7
Mit einem flachen Bogen über Backbord glitt das
Motorboot aus dem Hafen. Pieplow wartete, bis es den offenen Bodden
erreichte. Es brachte Schöbel zurück nach Rügen. Zur zweiten
Schicht am Schreibtisch, wie er sich ausgedrückt hatte, bevor er
das Wassertaxi bestieg und »Ich melde mich!« zu Pieplow
hinüberrief, als der Bootsmotor ansprang.
Pieplow genoss die Ruhe im Vitter Hafen. Vor
einer halben Stunde war für heute die letzte Fähre ausgelaufen.
Rechts lagen die Segler fest für die Nacht vertäut. Auf den Kuttern
im großen Hafenbecken hingen die Reusenfahnen schlaff in der
abendlichen Windstille. Sogar das Wasser schien erschöpft. Lustlos
und träge schwappte es gegen die Kaimauern und ließ zwischen ölig
glänzenden Schlieren Möwen auf seinem Rücken dümpeln.
Pieplow konnte gemächlich über den Wallweg
schlendern. Die Menschen, die tagsüber hier für dichtes Gedränge
sorgten, hatten abends Besseres zu tun, als an den geschlossenen
Geschäften entlangzuflanieren. Auf dem Seedeich den Sonnenuntergang
erwarten, zum Beispiel. Ins Konzert gehen, ins Kino. Oder sich im
Figurentheater von Störtebeker und seinen Mannen entführen lassen.
Die Anzahl der Fahrräder vor der Seebühne
ließ auf eine ausverkaufte Vorstellung schließen.
Ob die Zuschauer wussten, dass sie Platz nahmen,
wo einst der Streifenwagen der Volkspolizei untergestellt war? Wohl
kaum, vermutete Pieplow, der die Nutzungsänderung der Garage für
eine gute Idee hielt.
Von Vittes lebhaftester Kreuzung aus, wo vier
der sieben autofreien Dorfstraßen aufeinandertrafen, sah er, dass
auf der Seeseite der Tag unter einem dramatischen Himmel zur Neige
ging. Quellwolken glühten im windstillen Blau über den Strahlen der
sinkenden Sonne. Hell violett und lavarot schien der Himmel zu
brennen und weckte Erinnerungen an Kindergedanken. An die bange
Erwartung, es müsse, sobald der Feuerball die Wasserfläche
berührte, ein urgewaltiges Brodeln und Zischen aufsieden. An das
Schwanken zwischen Bedauern und Erleichterung über die lautlose
Ruhe, mit der die Sonne schließlich am Rand der Welt versank.
Noch ließ ihr Licht die kalkweißen Wände der
Häuser am Süderende in zartem Rosa schimmern. In den Straßen hing
der vertraute, unnachahmliche Duft. An warmen Sommerabenden roch
Vitte nach Blumen und Meer. Nach Salz und Fisch und Rosen, die sich
nirgendwo auf der Insel so nahe kamen wie hier.
Und nach erstklassigen Steaks, stellte Pieplow
fest, als ihm auf seinem Weg der würzige Duft von Gebratenem in die
Nase stieg. Er sah zu den vollen Tischen auf der Terrasse des
Godewind hinüber und merkte, wie hungrig er
war. Müde und verschwitzt und hungrig.
Nicht gerade die ideale Verfassung, der Frau
seiner Träume entgegenzutreten, stellte er verdrossen fest. Denn
das war Marie, das hatte er sich eingestehen müssen nach Nächten,
in denen er aus Träumen von ihr erwacht war. Manchmal eher
verlegen, wenn seine Phantasie der Lust zu sehr die Zügel schleifen
ließ, viel öfter aber mit einer großen Traurigkeit über seine
hoffnungslose Verliebtheit.
Die Hartnäckigkeit, mit der sein Herz an Marie
hing, war eine neue Erfahrung für ihn. Nur einmal hatte es so
ausdauernd für ein Mädchen geschlagen. Da war er zehn gewesen und
überzeugt, es sei für die Ewigkeit, die dann doch über die sechste
Klasse nicht hinausgereicht hatte. Mehr als ein paar Monate hatte
seitdem keine seiner Liebschaften gedauert. Kurz und gut, war seine
Devise gewesen, und er hatte es nie bereut. Er war lieber allein,
als sich weiblicher Inquisition auszusetzen. Was denkst du? Wohin
gehst du? Wo bist du gewesen? – Für Pieplow die sicherste Methode,
ihn in die Flucht zu jagen. Er hasste es, wenn man ihm zu sehr auf
die Pelle rückte.
Diese Gefahr bestand bei Marie nicht. Sie
drängte sich nicht in sein Leben und meisterte ihres, als vertraue
sie letzten Endes nur sich selbst. Ihrer eigenen Kraft, die sie
durch das Drama mit Leonie getragen hatte und durch die
Enttäuschung über einen Mann, der sich als windiger Schuft entpuppt
hatte. Und durch die lange Sorge für die alte Josefine, der Marie
verdankte, was sie heute besaß. Das Haus mit dem breiten Strohdach,
die Ferienwohnungen im lang gestreckten Anbau. Das Atelier hinten
im Garten, das noch immer so hieß, obwohl seit Jahren kein Maler
mehr dort arbeitete.
Alles in allem ein stattliches Anwesen. So gut
bestellt und wohl geordnet, wie es sich Hermann Carl Gau nur hätte
wünschen können, als er vor mehr als hundert Jahren den Grundstein
legte.
Sie erwartete ihn. Marie saß vor ihrem Haus auf
der Bank zwischen den großen Hortensienbüschen. Pieplow sah sie,
bevor sie ihn bemerkte. Er spürte, wie sein Herz ein paar Mal
außerplanmäßig klopfte. Schnell und glücklich und vollkommen
unangebracht.
Er war ihr Freund. Nicht mehr und nicht weniger.
Einer, der ihr nahe sein konnte, ohne auf dumme Gedanken zu kommen.
So ungefähr sah es wohl Marie. Damit würde er sich abfinden müssen.
Und damit, dass ihm die dümmsten Gedanken sogar dann durch den Kopf
schossen, wenn ihnen so wie jetzt ein ernstes Gespräch über ein
düsteres Thema bevorstand.
Sie sprang auf, als sie ihn sah, ging ihm
entgegen und umarmte ihn zur Begrüßung.
»Es ist Wanda, oder?« In ihrer Frage lag noch
ein Hauch von Hoffnung, es könnte anders sein.
Er nickte. »Wanda, ja. Wie es aussieht, ist sie
vergangene Nacht vom Swanti gestürzt.«
»Gestürzt? Aber es hieß doch …« Sie war
überrascht stehen geblieben. Den ganzen Tag hatten sich die
Neuigkeiten überschlagen, waren mit rasender Geschwindigkeit von
Mund zu Mund gegangen und von Mal zu Mal monströser geworden. Immer
wieder hatte es jemanden gegeben, der so gut wie dabei gewesen sein
wollte und noch mehr grauenvolle Details kannte.
Pieplow hörte mit wachsendem Unbehagen, wie viel
haarsträubender Unsinn um den wahren Kern gesponnen worden
war.
»Bis jetzt weiß niemand, ob es überhaupt ein
Mord war.« Er legte Marie beruhigend den Arm um die Schultern und
schob sie sanft Richtung Haus. Sie sollten hineingehen, fand er.
Man konnte nicht wissen, welche Blüten die Neugier trieb angesichts
der Uniform, die er immer noch trug.
Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Wiesenstrauß.
Ähren, Grasnelken, Hahnenklee. An welken Mohnstängeln nur noch die
Kapseln. Es störte Leonie nicht, dass ihre Sträuße die Sommerwärme
nur für kurze Zeit überstanden. Auf der Wiese neben dem Haus
wuchsen ihre Lieblingsfarben jeden Tag neu. Rot, Gelb, Lila.
Marie schob Bilderbücher auf dem Sofa zu einem
Stapel zusammen.
»Verzeih«, sagte sie ohne sich umzudrehen, »ich
habe gar nicht gefragt, ob du etwas möchtest. Essen vielleicht?
Oder trinken? Kaffee, Tee, Bier?«
»Ein Bier wäre nicht schlecht.« Er fühlte sich
wie ausgedörrt.
»Brauchst du ein Glas?«, rief sie aus der Küche.
Jedes Mal fragte sie das. Aus Gastgeberinnengewohnheit vermutlich.
Dabei trank auch sie das Bier am liebsten aus der Flasche. Er
erinnerte sich sogar noch an den Tag, seitdem er das wusste.
Und wie jedes Mal antwortete er mit einem
gedehnten »Nein«.
Er lehnte sich im Sofa zurück und hörte, wie sie
leise nach oben ging. Die Angewohnheit, mehrmals am Abend nach dem
Kind zu sehen, hatte sie noch immer nicht abgelegt. Für ein paar
Augenblicke überließ Pieplow sich der friedlichen Ruhe im Zimmer.
Als Marie endlich neben ihm saß, berichtete er, was er
wusste.
»Weiter sind wir noch nicht«, sagte er zum
Schluss. »Was da sonst an Erkenntnissen kursiert, ist frei
erfunden. Pure Spekulation. Warum und zu welchem Zweck auch immer.
Noch kommt alles in Betracht – Unfall, Mord, Selbstmord.«
»Ausgeschlossen!«, widersprach Marie energisch.
»Wanda hätte sich nicht das Leben genommen. Und vor allem nicht
dort. Auf gar keinen Fall! Das weiß ich genau.« Sie sagte das mit
so großer Entschiedenheit, dass Pieplow sie irritiert ansah.
»Weshalb bist du dir da so sicher?«, fragte er
skeptisch.
»Weil der Swanti ihr heilig war, deshalb.«
»Na ja, man nennt ihn eben so. Heiliger Berg.«
Als heimatkundliche Übertreibung mochte das angehen, fand Pieplow.
Aber kein vernünftiger Mensch würde solchen Humbug aus ein paar
Grabfunden ableiten. Nur weil vor zweitausend Jahren irgendwelche
Germanen dort ihre Toten vergraben hatten, wurde aus dem Swanti
nicht der Berg Sinai.
Marie schüttelte den Kopf. »Wanda hat das nicht
nur so dahingesagt. Für sie war der Swanti ein geweihter Ort, und
zwar seit Menschengedenken. Verstehst du – wir glauben, die Gräber
sind es, die einen Haufen Lehm und Sand zu etwas Besonderem machen.
Wanda war dagegen überzeugt, dass es sich genau andersherum
verhält. Zuerst ist der Geist eines Ortes da. Deshalb haben unsere
Vorfahren solche Plätze gesucht, sie geweiht und geheiligt.« Sie
machte eine Pause und sah Pieplow mit großer Ernsthaftigkeit an.
»Und weil für Wanda der Swanti ein solcher Ort war, kann sie sich
dort nicht umgebracht haben. Unvorstellbar, dass sie ihn durch
etwas so Zerstörerisches entweiht hätte.«
Pieplows Vorstellungsvermögen sträubte sich,
diesen mystischen Pfaden zu folgen. Er gab diesseitigen Erklärungen
den Vorzug. Dass, ganz praktisch gesehen, Grabstätten besser keinen
Platz beanspruchen sollten, der sich anderweitig besser nutzen
ließ. Zum Wohnen, zum Beispiel. Oder für Ackerbau und Viehzucht.
Wohin also mit den Toten auf einer Insel, die vor eben diesen
zweitausend Jahren nur wie ein kleiner Buckel aus dem Meer ragte?
Auf der der Platz knapp war, weil das flache Grasland in den
nächsten Jahrhunderten erst angeschwemmt werden musste. Ganz an den
Rand mit ihnen, sollte man meinen. Und zwar möglichst hoch, damit
nicht die nächste Sturmflut schon zum Grabräuber werden und mit
sich reißen würde, was auf die letzte Reise mitgegeben wurde.
Gefäße, Schmuck, Werkzeug.
Das war, was blieb, dachte Pieplow. Keine
Botschaften aus dem Universum, keine beredten Geister. Nichts, was
sich beschwören ließ. Nur ganz und gar unbeseelte Dinge, die dann
und wann als Zeugen einer längst untergegangenen Welt ans
Tageslicht kamen.
»Ich habe, ehrlich gesagt, noch nicht
verstanden, was genau Wanda dort gemacht hat«, sagte er und dachte
an Tänze in Trance, an unbedachte Bewegungen, bei denen eine ältere
Dame schnell die Balance verlieren konnte.
Marie sah ihn an, als wüsste sie, was ihm durch
den Kopf ging. »Jedenfalls nichts Gefährliches, wenn du darauf
hinauswillst. Sie hat es wie eine Meditation beschrieben. Wie ein
Sich-Öffnen und Auftanken mit Energie für sich selbst und für
andere. Dass sie dabei gestürzt oder gestolpert sein soll, ist
ziemlich …« Sie hielt erschrocken inne. Kein Selbstmord, kein
Unfall. Ihr war plötzlich klar, worauf es hinauslief, wenn beides
nicht in Frage kam, aber sie sprach es nicht aus. »Es ist einfach
furchtbar«, sagte sie nur und lehnte sich an ihn, als er ihr
tröstend den Arm um die Schulter legte.
Sie fühlte sich gut an. Warm und fest, und ihr
Haar roch nach Pfirsich. Früher war es lang gewesen und meist im
Nacken zusammengebunden. Pieplow hatte den schweren dunklen Zopf
gemocht und sich an den Bubikopf erst gewöhnen müssen.
Pieplow genoss den Augenblick. Schwieg, hielt
Marie im Arm und erörterte im Stillen, ob er sie nicht einfach
küssen sollte. Wenigstens aufs Haar. Oder, besser noch, auf die
samtweiche Haut im Nacken. Irgendwann würde er es einfach tun. Eine
Gelegenheit wie diese nutzen und dann sehen, was passierte.
Irgendwann, wie gesagt. Aber nicht jetzt. Jetzt
schoben sich die Ereignisse des Morgens wieder in seine Gedanken
und verlangten eine Erklärung.
Wer hätte sie töten sollen? Und vor allem:
Warum?
»Weißt du, ob sie Feinde hatte?« Er nahm in
Kauf, dass Marie sich aufsetzte und ein Stück von ihm
abrückte.
»Wanda?« Sie sah ihn an, als habe er eine sehr
abwegige Frage gestellt. »Das glaube ich nicht. Es gab wohl manche,
die lieber nichts mit ihr zu tun haben wollten, aber Feinde? Womit
soll sie sich Feinde gemacht haben?«
Pieplow dachte an Kurpfuscherei, an
fehlgeschlagene Behandlungsversuche. An die Wut eines
Verzweifelten, dem nicht geholfen worden war. »Hätte ja sein
können, dass sie mal irgendwas in dieser Richtung erzählt
hat.«
»Nein, hat sie nicht.« Marie schüttelte
nachdenklich den Kopf.
Schade, dachte Pieplow, der sich einen ersten
Ansatzpunkt wünschte. Irgendwas, an dem sein siebter Sinn andocken
konnte, anstatt in nebulösen Spekulationen durch seinen Kopf zu
wabern.