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Fahlweißes Licht zuckte von weither im Norden
über den Himmel. Ergoss sich in das Nachtblau über der Insel und
verrann hinter dem Horizont.
Eine stumme Fanfare aus einer anderen
Welt.
Einem hellen quiekenden Pfeifen im Liguster
unter dem Fenster folgte ein hastiges Rascheln, als gäbe es etwas
in Sicherheit zu bringen. Sich selbst. Die Brut. Oder die Ausbeute
einer listigen Jagd im grauen Sand unter der Hecke.
Wanda hält sich nicht damit auf, nach dem Jäger
und Pfeifer zu suchen. Sie hat Wichtigeres zu tun in den wenigen
Stunden bis Sonnenaufgang.
Sie kommt nicht allein. Aber die sie begleiten,
bleiben ein paar Schritte hinter ihr. Wie Wachen, die ihr jederzeit
zu Diensten stehen. Als bräuchte es nur einen Gedanken, damit der
im blassgelben Umhang Licht ins Dunkel bringt oder das leuchtende
Schwert des anderen sie vor jeder Gefahr bewahrt.
Harri lässt die beiden nicht aus den
Augen.
Gekrümmt, mit fast bis zum Kinn hochgezogenen
Knien bleibt er auf der Seite liegen. Er wartet darauf, dass sie
verschwinden. Dass er die Täuschung erkennt wie bei einer Fata
Morgana. Einer unwirklichen Spiegelung von Mut und Kraft über dem
Meer von Trostlosigkeit, in dem er unterzugehen droht.
Ein Schluchzen steigt aus seiner Brust, die ganz
eng ist und schmerzt wie entzündet. Seine Augen sind rot und
geschwollen vom Weinen. Den ganzen Abend hat er geweint. Hat
einfach nicht aufhören können, bis er darüber eingeschlafen sein
muss. Sein Kissen ist noch immer ganz feucht. Er spürt es, als er
die Hand unter die Wange schiebt.
Wanda tritt an sein Bett. Er weiß es, ohne dass
er die Augen öffnet. Sie beugt sich über ihn und streicht ihm mit
den Fingerspitzen ganz leicht über den Kopf. Von der Stirn durch
die Haare über dem Ohr bis in den Nacken und wieder von vorn.
Stirn, Haare, Nacken. So lange, bis seine Brust wieder weit und
sein Atem gleichmäßig wird. Aber die Augen zu öffnen, wagt er immer
noch nicht. Zu groß ist die Angst, ihr Gesicht nicht zu
erkennen.
Tierfraß.
Ihm wird übel, sobald das Wort in seinen Kopf
kommt. Es verschwindet wieder, als Wandas Hand über seinen Rücken
fährt. Vom Hals bis zu den Pobacken. Sogar die sind verkrampft, das
merkt er, als er die Schultern loslassen und die Beine ausstrecken
kann.
Ganz leicht wird ihm jetzt.
Dort, wo eben noch wie eine schleimige Kröte die
Übelkeit saß, wärmt ihn jetzt ein dotterblumengelber Ball, und er
sieht mit geschlossenen Augen Wandas Gesicht. Es ist jünger, als er
es kennt, aber heil und ganz und freundlich wie eh und je. Vor
Erleichterung lösen sich Tränen unter seinen Lidern. Bevor sie über
die Schläfen ins Haar rinnen, wischt Wanda sie fort.
Sie spricht nicht. Und doch hört er ihre Stimme.
Sie ist mitten in seinem Kopf, genau zwischen den Ohren, und er
weiß, dass es wichtig ist, was sie ihm sagt. Die Anstrengung, sie
zu verstehen, macht eine weiche Furche in seiner Stirn.
Sie gibt ihm einen Auftrag. Einen, der vom
Gestern ins Morgen reicht. Bei dem es darauf ankommt, dass er die
Augen aufmacht.
Er kann nicht.
Du musst, mahnt die Stimme. Du musst mir helfen.
Mir und dir und den anderen Seelen, die sich auf dich verlassen.
Mehr als du ahnst. Deshalb sieh hin. Ganz genau und hör auf deine
Angst. Du kannst ihr vertrauen, aber halt sie im Zaum, damit du
verstehst, was sie dir sagen will.
Die Stimme schweigt. Stumm wartet sie, bis er
nickt. Langsam wie in Hypnose geht sein Kopf drei Mal auf und ab,
bevor er die Augen öffnet. Er will Wanda ansehen, wenn er zu tun
verspricht, was sie ihm aufträgt.
Sie ist nicht mehr da.
Er spürt noch ihre Hände in seinem Haar, aber
sie ist schon gegangen.
Nur kurz sieht er noch den Saum eines
blassgelben Umhangs durch das Fenster hinaus in die Nacht
gleiten.
Ein heiseres, gleichgültiges Fauchen drang aus
der Baumkrone hinter dem Haus, als ein Reisig unter dem Gewicht des
Schattenwesens knackte, das darüber hinwegschlich.
Katze, Igel, Fuchs.
Zu pelzig, zu stachelig, zu groß, als dass der
Nachträuber im Geäst auch nur einen Blick darauf werfen würde. Doch
nach dem Rascheln und Fiepen im Gras auf der anderen Seite drehte
er lautlos den Kopf. Er spannte die Flügel und schwebte unhörbar zu
Boden.
Verloren im Dickicht der Halme und todgeweiht,
blieb seinem spitznasigen Opfer nur ein letzter verzweifelter
Schrei, bevor sich dolchscharfe Krallen durch Fell und Fleisch
bohrten. Ein paar Mal flappen noch die Schwingen des Jägers, dann
ist es totenstill und Wiese und Baum liegen wieder im Mondlicht wie
unter einem kalten milchweißen Schleier.
Es ist die Stunde, in der die Dämonen kommen,
sich auf die Bettkante setzen und warten.
Daniel Pieplow weiß, dass er jetzt diese Treppe
hinaufmuss. Stufe für Stufe. Endlos, wie ihm scheint, bis sein Herz
rast und er nicht weiß, ob vor Anstrengung oder vor Angst. Er darf
nicht stehen bleiben, nicht Luft holen. Er muss weiter. Es ist
seine Pflicht und niemand sonst könnte tun, was getan werden muss.
Aber er zögert zu lange. Weil er nicht weiß, was er tun soll. Weil
etwas in ihm sich weigert, auch nur einen Schritt weiterzugehen,
bevor es zu spät ist. Bevor die Frau das Messer im Leib hat, aus
dem ihr Blut schneller quillt, als Pieplow es je für möglich
gehalten hatte. Bevor er mit der Waffe in der Hand auf einen Mann
starrt, der mit ausdruckslosem Gesicht zusieht, wie alles sich rot
färbt. Der schäbige Teppich, Pieplows Hand, als er sie auf die
Wunde presst, sein Hemd, seine Hose.
Pieplows Atem geht hektisch und flach. Ihn
überflutet eine solche Schwäche, dass er nichts anderes wahrnimmt
als die nächste ausgetretene Stufe vor seinen Füßen. Deswegen merkt
er erst kurz vor dem Ziel, dass etwas anders ist als sonst. Dass im
Stiegenhaus nicht der stockige Mief von Schimmel und billigem Essen
hängt, in den sich gleich ein rostiger Blutgeruch mischen
wird.
Erst als er die letzte Kehre der Treppe hinter
sich hat, als es nur noch geradeaus nach oben geht, erkennt er,
dass er sich auf den freien Himmel zubewegt. Tausende von Sternen
sieht er. Einen kalten, vollen Mond, dessen totes Licht über das
reglose Meer fließt.
Eben noch drohte sein Herz zu zerspringen. Jetzt
steht es einen Wimpernschlag lang still. So still wie Himmel und
Meer. So still wie das Gras, in dem er keinen Schritt mehr machen
kann, weil jemand die Welt angehalten hat.
Wanda.
Er sieht sie erst, als er das vertraute Pochen
in seiner Brust wieder spürt. Als ein leichter Windhauch das Wasser
kräuselt und über die Gräser streicht, bis sie sich leise
wiegen.
Es wird Zeit, dass du kommst.
Pieplow fühlt mehr, als dass er hört, was Wanda
sagt. Er blinzelt, weil der Lichtschein ihn blendet, in den sie
gehüllt ist. Sie steht so nah am Kliffrand, dass er die Arme
ausstreckt, um sie zu halten. Erschrocken weicht er zurück, als er
sieht, dass er sie damit auf den Abgrund zutreibt.
Es wird Zeit, dass du kommst, sagt sie noch
einmal. Es ist deine Aufgabe, und niemand kann sie dir abnehmen.
Niemand sonst kann sie erfüllen. Nur du.
Das bleiche stumme Flackern am Himmel verebbte
in der ersten Ahnung von Morgenlicht, als Pieplow erwachte. Er
verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah hinüber zum
Fenster.
Wetterleuchten, stellte er fest und nahm das als
Erklärung für die verwirrende Änderung seines furchtbarsten
Traums.
In den stacheligen Zweigen des Sanddorns,
zwischen silbrigen Blättern und orange leuchtenden Früchten
verborgen, schlug der Sprosser seine dritte Strophe an. Nach der
melancholisch klagenden des ersten Morgengrauens, nach dem Schmelz
glücklicher Zaubertöne zum Purpur der frühen Himmelsröte
schmetterte er jetzt seine Fröhlichkeit in den Morgen. Ein junges
Männchen aus der diesjährigen Brut. Laut und schön, aber noch nicht
perfekt. Erst im nächsten Jahr, im Rausch des Frühlings, würde es
zeigen, was in ihm steckte. Im Kampf und in der Liebe. Aus voller
Brust. Unermüdlich.
Über Fritz Niemanns Gesicht huscht ein halbes
Lächeln. Schief und ungeübt verzieht es den alten, runzeligen Mund,
in dem nur im Schlaf keine Pfeife klemmt.
Gefühlsduselige Grinserei liegt ihm nicht. Noch
weniger als das Reden. Aber jetzt lächelt er. Er kann nicht anders.
Wanda verwandelt ihn. Er sieht ihr Gesicht über sich, die
sonnenbraune Haut mit dem Hauch feiner Härchen. Da ist der Druck
ihres Körpers auf seinem, ihr ganz eigener Duft nach Seife und
Rosen. Sie schmiegt sich an ihn und flüstert Albernes.
Fischers Fritz fischt frische Fische...
Aale, Wanda. Keine Fische. Er lacht, weil ihr
Mund so nah an seinem Ohr ist, dass es kitzelt.
Er ist nicht mehr jung. Zweiundfünfzig, um es
genau zu sagen. Für die Jüngeren an Bord der Swantje längst der olle Niemann.
Für Wanda nicht. Für sie ist er ruhig und stark.
Leidenschaftlich und sanft mit seinen Fischerpranken auf ihrem
glatten, festen Körper, der sich windet und dreht vor Lust, wenn
sie sich lieben. So wie jetzt.
Er atmet schwer. Er möchte sich auflösen in dem
Gefühl, alles erlebt zu haben, was ein Mann erleben kann. Auf See
und in der Liebe.
Und plötzlich weiß er, dass er den jungen
Sprosser draußen vorm Fenster nur noch diesmal hört. Dieses eine
letzte Mal.
Mit diesen Gedanken schlug Fritz Niemann die
Augen auf. Er lauschte, wie in der letzten Strophe die Töne an
Kraft und Fülle gewannen, um schließlich mit einem Wirbel heller
Glockentöne zu enden.
Er lag ganz still. Er spürte Wanda noch über
sich. Er roch ihren Duft und konnte unter seiner krumpeligen,
schwieligen Hand sogar die Lust noch fühlen, für die es keine
Erfüllung mehr gegeben hatte. Stark und glatt ragte sie aus dem
grauweiß gestreiften Pyjamastoff.
Donnerwetter, dachte der olle Niemann und
wartete zufrieden auf die Flaute, in der die Pracht ihre Segel
strich. Dann schwang er die Beine aus dem Bett und angelte mit
nackten Füßen nach seinen Pantoffeln.
Viertel nach sechs. Gleich würde der Wecker
klingeln und das Tagwerk in der Pension einläuten. Normalerweise
blieb er noch eine Stunde im Bett und überließ den Frauen die
Frühschicht. Brötchen holen, Kaffee kochen, Wurst, Butter, Käse auf
die gedeckten Tische. Weiberkram eben.
Heute wollte er davon nichts hören.
Heute zog es ihn an den Bodden. Zu seiner
Aal-Bucht, in der man nachts ab und zu nach dem Rechten sehen
musste. Besonders in Sommernächten, wenn, verborgen im hohen Gras,
eine Frau wartet, die zaubern kann.