13
Drei Stunden später sollten ihn diese Ahnungen wieder beschäftigen, obwohl er ein leichtes Summen im Kopf und aufkommende Bettschwere spürte. Die verdankte er drei sauber gezapften Bieren im Wieseneck, wo er auf dem Rückweg eingekehrt war. Um die Scholle schwimmen zu lassen, wie es der Volksmund empfahl, der heute jedoch noch ganz andere Vorschläge als zur Verdauung von Fischgerichten gehabt hatte.
Den, zum Beispiel, die Ermittlungen zu beschleunigen. Sonst kam Wandas Mörder noch ungeschoren davon. Wusste man doch, dass die ersten achtundvierzig Stunden die entscheidenden waren. Danach wurden die Spuren kalt und kälter und nix war mehr mit Aufklärung.
Sagte Sigi, der Installateur, und erhielt kopfnickend gemurmelte Zustimmung.
So wie die Runde Hein B, der zur Unterscheidung vom leider abwesenden Hein A so genannt wurde, mit sehr sorgenvollen Gesichtern belohnte, weil er auf die Folgen eines ungesühnten Mordes hinwies. Sturmfluten, Unfälle, jede Menge rätselhafter Tode. Das mit dem ollen Niemann sei nur der Anfang gewesen.
Als Speedy, sonst immer hektisch und im Laufschritt unterwegs, mit Grabesruhe von den beiden schwarzen Schwänen berichtete, die am Bodden gesichtet worden waren und sicher von kommendem Unheil kündeten, reichte es Pieplow.
»Ihr habt sie doch nicht mehr alle! Ausgewachsene Männer, die solchen Humbug verzapfen – nicht zu fassen!« Er schüttelte ärgerlich den Kopf und leerte sein drittes Glas Bier mit einem Zug.
»Wenn ihr das für Humbug haltet, ist das eure Sache. Wir nehmen solche Zeichen auf jeden Fall ernst. Vielleicht wär’s besser, wenn du das auch tätest.« Hein B guckte schon ziemlich glasig, hatte eine feuchte Aussprache, aber klare Vorstellungen von gegnerischen Lagern. Hier die ahnungsvollen Hiddenseer, dort die blinde Polizei. Oder die doofen Darßer. Beziehungsweise beides in Personalunion, wie es bei Pieplow der Fall war.
Es hätte komisch sein können. War es aber nicht.
Weil niemand sich für das interessierte, was Pieplow zur Versachlichung beitragen wollte, und weil der Verdächtige für die meisten schon feststand.
Manfred Graber.
Nach der Sache mit Zorro trauten sie ihm alles zu. Auch einen Mord, um seine marode Hütte zu retten.
»Jetzt macht aber mal’n Punkt«, forderte Pieplow. »Das war eine Kneipenschlägerei und überhaupt kein Grund, ihm einen Mord anzuhängen.«
»Tja«, meinte Sigi. »Scheint, als wenn das mancher hier anders sieht.«
Am liebsten hätte Pieplow ihnen den Kopf gewaschen, gewissermaßen auf Hiddenseer Art. Bis die Seelen rein und einsichtsfähig waren. Aber er hielt sich zurück. Erkannte, dass er hier und jetzt nur dunes Krakeelen bewirken würde, und beschloss, den Abend allein zu verbringen.
Wie allein, wurde ihm klar, als auf dem Heimweg sein Telefon klingelte. Marie.
»Wir haben auf dich gewartet.« Sie klang trotzdem keineswegs enttäuscht. Auch nicht vorwurfsvoll.
»Waren wir denn verabredet?«
»Soweit ich weiß, nicht. Aber es gab Königsberger Klopse und irgendwie dachten wir wohl, du ahnst das und lässt dafür alles andere stehen und liegen.«
»Wie sollte ich denn...« Frauen konnten ihn sprachlos machen. Besonders wenn sie Einladungen zu Lieblingsessen telepathisch übermittelten.
Marie lachte.
Sie nimmt mich auf die Schippe, dachte er. Von wegen sehnsuchtsvolles Warten von Frau und Kind.
»Trotzdem wär’s schön gewesen, dich hierzuhaben.« Das hörte sich ernst an. Ernst und weich und ein wenig traurig. »Nur auf ein Bier und ein bisschen weniger allein sein. Das mit Wanda macht mir ziemlich zu schaffen. Ein bisschen Trost wäre nicht schlecht.«
»Aber es ist gleich zehn«, sagte er und schalt sich im selben Moment einen Idioten. Frauen trösten ging ja wohl spätabends genauso gut wie zu jeder anderen Tageszeit. Womöglich sogar besser.
»Ja, jetzt ist es zu spät«, stimmte Marie zu. »Aber wie wäre es morgen? Oder hast du... Ich weiß ja nicht... vielleicht hast du auch zu viel um die Ohren?«
»Nein, nein, das passt«, versicherte er schnell. Am Vormittag stand das Vorknöpfen von Flitzpiepen auf dem Dienstplan, am Nachmittag nichts. Und das würde hoffentlich auch so bleiben.
»Leonie möchte Fine besuchen. Sie würde sich freuen, wenn du mitkommst. Und ich auch.«
Fine besuchen hieß Friedhof und war nicht das, wonach Pieplow der Sinn stand. Aber was wollte man machen? Friedhof war besser als nichts.
»Klar komme ich mit. Gerne. Du brauchst nur zu sagen, wann.«
»Gegen drei vor der Kirche? Und hinterher vielleicht Eis und Kaffee am Hafen?«
»Das ist gut. Also morgen um drei vor der Kirche.«
»Bis dann. Schlaf gut, Daniel.«
»Du auch. Gute Nacht.«
Und zunächst deutete vieles darauf hin, dass es eine gute Nacht werden würde. Eine ohne Aufregung, fast langweilig. Mit reichlich gesundem Schlaf.
Als er sich in seinen Sessel an der Terrassentür setzte, war es noch nicht dunkel, obwohl die Sonne schon vor knapp einer Stunde untergegangen war. Genau um 20. 39 Uhr, wenn die SA- (6. 13) und SU-Angaben in Pieplows Kalender zutrafen, die er gern las, obwohl ihm bewusst war, wie gleichgültig sie ihm sein konnten. Es änderte schließlich nicht das Geringste an Tages- oder Nachtlänge, wenn er die Minute kannte, in der Sonne respektive Mond auf- oder untergingen. Trotzdem stellte er jedes Jahr wieder Berechnungen an, die Anlass zu tiefschürfenden Fragen waren.
Zum Beispiel: Wie lange würde es im Dezember um diese Zeit schon stockfinster sein? Fünf Stunden mindestens. Vielleicht sogar sechs.
Bei dieser Aussicht seufzte er melancholisch, griff nach der Bierflasche neben sich auf dem Boden und stellte sie gleich wieder ab. Das Summen in seinem Kopf signalisierte ihm, dass er genug intus hatte. Ein nächtlicher Einsatz, bei dem sicherer Gang und klare Artikulation ihre Vorteile hatten, war zwar unwahrscheinlich, aber auch nie ganz auszuschließen.
Pieplow legte seinen Notizkalender beiseite, den Kopf nach hinten an die Sessellehne und lauschte den Nachtgeräuschen in den Gärten ringsum.
Igel, die prusteten und schmatzten wie naschende Kinder.
Weiter entfernt ein Kauz.
Was raschelte und fauchte wie eine wütende Katze, musste ein Marder sein.
Hinter allem das gleichmäßige Rollen der Brandung.
Als Fledermäuse lautlos vorübersegelten, fielen Pieplow die schwarzen Schwäne ein, von denen vorhin die Rede gewesen war.
Vor seinem inneren Auge schwebten sie mit langsamem Schwingenschlag über Wasser und Schilfinseln.
Über Fritz Niemann, dessen starrer Blick ihnen nicht mehr folgen konnte.
Trauerschwäne.
Weil Wanda ihn geholt hatte, erzählten sich die Leute.
Dann hatte sie wohl auch just zur selben Stunde das Neuendorfer Kind auf die Welt geschubst? Eine Seele für die andere?
Und was hatte es mit seinem Traum auf sich?
Wenn er schon Spökenkiekerei betrieb, konnte er sich auch damit befassen.
»Es wird Zeit, dass du kommst«, hatte Wanda gesagt. Und auch, dass niemand sonst die mysteriöse Aufgabe erfüllen konnte, die sie ihm zugedacht hatte.
Wenn man es genau betrachtete, nicht nur sie.
»Jemand muss sich um sie kümmern, verstehen Sie?« Er hörte das Flehen in Anita Burgwalds spröder, erschöpfter Stimme wieder, die auch nicht verstummte, als in Pieplows Kopf sich ausgerechnet Kästner einmischte: »Du sollst um Mitternacht am Swanti sein... Weil Wanda dorthin kommt und dich zu ihrem Mörder führt.«
So ungefähr musste sich Schizophrenie anfühlen. Ein Chor von Stimmen im Kopf, die einem wer weiß was einreden wollten.
Pieplow griff nun doch nach seinem Bier, auch wenn Alkohol in diesem Zustand vielleicht nicht das Richtige war.
»Lange mache ich das nicht mehr mit«, verkündete er sich und seinen Stimmen. »Noch eine Flasche Bier und dann ist Ruhe im Karton. Ich bin müde, ich muss ausschlafen und gebe mich von Berufs wegen nicht mit Stimmen von Leuten ab, die nicht mal da oder sogar tot sind. Kein Polizist macht das. Schon deswegen nicht, weil er womöglich Berichte schreiben oder sonst wie Rede und Antwort stehen muss: ›Was hat Sie zu dieser Auffassung veranlasst, Obermeister Pieplow? Gab es Hinweise? Zeugen?‹«
Man stelle sich vor: Morgenlage im Bergener Kommissariat. Die ganze Mannschaft um den Tisch versammelt. Ausnahmsweise Inselkollege Pieplow mit von der Partie. Mit einem ausführlichen Bericht seiner Besprechungen mit diversen inneren Stimmen. Lebendigen und toten.
Allein der Gedanke daran erzeugte das Gefühl von Verlegenheitsröte auf Hals und Gesicht.
Zugeben zu müssen, er habe doch nicht schlafen können und sei deswegen »nur so« um Mitternacht auf dem Swanti gewesen, wäre ihm schon unangenehm genug. Was allerdings voraussetzte, irgendwas – oder irgendwer? – könnte ihn veranlassen, darüber zu berichten.
Davon war nun wirklich nicht auszugehen, beschwichtigte Pieplow sich, während er die Senkel seiner Schuhe fest und mit einem Doppelknoten zum Abschluss schnürte.
So weit kommt’s noch, Rechenschaft ablegen, warum man eine Nachtwanderung macht. Ich folge schließlich keinem Hinweis. Ich lasse mich treiben. Was ja wohl nicht als Polizeimaßnahme begründet werden muss.
Weshalb es ihn ausgerechnet heute und ausgerechnet zum Swanti trieb, erforschte er nicht eingehender. Oder tat wenigstens so, als interessiere ihn nicht, wer oder was ihn in die Nacht hinauslockte.
Obwohl er eigentlich nicht wusste, wozu, verstaute er die Taschenlampe in seiner Jacke. Im Dorf würde er sie nicht brauchen, wo genug Licht wie in milchigen Pfützen rund um die Laternenpfähle zwischen den Häusern lag. Und im Wald sickerte so viel Mondlicht durch die Baumkronen, dass Pieplow mühelos den Pfaden folgen konnte, die Wanda zwei Nächte zuvor gegangen sein musste.
Über den Hexenberg an borkigen Kiefern vorbei, die stramm und pfeilgerade dem Himmel zustrebten, anstatt sich knorrig und krumm dem ewigen Wind zu beugen wie die armen Verwandten am Rand des Hochufers. Zwischen den glatten Säulen gigantischer Buchen und den Wracks ihrer entwurzelten Brüder hindurch, die wie sterbende Riesen ihre zersplitterten Arme schwarz und steif ins Mondlicht reckten. Am Windbruch entlang, wo Flechten wie dürres Altfrauenhaar über tote Zweige herabhingen.
Über allem wie modrig warmer Atem die sanft bewegte Luft des Nachtwalds.
Pieplow atmete tief. Um den Schauer zu vertreiben, den der dunkle Zauber ihm über den Rücken laufen ließ. Um die Stille in sich hineinzusaugen. Und wohl auch, um sich von einer Beklemmung zu befreien, gegen die er sich wehrlos fühlte.
Sie verflog, als er hinter dem Klausner in die offene Landschaft trat.
Keine Häuser, kein Wald. Nur fahles Licht, in dem die Hügel des Hochlands schwammen, und die gleichmäßige Kennung des Leuchtturms kilometerweit über Land und Meer.
Hier kam Pieplow schneller voran. Er schritt zügig aus, und als er den steilen Aufstieg zum Swanti erreichte, war ihm so warm, dass er die Jacke auszog und sie mit den Ärmeln um seinen Bauch knotete.
Im Sanddorngestrüpp hingen Reste von Flatterband. Sonst deutete nichts darauf hin, dass er sich einem Tatort näherte. Und doch zuckte er zusammen, als über ihm, irgendwo im Buschpelz des Swantirückens, plötzlich ein Vogel schrie.
Auf einem kleinen Plateau hielt er inne. Lauschte und hörte nichts als das Fauchen eines nächtlichen Jägers, dessen Beute noch andere Opfer gewarnt hatte, bevor sie ihm durch die Lappen geflattert war.
Unwillkürlich musste Pieplow lächeln. Über den cleveren Beutevogel und über seinen eigenen Kinderschrecken.
Er wandte sich nach links, dem Pfad zu, der sich zwischen verfilztes Buschwerk senkte, bevor er aufstieg und den Blick freigab auf den Platz, an dem Wanda gestorben war.
Oder, genauer gesagt, an dem ein Unglück begonnen hatte, dessen Hergang niemand kannte.
Außer dem Täter. Vorausgesetzt, es gab ihn.
Pieplow machte einen Schritt auf die Kliffkante zu.
Dort musste Wanda gestanden haben. Er sah sie vor sich in ihrer hellen Hose und der talarweiten Bluse. Die Arme ausgebreitet, als wolle sie ihn segnen. Oder warnen.
Wovor?
Ihr näher zu kommen? Sie vor sich herzutreiben? Auf die Kliffkante zu und in die Tiefe.
Pieplow wich zurück. Kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf, um das Trugbild zu vertreiben. Sein Herz trommelte und in seinen Ohren rauschte die Ahnung von Gefahr.
Das Knacken trockener Zweige kam von der Seite. Sehr laut in der Stille und sehr massiv. Als bräche ein Bär durch das dürre Strauchwerk links von ihm. Groß und schwarz. Mit einem kehligen Laut, den Pieplow noch hörte, bevor er zu Boden ging und den Knall noch spürte, mit dem sein Hinterkopf aufschlug.
 
Ein rhythmisches Klatschen holte ihn aus der Dunkelheit zurück. Schnell und fest traf es sein Gesicht. Rechts. Links. Rechts. Links.
Pieplow stöhnte.
»Scheiße, Mann, Scheiße! Wach auf, Alter! Na, los, mach schon. Oh, Scheiße, verdammt!«
Als Pieplow die Augen öffnete, hörte das Klatschen auf. Das Fluchen nicht.
»Zur Hölle, Mann, Scheiße. Tut mir echt leid. Aber ich dachte...«
»Halt doch bloß mal die Klappe!« Pieplow wollte nicht wissen, was Dennis Zorowski dachte. Jedenfalls nicht sofort. Erst wollte er zu sich kommen und abklären, ob sein Kopf so weit in Ordnung war, dass er ein Gespräch mit Zorro aushielt. Dennis Zorowski, polizeibekannt seit seiner Schulzeit. Die lag, Pi mal Daumen, gut zwanzig Jahre zurück und hatte bereits damals erste Verwilderungstendenzen erkennen lassen. Pausenhofschlägereien, Sachbeschädigung, Trunkenheitsdelikte schon vor der Jugendweihe. Was man so machte außer nichts.
Lieblingsfarbe Schwarz, und, nomen est omen, immer bereit, sich für den Rächer aller Enterbten zu halten. Zorro. Nicht nur die Eltern waren erleichtert, als er seine erste Heuer bekam und es in den Jahren danach immerhin bis zum Bootsmann brachte.
Warum und wieso er abgemustert hatte, wusste niemand genau. Zwei oder drei Jahre musste das her sein. Seitdem lungerte er auf der Insel herum, war immer auf Krawall gebürstet und für jeden Raufhandel zu haben.
Pieplow kramte die Taschenlampe hervor und beleuchtete seine Fingerspitzen. Kein Blut. Immerhin. Er legte Zeige- und Mittelfinger wieder auf die Stelle seines Hinterkopfs, die zu einer eiförmigen Wölbung schwoll, und musterte Zorro, wie er neben ihm hockte. Die muskulösen Arme mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt, der bullige Oberkörper schuldbewusst vornübergebeugt.
»Tut mir echt leid, Sheriff!«
Wer das R in ›Sheriff‹ so rollen ließ wie Zorro, sollte sich tatsächlich nicht als anonymer Tippgeber betätigen.
»Hör auf mit diesem dämlichen ›Sheriff‹!«
»Alles klar, She... Chef.« Zorro bekam gerade noch die Anredekurve und klang zerknirscht.
»Jetzt sag schon, was du dir bei dieser Aktion gedacht hast. Wir hätten beide über den Jordan gehen können. Ist dir das eigentlich klar?«
»Klar ist mir das klar. Aber woher sollte ich denn wissen, dass du dich hier mitten in der Nacht herumtreibst?«
»Ich treibe mich nicht herum. Ich überprüfe etwas.«
»Ach, und was, wenn ich fragen darf?«
»Es geht dich zwar überhaupt nichts an, aber gut – die Lichtverhältnisse zur Zeit des Unfalls.« Pieplow hatte schon lange nicht mehr mit so viel Vergnügen gelogen.
»Du meinst Wanda, oder?«, vergewisserte sich Zorro.
»Natürlich. Wen denn sonst?«
»Das war kein Unfall. Das war Mord.«
Gewiss doch, dachte Pieplow. Warum sollte ausgerechnet Zorro etwas anderes behaupten als seine Zechkumpane. Andererseits... fragen kostete nichts: »Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß es eben.«
»Verrätst du vielleicht auch, woher?«
»Na ja... also«, druckste Zorro. Er sah sich um, als könne es ungebetene Zuhörer geben. »Sie hat’s mir gesagt.«
»Wanda?«, fragte Pieplow erstaunt. Mit wem, zum Kuckuck, hatte die tote Wanda noch gesprochen?
»Du brauchst gar nicht so blöd zu fragen«, beschwerte sich Zorro. Seine zigarettenraue Stimme nahm hörbar übel. »Steh du mal mitten in der Nacht einer Toten gegenüber und die erzählt dir was von Sühne und so’n Zeug. Das kann dich kirre machen, auch wenn du schläfst.«
Allerdings, dachte Pieplow und wunderte sich kaum noch, dass sie beide hier saßen. Der Dorfrüpel und sein Polizist. Was noch lange nicht hieß, dass der Rüpel rauchen durfte.
»Steck das sofort wieder weg! Oder willst du uns jetzt abfackeln, wo du uns schon nicht über die Klippe schmeißen konntest?«
Wortlos versenkte Zorro Tabak und Blättchen wieder im schwarzen Sweatshirt.
»Es gehört schon einiges dazu, mich mit Manfred zu verwechseln.« Mit den Händen deutete Pieplow schrankbreite Schultern an.
Es war nichts als eine Vermutung, dass Zorros Aktion etwas mit Manfred Graber zu tun hatte. Aber so, wie Zorro herumfuhr und ihn anstaunte, hatte Pieplow damit voll ins Schwarze getroffen.
»Wie kommst du denn da drauf?«
»Du machst aus deinem Herzen nicht grade eine Mördergrube. Und Manfred hast du eiskalt hingehängt. Erst im Wieseneck und dann bei der Kripo. Ohne den kleinsten Beweis, nur weil du ihn nicht ausstehen kannst.« Pieplow schüttelte missbilligend den Kopf. Sehr missbilligend.
»Das kannst du gar nicht wissen. Das war anonym«, gab Zorro sein Denunziantenwissen preis.
»Im Wieseneck schon mal sowieso nicht. Und bei der Kripo nützt es nur bedingt etwas, seinen Namen nicht zu nennen. Die haben da so ihre Methoden. Wir übrigens auch. Einmal hingehört und schon hatten wir dich erkannt.« Mit flatternder Zungenspitze demonstrierte Pieplow den entscheidenden Hinweis. Zorrrro.
»Scheiße.«
»Könnte man sagen. Sei froh, wenn das kein Nachspiel hat.«
»Aber er war’s«, beharrte Zorro. »Und wenn du er gewesen wärst, hätte ich dich frikassiert.«
Pieplow brauchte eine Sekunde, bis er der Aussagelogik folgen konnte.
»Wusste ich’s doch. Du hast hier auf der Lauer gelegen und auf Manfred Graber gewartet.«
Nachdrückliches Nicken. Genau.
»Aber warum sollte er hierherkommen?«
»Weil sie ihn schickt, natürlich.«
Logisch. Im Inneren des mystischen Gebäudes, durch das sie gerade streiften, war das logisch. Aber draußen blies der raue Wind des Faktischen, in dem Traumbotschaften nichts nutzten. Gar nichts. Da zählten ausschließlich Beweise. Handfest und überprüfbar.
Etwas mühsam kam Pieplow auf die Beine. Unter der Anstrengung schmerzte die Beule an seinem Kopf heftiger und brachte ihn auf eine Idee.
»Zorro, ich schlage dir einen Deal vor. Über unseren Zusammenstoß heute Nacht hältst du dicht. Und zwar absolut. Und du hörst auf, Manfred Graber nachzustellen. Genauso absolut. Klappt das, sage ich auch nichts. Klappt das nicht, sorge ich dafür, dass du vor den Kadi kommst. Wegen Körperverletzung«, Pieplow deutete auf seinen Hinterkopf, »wegen Widerstandes gegen einen Vollstreckungsbeamten und wegen übler Nachrede zum Nachteil von Manfred Graber. Hast du mich verstanden?«
»Muss ich ja wohl.«
»Ich will ein klares Ja!«
»Ja, doch: Ja!« Zorro machte sich nicht die Mühe, die Reste des Grases, in dem er sich mit dem Vollstreckungsbeamten gewälzt hatte, von Sweatshirt und Hose zu zupfen. Wortlos stapfte er hinter Pieplow her den Pfad vom Swanti hinunter in den Honiggrund.
»Kann ich jetzt rauchen?«
»Nein. Ist genauso verboten wie da oben, das weißt du doch. Aber du kannst mir erklären, warum du dich so für Wanda ins Zeug legst. Das habe ich nämlich bis jetzt nicht verstanden.«
Zorro zierte sich. Da gäb’s nicht zu verstehen, behauptete er. Auch für jeden anderen würde er sich so reinhängen, wenn’s um die Gerechtigkeit ginge. Und Wanda sei nun mal eine ganz besondere Frau gewesen. Eine, die tief drinnen in den Menschen die Wahrheit sah. Eine Wahrseherin sozusagen und...
»Hör auf mit dem Geschwurbel, Zorro. Komm zur Sache. Was hast du mit Wanda zu tun gehabt?« Pieplow blieb stehen und senkte einen forschenden Blick in Zorros Augen unter der schwarzen Kapuze. »Ich warte.«
»Aber nur, wenn du dichthältst. Kein Sterbenswort zu niemand«, forderte Zorro. Als könnte es auch dort unliebsame Zuhörer geben, wanderte sein Blick zu den Fensterreihen des alten Leuchtturmwärterhauses, vor dessen Zaun sie standen. Alles dunkel.
»Ich kann nichts verschweigen, was für die Ermittlungen wichtig ist«, stellte Pieplow klar.
»Ist es nicht. Versprochen.«
»Dann leg los.«
Zorro holte tief Luft und legte los. Erst stockend, dann flüssiger und ausführlicher, als es Pieplow gefiel, dessen Miene sich dann und wann mit deutlichen Zeichen von Ekel verzog.
Würmer. Solche, die in Lunge und Leber sitzen, in Milz, Magen und Herz wandern. Deren Eier über das Blut durch den Körper geschwemmt werden und Geschwüre bilden, wo sie sich einkapseln. Die eine höckrige, schrundige Leber, blutarm und impotent machen. Impotent! Das setzte Zorro noch heute mehr zu als die Angst, es könnten sich in den Höhlen und Schluchten seines Körpers noch Schistosomen finden.
Mit diesem Namen, fand Zorro, ging’s doch schon los. Selbst die erbsengroße Phantasie seiner Kumpel reichte aus, um sich darunter das Abartigste vorzustellen.
Nein, die durften nichts davon wissen. Nie im Leben. Die würden, blöd wie sie waren, ihm doch nicht mal mehr die Hand geben. Obwohl da wirklich nichts mehr war. Keine Eier, keine Würmer. Nichts.
Das hatte er Wanda zu verdanken.
Zu ihr war er gegangen, als nichts mehr half. All die Pillen und Tropfen nicht, die ihm die Quacksalber verordnet hatten, bei denen er gewesen war. Gegen Fieber und Durchfall, gegen Kopfschmerzen, Husten, Übelkeit. Mal dies, mal das. Mal mehr, mal weniger. Wochenlang.
Und Wanda?
Sie hatte ihn nicht mal berührt. War nur mit den Händen in der Luft die Konturen seines Körpers nachgefahren und hatte ihm in die Augen gesehen. Dann wusste sie, wo er gewesen war und was er von dort mitgebracht hatte.
Manila.
Seine letzte Heuer. Container von Hamburg nach Manila und zurück. Viermal war er die Route schon gefahren, die ein paar Hunderter mehr brachte als andere. So lange, bis irgendwas mit dem Zoll war, über das der Käpt’n sich ausschwieg. Statt Ladung löschen gab’s fünf Tage Landgang. Über die Märkte, auf denen er aß, was ihm schmeckte. In die Bars und Bordelle der Burgos Street, in denen Zorro die Sau rausließ. Rauchen, Saufen und dann in jedem Arm ein Mädchen, für die seine letzten Penunsen draufgingen, bis er nicht mehr wusste, wo überall in dieser heißen, nassen Stadt er gewesen war.
Wer kümmert sich in solchen Nächten um so was Albernes wie winzige Schnecken und Hautausschlag am Bein, der nach ein paar Tagen von ganz allein verschwindet, und ahnt, dass ihm dort diese winzigen, glitschigen Dinger ihre ekelhafte Fracht aufgeladen haben.
Wanda hatte ihn nur angesehen und alles gewusst.
Na, gut, das mit dem Zoll und den Mädchen nicht. Aber sonst...
Eine Woche später war er wieder gesund.
Für ihn ein Wunder, das er Wanda verdankte. Hätte sie ihn nicht ins Tropenkrankenhaus geschickt – sofort! – hätte er heute wohl eine Schrumpfleber und einen schlaffen Schwanz. Oder Würmer in den Augenhöhlen.
Als Pieplow um Viertel vor zwei seine Haustür hinter sich schloss, hatte er das dringende Bedürfnis zu duschen. Dabei spielten Sand und Gras vom Swanti eine deutlich geringere Rolle als der Gedanke an philippinische Schnecken und Würmer, denen die Pharmazie hoffentlich tatsächlich den Garaus gemacht hatte.
Er blieb so lange unter dem warmen, sauberen Strahl garantiert wurmfreien Wassers, dass es auf halb drei zuging, bis er endlich ins Bett kam. Die Hände so hinter dem Kopf verschränkt, dass sie nicht auf die mittlerweile fast hühnereigroße Beule drückten, starrte er in die Dunkelheit und fasste zusammen, was ihm die letzten Stunden gebracht hatten.
Reichlich wenig, wenn er Schlafmangel, einen dicken Bruusch am Kopf und Kenntnis von Zorros Abenteuern nicht rechnete. Darum war es ihm schließlich nicht gegangen, als er sich zum Swanti aufgemacht hatte.
Das kommt davon, wenn man auf innere Stimmen hört, warf er sich vor. Wer so verrückt ist, dem geschieht es nur recht, wenn nicht mehr dabei herauskommt, als eine überflüssige Begegnung mit Dennis Zorowski.
Irgendetwas stimmte in dieser Bilanz nicht. Das war zwar wieder mehr Gefühl als Erkenntnis, ließ sich aber nicht abschütteln. Eine Weile grübelte Pieplow noch ergebnislos darauf herum, dann fielen ihm die Augen zu. Bevor er endgültig schlief, kam ihm doch noch in den Sinn, worüber er nachdenken wollte.
Darüber, was es bedeutete, dass Wanda eine Wahrseherin gewesen sein sollte. Eine, die tief drinnen im Menschen die Wahrheit sah. Der vielleicht zum Verhängnis geworden war, was sie gesehen hatte.
Fragte sich nur, bei wem.