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Mit einem flachen Bogen über Backbord glitt das Motorboot aus dem Hafen. Pieplow wartete, bis es den offenen Bodden erreichte. Es brachte Schöbel zurück nach Rügen. Zur zweiten Schicht am Schreibtisch, wie er sich ausgedrückt hatte, bevor er das Wassertaxi bestieg und »Ich melde mich!« zu Pieplow hinüberrief, als der Bootsmotor ansprang.
Pieplow genoss die Ruhe im Vitter Hafen. Vor einer halben Stunde war für heute die letzte Fähre ausgelaufen. Rechts lagen die Segler fest für die Nacht vertäut. Auf den Kuttern im großen Hafenbecken hingen die Reusenfahnen schlaff in der abendlichen Windstille. Sogar das Wasser schien erschöpft. Lustlos und träge schwappte es gegen die Kaimauern und ließ zwischen ölig glänzenden Schlieren Möwen auf seinem Rücken dümpeln.
Pieplow konnte gemächlich über den Wallweg schlendern. Die Menschen, die tagsüber hier für dichtes Gedränge sorgten, hatten abends Besseres zu tun, als an den geschlossenen Geschäften entlangzuflanieren. Auf dem Seedeich den Sonnenuntergang erwarten, zum Beispiel. Ins Konzert gehen, ins Kino. Oder sich im Figurentheater von Störtebeker und seinen Mannen entführen lassen. Die Anzahl der Fahrräder vor der Seebühne ließ auf eine ausverkaufte Vorstellung schließen.
Ob die Zuschauer wussten, dass sie Platz nahmen, wo einst der Streifenwagen der Volkspolizei untergestellt war? Wohl kaum, vermutete Pieplow, der die Nutzungsänderung der Garage für eine gute Idee hielt.
Von Vittes lebhaftester Kreuzung aus, wo vier der sieben autofreien Dorfstraßen aufeinandertrafen, sah er, dass auf der Seeseite der Tag unter einem dramatischen Himmel zur Neige ging. Quellwolken glühten im windstillen Blau über den Strahlen der sinkenden Sonne. Hell violett und lavarot schien der Himmel zu brennen und weckte Erinnerungen an Kindergedanken. An die bange Erwartung, es müsse, sobald der Feuerball die Wasserfläche berührte, ein urgewaltiges Brodeln und Zischen aufsieden. An das Schwanken zwischen Bedauern und Erleichterung über die lautlose Ruhe, mit der die Sonne schließlich am Rand der Welt versank.
Noch ließ ihr Licht die kalkweißen Wände der Häuser am Süderende in zartem Rosa schimmern. In den Straßen hing der vertraute, unnachahmliche Duft. An warmen Sommerabenden roch Vitte nach Blumen und Meer. Nach Salz und Fisch und Rosen, die sich nirgendwo auf der Insel so nahe kamen wie hier.
Und nach erstklassigen Steaks, stellte Pieplow fest, als ihm auf seinem Weg der würzige Duft von Gebratenem in die Nase stieg. Er sah zu den vollen Tischen auf der Terrasse des Godewind hinüber und merkte, wie hungrig er war. Müde und verschwitzt und hungrig.
Nicht gerade die ideale Verfassung, der Frau seiner Träume entgegenzutreten, stellte er verdrossen fest. Denn das war Marie, das hatte er sich eingestehen müssen nach Nächten, in denen er aus Träumen von ihr erwacht war. Manchmal eher verlegen, wenn seine Phantasie der Lust zu sehr die Zügel schleifen ließ, viel öfter aber mit einer großen Traurigkeit über seine hoffnungslose Verliebtheit.
Die Hartnäckigkeit, mit der sein Herz an Marie hing, war eine neue Erfahrung für ihn. Nur einmal hatte es so ausdauernd für ein Mädchen geschlagen. Da war er zehn gewesen und überzeugt, es sei für die Ewigkeit, die dann doch über die sechste Klasse nicht hinausgereicht hatte. Mehr als ein paar Monate hatte seitdem keine seiner Liebschaften gedauert. Kurz und gut, war seine Devise gewesen, und er hatte es nie bereut. Er war lieber allein, als sich weiblicher Inquisition auszusetzen. Was denkst du? Wohin gehst du? Wo bist du gewesen? – Für Pieplow die sicherste Methode, ihn in die Flucht zu jagen. Er hasste es, wenn man ihm zu sehr auf die Pelle rückte.
Diese Gefahr bestand bei Marie nicht. Sie drängte sich nicht in sein Leben und meisterte ihres, als vertraue sie letzten Endes nur sich selbst. Ihrer eigenen Kraft, die sie durch das Drama mit Leonie getragen hatte und durch die Enttäuschung über einen Mann, der sich als windiger Schuft entpuppt hatte. Und durch die lange Sorge für die alte Josefine, der Marie verdankte, was sie heute besaß. Das Haus mit dem breiten Strohdach, die Ferienwohnungen im lang gestreckten Anbau. Das Atelier hinten im Garten, das noch immer so hieß, obwohl seit Jahren kein Maler mehr dort arbeitete.
Alles in allem ein stattliches Anwesen. So gut bestellt und wohl geordnet, wie es sich Hermann Carl Gau nur hätte wünschen können, als er vor mehr als hundert Jahren den Grundstein legte.
Sie erwartete ihn. Marie saß vor ihrem Haus auf der Bank zwischen den großen Hortensienbüschen. Pieplow sah sie, bevor sie ihn bemerkte. Er spürte, wie sein Herz ein paar Mal außerplanmäßig klopfte. Schnell und glücklich und vollkommen unangebracht.
Er war ihr Freund. Nicht mehr und nicht weniger. Einer, der ihr nahe sein konnte, ohne auf dumme Gedanken zu kommen. So ungefähr sah es wohl Marie. Damit würde er sich abfinden müssen. Und damit, dass ihm die dümmsten Gedanken sogar dann durch den Kopf schossen, wenn ihnen so wie jetzt ein ernstes Gespräch über ein düsteres Thema bevorstand.
Sie sprang auf, als sie ihn sah, ging ihm entgegen und umarmte ihn zur Begrüßung.
»Es ist Wanda, oder?« In ihrer Frage lag noch ein Hauch von Hoffnung, es könnte anders sein.
Er nickte. »Wanda, ja. Wie es aussieht, ist sie vergangene Nacht vom Swanti gestürzt.«
»Gestürzt? Aber es hieß doch …« Sie war überrascht stehen geblieben. Den ganzen Tag hatten sich die Neuigkeiten überschlagen, waren mit rasender Geschwindigkeit von Mund zu Mund gegangen und von Mal zu Mal monströser geworden. Immer wieder hatte es jemanden gegeben, der so gut wie dabei gewesen sein wollte und noch mehr grauenvolle Details kannte.
Pieplow hörte mit wachsendem Unbehagen, wie viel haarsträubender Unsinn um den wahren Kern gesponnen worden war.
»Bis jetzt weiß niemand, ob es überhaupt ein Mord war.« Er legte Marie beruhigend den Arm um die Schultern und schob sie sanft Richtung Haus. Sie sollten hineingehen, fand er. Man konnte nicht wissen, welche Blüten die Neugier trieb angesichts der Uniform, die er immer noch trug.
Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Wiesenstrauß. Ähren, Grasnelken, Hahnenklee. An welken Mohnstängeln nur noch die Kapseln. Es störte Leonie nicht, dass ihre Sträuße die Sommerwärme nur für kurze Zeit überstanden. Auf der Wiese neben dem Haus wuchsen ihre Lieblingsfarben jeden Tag neu. Rot, Gelb, Lila.
Marie schob Bilderbücher auf dem Sofa zu einem Stapel zusammen.
»Verzeih«, sagte sie ohne sich umzudrehen, »ich habe gar nicht gefragt, ob du etwas möchtest. Essen vielleicht? Oder trinken? Kaffee, Tee, Bier?«
»Ein Bier wäre nicht schlecht.« Er fühlte sich wie ausgedörrt.
»Brauchst du ein Glas?«, rief sie aus der Küche. Jedes Mal fragte sie das. Aus Gastgeberinnengewohnheit vermutlich. Dabei trank auch sie das Bier am liebsten aus der Flasche. Er erinnerte sich sogar noch an den Tag, seitdem er das wusste.
Und wie jedes Mal antwortete er mit einem gedehnten »Nein«.
Er lehnte sich im Sofa zurück und hörte, wie sie leise nach oben ging. Die Angewohnheit, mehrmals am Abend nach dem Kind zu sehen, hatte sie noch immer nicht abgelegt. Für ein paar Augenblicke überließ Pieplow sich der friedlichen Ruhe im Zimmer. Als Marie endlich neben ihm saß, berichtete er, was er wusste.
»Weiter sind wir noch nicht«, sagte er zum Schluss. »Was da sonst an Erkenntnissen kursiert, ist frei erfunden. Pure Spekulation. Warum und zu welchem Zweck auch immer. Noch kommt alles in Betracht – Unfall, Mord, Selbstmord.«
»Ausgeschlossen!«, widersprach Marie energisch. »Wanda hätte sich nicht das Leben genommen. Und vor allem nicht dort. Auf gar keinen Fall! Das weiß ich genau.« Sie sagte das mit so großer Entschiedenheit, dass Pieplow sie irritiert ansah.
»Weshalb bist du dir da so sicher?«, fragte er skeptisch.
»Weil der Swanti ihr heilig war, deshalb.«
»Na ja, man nennt ihn eben so. Heiliger Berg.« Als heimatkundliche Übertreibung mochte das angehen, fand Pieplow. Aber kein vernünftiger Mensch würde solchen Humbug aus ein paar Grabfunden ableiten. Nur weil vor zweitausend Jahren irgendwelche Germanen dort ihre Toten vergraben hatten, wurde aus dem Swanti nicht der Berg Sinai.
Marie schüttelte den Kopf. »Wanda hat das nicht nur so dahingesagt. Für sie war der Swanti ein geweihter Ort, und zwar seit Menschengedenken. Verstehst du – wir glauben, die Gräber sind es, die einen Haufen Lehm und Sand zu etwas Besonderem machen. Wanda war dagegen überzeugt, dass es sich genau andersherum verhält. Zuerst ist der Geist eines Ortes da. Deshalb haben unsere Vorfahren solche Plätze gesucht, sie geweiht und geheiligt.« Sie machte eine Pause und sah Pieplow mit großer Ernsthaftigkeit an. »Und weil für Wanda der Swanti ein solcher Ort war, kann sie sich dort nicht umgebracht haben. Unvorstellbar, dass sie ihn durch etwas so Zerstörerisches entweiht hätte.«
Pieplows Vorstellungsvermögen sträubte sich, diesen mystischen Pfaden zu folgen. Er gab diesseitigen Erklärungen den Vorzug. Dass, ganz praktisch gesehen, Grabstätten besser keinen Platz beanspruchen sollten, der sich anderweitig besser nutzen ließ. Zum Wohnen, zum Beispiel. Oder für Ackerbau und Viehzucht. Wohin also mit den Toten auf einer Insel, die vor eben diesen zweitausend Jahren nur wie ein kleiner Buckel aus dem Meer ragte? Auf der der Platz knapp war, weil das flache Grasland in den nächsten Jahrhunderten erst angeschwemmt werden musste. Ganz an den Rand mit ihnen, sollte man meinen. Und zwar möglichst hoch, damit nicht die nächste Sturmflut schon zum Grabräuber werden und mit sich reißen würde, was auf die letzte Reise mitgegeben wurde. Gefäße, Schmuck, Werkzeug.
Das war, was blieb, dachte Pieplow. Keine Botschaften aus dem Universum, keine beredten Geister. Nichts, was sich beschwören ließ. Nur ganz und gar unbeseelte Dinge, die dann und wann als Zeugen einer längst untergegangenen Welt ans Tageslicht kamen.
»Ich habe, ehrlich gesagt, noch nicht verstanden, was genau Wanda dort gemacht hat«, sagte er und dachte an Tänze in Trance, an unbedachte Bewegungen, bei denen eine ältere Dame schnell die Balance verlieren konnte.
Marie sah ihn an, als wüsste sie, was ihm durch den Kopf ging. »Jedenfalls nichts Gefährliches, wenn du darauf hinauswillst. Sie hat es wie eine Meditation beschrieben. Wie ein Sich-Öffnen und Auftanken mit Energie für sich selbst und für andere. Dass sie dabei gestürzt oder gestolpert sein soll, ist ziemlich …« Sie hielt erschrocken inne. Kein Selbstmord, kein Unfall. Ihr war plötzlich klar, worauf es hinauslief, wenn beides nicht in Frage kam, aber sie sprach es nicht aus. »Es ist einfach furchtbar«, sagte sie nur und lehnte sich an ihn, als er ihr tröstend den Arm um die Schulter legte.
Sie fühlte sich gut an. Warm und fest, und ihr Haar roch nach Pfirsich. Früher war es lang gewesen und meist im Nacken zusammengebunden. Pieplow hatte den schweren dunklen Zopf gemocht und sich an den Bubikopf erst gewöhnen müssen.
Pieplow genoss den Augenblick. Schwieg, hielt Marie im Arm und erörterte im Stillen, ob er sie nicht einfach küssen sollte. Wenigstens aufs Haar. Oder, besser noch, auf die samtweiche Haut im Nacken. Irgendwann würde er es einfach tun. Eine Gelegenheit wie diese nutzen und dann sehen, was passierte.
Irgendwann, wie gesagt. Aber nicht jetzt. Jetzt schoben sich die Ereignisse des Morgens wieder in seine Gedanken und verlangten eine Erklärung.
Wer hätte sie töten sollen? Und vor allem: Warum?
»Weißt du, ob sie Feinde hatte?« Er nahm in Kauf, dass Marie sich aufsetzte und ein Stück von ihm abrückte.
»Wanda?« Sie sah ihn an, als habe er eine sehr abwegige Frage gestellt. »Das glaube ich nicht. Es gab wohl manche, die lieber nichts mit ihr zu tun haben wollten, aber Feinde? Womit soll sie sich Feinde gemacht haben?«
Pieplow dachte an Kurpfuscherei, an fehlgeschlagene Behandlungsversuche. An die Wut eines Verzweifelten, dem nicht geholfen worden war. »Hätte ja sein können, dass sie mal irgendwas in dieser Richtung erzählt hat.«
»Nein, hat sie nicht.« Marie schüttelte nachdenklich den Kopf.
Schade, dachte Pieplow, der sich einen ersten Ansatzpunkt wünschte. Irgendwas, an dem sein siebter Sinn andocken konnte, anstatt in nebulösen Spekulationen durch seinen Kopf zu wabern.