
Klopfen? Rufen? Eine Klingel gab es nicht. »Ist was mit den
Kindern?«
Immer dieselbe Frage, dachte Pieplow und
beruhigte die Frau. Mit ihren Kindern sei nichts passiert, mit
ihrem Mann auch nicht, der wahrscheinlich mit den Großen am Strand
war, während sie den Mittagsschlaf des Jüngsten bewachte und
nebenher aufräumte, abwusch, Wäsche aufhängte und was sonst noch zu
tun war, wenn man mit drei Kindern Urlaub machte.
»Gott sei Dank!« Sie legte die Hand mit dem
Ehering auf ihr üppiges Dekolleté über dem Herzen, das nun wieder
langsamer schlagen durfte.
Wandas Schicksal erschreckte sie weniger. Auch
wenn so ein Unfall, wie Pieplow ihn andeutete, natürlich furchtbar
war. Sie war zu erschöpft, zu übernächtigt, als dass sie viel
Interesse für das Unglück anderer Leute aufbringen konnte. Trotzdem
gab sie sich Mühe mit der Antwort auf Pieplows Fragen und
schüttelte erst nach einer kleinen Bedenkzeit den Kopf.
»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Ich hab aber,
ehrlich gesagt, auch nicht drauf geachtet. Wenn Sie jede Nacht
zwei, drei Mal hochmüssen, denken Sie nur noch an eins: Ich will
wieder ins Bett. Nichts hören, nichts sehen. Nur schlafen. Der
Kleine ist erst acht Wochen alt und alle vier Stunden hungrig. Sie
können sich ja denken, was das bedeutet.«
Pieplow nickte verständnisvoll wie ein
kinderreicher Leidensgenosse. »Und Ihr Mann? Könnte der etwas
bemerkt haben?«
»Wie denn?« Die Frage kam mit einem kleinen
Schnauben und wirkte fast zornig. »Der schläft wie ein Stein. Zu
Hause sowieso und hier erst recht. Den brauchen sie gar nicht zu
fragen.«
»Ich verstehe«, sagte Pieplow. »Sie waren in der
Nacht zwar mehrmals wach, haben aber nichts Ungewöhnliches
bemerkt?«
»Genau. Alles so friedlich, wie es sein sollte.
Hier und da mal ein Licht, ansonsten Dunkelheit und Stille.
Zumindest da draußen.« Ein kleines müdes Lächeln begleitete den
Gedanken an den Hungerrabatz ihres Jüngsten.
»Was meinen Sie damit: Hier und da mal ein
Licht? War das Haus gegenüber nicht leer?«
»Doch, ja. Die Urlauber dort sind gestern
abgereist und die Neuen packen ja grade erst aus, das sehen Sie
doch.«
»Das heißt, bei Frau Sieveking brannte
Licht?«
»Klar tat es das. So ein funzeliges wie von
Kerzen. Wenigstens als ich das erste Mal wach war. Später war’s
dunkel. Nicht so wie bei uns, wo die ganze Nacht irgendeine Lampe
brennen muss. Die alte Dame hatte schließlich keine Kinder, die
nachts herumwebern, oder?«
»Wann haben Sie denn das letzte Mal Licht dort
drüben gesehen?«
Sie überlegte. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich
weiß nur, dass ich beinahe im Sitzen eingeschlafen wäre, obwohl ich
schon mit den Hühnern ins Bett gegangen bin. Als ich das nächste
Mal aufstand, also etwa drei Stunden später, wurde es schon wieder
hell.« Die Frau warf einen kurzen Blick hinter sich ins Haus, wo
das Baby zu krähen begann. »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr
sagen kann. Die arme Frau. Wir kannten sie schon aus den letzten
beiden Jahren. Wobei kennen eigentlich zu viel gesagt ist. Aber sie
war nett, wissen Sie. Hat gleich gesehen, wie’s mir ging, als wir
hier ankamen, und mir die hier gebracht.« Sie berührte mit den
Fingerspitzen die Reihe glänzender Bernsteine, die sie an einem
feinen Draht um den Hals trug. »Als Geschenk zur Geburt von Max.
Sie hat gesagt, die Steine sind energetisch aufgeladen oder so.
Ganz verstanden hab ich’s nicht. Und darauf, dass sie mir
Gelassenheit und die Kräfte der Sonne bringen, warte ich auch
irgendwie noch.«
Baby Max schrie jetzt so vernehmlich, dass es
vermutlich ein Kilo energetischen Bernsteins brauchte, um gelassen
zu bleiben. Trotzdem lachte die Frau. Herzlich und mütterlich, wie
Pieplow fand und sich schnell noch Namen und Heimatadresse
notierte, bevor er Nora Schilling aus Apolda ihrem aufreibenden
Glück überließ.
Hinter der nächsten Tür blieb es still, als er
klopfte.
Kein Wunder, dachte Pieplow. An einem Tag wie
diesem wäre ich auch lieber am Strand. Oder ließe mir sonst wo den
Sommerwind um die Nase wehen.
Allerdings wäre hinter Rosenhecken verborgen auf
einer Decke im Gras die Liebste umschlingen auch nicht schlecht.
Damit nämlich waren die jungen Leute beschäftigt, die er
aufscheuchte, als er auf der Suche nach einem der Bewohner um die
winzige Kate herumging. Gehört oder gesehen hatten die beiden
nichts. Außer einander, was aber wohl nicht als ermittlungsrelevant
gelten konnte. Pieplow übersah geflissentlich alle sichtbaren
Zeichen von Erregung, bat um Entschuldigung für die Störung und zog
sich zurück.
Blieb das Sommerhaus gegenüber. Das letzte vor
der Kurve, hinter der es zum Hügelweg hinabging. Namensschild und
Klingel bewahrten Pieplow vor neuerlichen Peinlichkeiten. Armin und
Gesine Manthey. Die jungen Mantheys, wie man im Dorf sagte. Pieplow
war der Frau nur ein paar Mal begegnet, seit sie das Haus vor ein
paar Jahren geerbt hatten, das leer stand, wenn seine Besitzer es
nicht bewohnten und die Pflege des großen Gartens Manfred Graber
überließen. Pieplow drückte auf den Knopf.
Der Mittvierziger, der ihm öffnete, hatte sich
gut gehalten. Braungebrannt, groß, muskulös. Blätter einer
großformatigen Zeitung in der einen, Brille in der anderen Hand.
Leutselig und höflich mit einem Hauch Ironie, das war Pieplows
Eindruck.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Wachtmeister?«
Erstens war der Dienstgrad nicht korrekt und zweitens klang er so,
wie Manthey ihn aussprach, mehr nach Nachtwächter.
Es gehe, erläuterte Pieplow, um Wanda Sieveking,
die alte Dame aus dem Haus schräg gegenüber am Weg ins Hochland.
Sie sei heute Nacht an der Steilküste tödlich verunglückt. Und
darum, ob die Nachbarn vielleicht etwas bemerkt hätten, das
möglicherweise im Zusammenhang mit dem Sturz stehen könne.
»Das ist ja furchtbar!« Manthey war sichtlich
betroffen. »Wer war das, sagten Sie?«
Pieplow beschrieb Wanda, wie er sie in
Erinnerung hatte. Eine stattliche Siebzigjährige, die jünger
wirkte, als sie war. Graues Haar, meist weite, helle Kleidung. Hose
und Bluse. Seltener Kleider. Und ihr Weg hatte sie ganz gewiss des
Öfteren hier vorbeigeführt. Wenn sie zum Einkaufen wollte, zum
Beispiel. Oder in die Kirche. Zum Hafen.
Manthey machte ein nachdenkliches Gesicht. »Gut
möglich, dass wir ihr begegnet sind, aber dass ich jetzt konkret
wüsste, wer das ist, kann ich nicht sagen. Außerdem – als Zeugen
für einen Unfall oben an der Steilküste sind wir dann vielleicht
doch etwas weit weg, nicht wahr?« Manthey zog fragend die
Augenbrauen hoch.
»Stimmt«, räumte Pieplow ein. »Trotzdem wäre es
ja möglich, dass die Nachbarn etwas bemerkt haben, das für unsere
Ermittlungen von Bedeutung ist.«
Manthey hob bedauernd die Hand mit der Brille
und setzte sie bei der Gelegenheit auch gleich auf die Nase. »Tut
mir leid, dass ich in dieser traurigen Angelegenheit nicht
weiterhelfen kann.« Für ihn war es an der Zeit, sich wieder der
Lektüre zu widmen.