11
»Du sollst heute um Mitternacht am Swanti sein«, verkündete Kästner, kaum, dass Pieplow die Tür der Wachstube hinter sich ins Schloss gedrückt hatte. Die feinen Muskeln um Augen und Mundwinkel zuckten verräterisch gegen den Versuch, dienstlichen Ernst zu zeigen.
Pieplow tat ihm den Gefallen. Aus Gewohnheit und weil es immer gut fürs Betriebsklima war, sich auf Kästners Scherze einzulassen.
»Und wieso das? »Er gab sich so erstaunt, wie es erwartet wurde.
»Weil Wanda dorthin kommt und dich zu ihrem Mörder führt.«
»Bitte?«, fragte Pieplow irritiert. »Findest du das jetzt wirklich komisch?« Ihm lagen die Ereignisse der letzten dreißig Stunden noch so schwer auf dem Gemüt, dass er für diese Art Witz wenig Verständnis aufbrachte.
»Frag das die Spinner, die reihenweise bei der Kripo anrufen. Unter Mord tun sie’s nicht. Mit so was Langweiligem wie einer einfachen Todesfallermittlung halten die sich gar nicht auf. Schöbel sagt, es sind noch ganz andere Schoten dabei.«
»Was denn, zum Beispiel?«
»Kannibalismus.« Kästner genoss den Blick in Pieplows entsetzten Augen. »Oder ein Medium, das seine Visionen gern in den Dienst der Ermittlungsbehörden stellen würde. Gegen Honorar, versteht sich. Andernfalls müssten wir leider allein herausfinden, was passiert ist.« In Kästners Blick glänzte etwas Triumphierendes. Er hatte es immer gewusst. In dieser Welt wimmelte es von Verrückten. »Auch die Behauptung, Wanda sei einer satanistischen Verschwörung zum Opfer gefallen, ist nicht übel.«
Pieplow ging zur Kaffeemaschine und füllte sich seinen Becher randvoll, bevor er sich setzte und anhörte, was Schöbel sonst noch berichtet hatte, bevor er nach Bergen zurückgefahren war.
Mehr als dreißig Anrufe mit mehr oder weniger sachdienlichen Hinweisen waren seit gestern eingegangen. Etliche aus der Sparte Hellsehen und Wahrsagen inklusive der Ankündigung düsterer Folgen für den Fall, dass Wanda Sievekings Tod nicht gesühnt wurde.
Einigen war Wanda erschienen und hatte Botschaften hinterlassen.
»Dafür, dass sie tot ist, hat sie gut zu tun, das steht mal fest«, flachste Kästner und machte dazu Schwebebewegungen mit den Armen.
Was sollte ihm jemand entgegnen, dem das selbst widerfahren war? Pieplow schwieg mit ausdruckloser Miene. Seine nächtliche Begegnung mit Wanda ging niemanden etwas an. Kästner schon gar nicht.
Zwei Wanderer behaupteten unabhängig voneinander, eine helle Gestalt im Hochland gesehen zu haben. Einer in der Nähe des Leuchtturms, der andere auf dem Weg aus dem Honiggrund hoch zum Swanti. Beide seien zu weit weg gewesen, als dass sie Genaueres sagen konnten. Aber beide erstaunt, dass außer ihnen noch jemand so spät in der Dunkelheit unterwegs war.
»So sind sie, die Leute. Treiben sich zur Geisterstunde in der Wildnis herum und wundern sich, dass es noch andere Irre gibt, die dasselbe tun.« Kästner hielt sich viel auf seinen gesunden Schlaf zugute. Auf die Idee, nach Sonnenuntergang über die Insel zu streifen, war er seit seiner Jugend nicht mehr gekommen.
Pieplow dachte an die Nächte, in denen er erst gegen Morgen nach Hause gekommen war. Endlich müde und so erschöpft, dass selbst die Gespenster seiner Rostocker Zeit keine Chancen hatten und sein Schlaf traumlos blieb. »Wohl wahr. Solche Irren gibt’s.« Das Lächeln, mit dem er Kästner beipflichtete, fiel ein wenig schief aus.
Kästner musterte ihn skeptisch. Für Doppelbotschaften hatte er ein feines Gespür. Doch schließlich sagte er nur: »Schön, dass du da wenigstens meiner Meinung bist«, und schob Pieplow ein Schreiben über den Tisch zu. »Das hat Schöbel eben gefaxt.«
Amtlich, das sah Pieplow schon, bevor es richtig vor ihm lag. Staatsanwaltschaft. Die Obduktionsanweisung für Fritz Niemann. Also doch. »Hat er auch gesagt, warum?«
Kästner zuckte mit den Schultern. »Irgendwas von unklaren Umständen und vorsichtshalber in Anbetracht der Ereignisse. Was weiß ich, was in einem Staatsanwaltskopf vorgeht. In Anbetracht der Ereignisse – das hört sich ja an, als ginge hier ein Serienmörder um.«
Mist, dachte Pieplow. Er würde die Familie informieren müssen. Diesmal nicht, weil Kästner sich vor so was gern drückte. Diesmal, weil er selbst versprochen hatte, sich darum zu kümmern.
»Alles klar. Ich sag’ Käthe Niemann Bescheid.«
»Und dem Professor«, ergänzte Kästner.
»Wieso das?«
»Schöbel weiß, dass der Schnippler eigentlich Urlaub hat. Trotzdem soll er gefragt werden, ob er die Obduktion übernimmt, weil er doch schon die äußere Leichenschau gemacht hat.«
»Dann wäre es vielleicht das Einfachste, er ruft ihn an?«
»Schon. Aber der Herr Professor ist nicht erreichbar. Hat sein Telefon abgestellt.«
Pieplow griff wortlos nach Autoschlüssel und staatsanwaltschaftlicher Anordnung.
»Moment, Moment!« Kästner gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt. »Das ist noch nicht alles.«
»Was denn noch?«
»Schöbel will wissen, wo Manfred Graber vorletzte Nacht war. Zwei von den Anrufern haben nämlich behauptet, dass Wanda ermordet worden ist und dass sie auch wüssten, von wem.«
»Manfred Graber?«, fragte Pieplow erstaunt.
»Genau der.« Kästner nickte bedeutungsvoll. »Weil ihm das Wasser bis zum Hals steht und weil Marlies als einzige Verwandte Wandas Vermögen erbt, sagen sie. Anonym, natürlich.« Kästners verächtlicher Ton machte klar, was er davon hielt.
»Gibt’s denn so was? Ein Vermögen, meine ich.« Pieplow dachte an Wandas Haus. Schön, aber schlicht. Irgendeinen Hinweis auf Reichtum hatte er nicht entdecken können. Aber das musste nichts heißen. Wanda wäre nicht die Einzige, die ein erkleckliches Sümmchen auf der hohen Kante hatte und das sorgfältig verbarg. Das war besser, als den Neid der Hiddenseer zu wecken, denen man nachsagte, sie gönnten keinem auch nur einen Fischschwanz mehr, als sie selbst besaßen.
»Keine Ahnung. Es war nicht die Rede davon, dass sie Geld hatte. Und selbst wenn. Das gibt niemandem das Recht, solche Gerüchte zu verbreiten. Und wenn sich die beiden Pfeifen hundert Mal mit ihm überworfen haben.« Kästner schnaubte empört.
»Wie wär’s, wenn du mir verrätst, von wem du sprichst?« Pieplow hatte da so seine Vermutungen, wollte aber sichergehen, dass sie an dieselben Männer dachten.
»Von wem wohl? Der eine war Pulle, da gebe ich dir Brief und Siegel drauf. Und Zorowski. Von den anderen Halunken, denen ich das Gleiche zutrauen würde, ganz zu schweigen.«
Pulle Nowack, der so hieß, weil er praktisch nie ohne Kornflasche unterwegs war, wenn er Hecken schnitt oder Rasen mähte. Der, wenn’s schlecht lief, zwei Tage brauchte für das, was Manfred Graber in vier Stunden schaffte und Nowack damit nach und nach fast alle Kunden abspenstig machte. Denn die interessierte nur, wer ihnen zuverlässig den Garten auf Vordermann brachte, und nicht, wer am längsten im Geschäft war.
Und Zorowski. Dennis Zorowski. Ein jähzorniger Tagedieb mit einem Hang zu Schlägereien nach Fußballübertragungen. Als ihn Manfred Graber im vergangenen Jahr vorm Wieseneck windelweich prügelte, hatte Kästner sogar mit Reizgaseinsatz drohen müssen, um die Streithähne zu trennen.
»Ich hab Schöbel geraten, sich die beiden mal genau anzugucken, bevor er sich mit solchen Zeugen auf Mördersuche begibt.«
»Sagtest du nicht, die Anrufe waren anonym?«
»Klar waren sie das. Was ja wohl nichts heißt, wenn der eine zwischen Stumpen und Zahnlücke durchnuschelt und der andere das’R’ rollt, als wär’ er nicht von hier.«
Noch hatte Kästner die Anrufaufzeichnungen nicht gehört, wusste auch nicht, ob sie ihm jemals vorgespielt würden. Aber wenn, dann würde er die unverwechselbaren Stimmen erkennen, verkündete er, dann wäre Schluss mit der Anonymität von Pulle und Zorro. Und mit jeder Art von Polizistenhöflichkeit. Von wegen Zeugen. »Der größte Lump im Land ist und bleibt der Denunziant. Ist zumindest meine Meinung.«
Und mit der hatte Kästner noch nie hinterm Berg gehalten, das wusste Pieplow.
011
Der Besuch bei Käthe Niemann war kurz. Sie bat ihn nicht ins Haus. Sie verzog keine Miene. Stand nur still da mit ihrem krummen Rücken und musterte ihn aus bleichen, wässrigen Augen. Sagte mit tonloser Stimme schließlich: »Dass ihr ihm das antut...« und machte Pieplow die Tür vor der Nase zu, bevor er etwas erwidern konnte.
Was auch? Oberflächlichkeiten aus dem Ermittlungsalltag? Irgendwas, das sich anhörte wie aus der Strafprozessordnung? Anhaltspunkte. Nichtnatürlicher Tod. Meldung an die Staatsanwaltschaft. Nein, dann war es besser so. Keine Erklärungen, kein Kommentar. Keine Plattitüde, die Käthe Niemanns Schmerz sowieso nicht gerecht wurde.
Und nichts davon, dass Pieplow glaubte, sie zu verstehen.
Dass Fritz Niemann von seiner Insel fortgebracht wurde, war schon bedrückend genug. Wie abstoßend, ihn jetzt auch noch von oben nach unten aufzuschneiden. Ihm die Kopfhaut vom Schädel zu ziehen und das Herz aus dem Leib zu nehmen. Nur um festzustellen, dass es alt war. Alt und müde und nun eben still.
Fürchterlich, dachte Pieplow und schüttelte den Kopf voller Widerwillen. Gegen den Staatsanwalt, den er gar nicht kannte. Gegen Schöbel, weil der Wandas Tod und Fritz Niemanns friedliches Sterben über einen Kamm scherte.
Angesichts der Umstände!
Pieplow schüttelte wieder den Kopf. Verständnislos diesmal, denn beides hatte nichts miteinander zu tun, das wusste er.
Nur leider nicht, wieso und woher.
Vom Niemannschen bis zum Papeschen Grundstück war es nicht weit. Pieplow ließ den Streifenwagen stehen und ging zu Fuß.
In den Gärten rechts und links des sandigen Weges schien die Mittagsstille vollkommen. Schmetterlinge auf den dunkelvioletten Dolden eines Sommerflieders. Die Arbeit der Bienen in den gelben Kelchen der mannshohen Königskerzen genauso lautlos wie die Plackerei der Ameisen auf ihrer Straße unter dem Baumstamm am Zaun. Über allem der harzige Duft aus den sonnengewärmten Kiefern.
Keine Maschinengeräusche, keine Menschenstimmen. Nicht mal Vogelgezwitscher.
Hinter der Haustür blieb es noch still, nachdem Pieplow ein zweites Mal auf den Knopf über den beiden Namenschildern gedrückt hatte.
Pape. Gottschalk.
Hilde Gottschalk hatte nicht immer bei ihrer Mutter gewohnt. Sie war wieder hier eingezogen, als ihr Mann Anfang der neunziger Jahre beschloss, sich im Westen eine goldene Nase zu verdienen. Dass er damit Erfolg und außerdem ein schlechtes Gewissen hatte, bescherte ihr zwar auskömmliche Unterhaltszahlungen, aber auf Männer war sie seitdem nicht sonderlich gut zu sprechen gewesen. Das hatte sich erst vor zwei Jahren geändert, als im Schlesinger-Fall die Gerichtsmedizin Greifswald hinzugezogen wurde und Professor Wolfgang Dahlke für ein paar Tage Quartier brauchte. Da war Hilde Gottschalk fast sechzig gewesen und alt genug, keinen Pfifferling mehr auf das Gerede zu geben, als sie sich in den Professor verliebte, den die Leute vielleicht nicht ganz zu Unrecht für ein wenig eigenartig, um nicht zu sagen verschroben hielten. Momentan hatte er offenbar alle Verbindungen zur hektischen Welt jenseits des Boddens gekappt und war eingetaucht in die Ruhe der Insel.
Das fand Pieplow keineswegs verschroben, und er störte ihn wirklich ungern. Aber wenn er unverrichteter Dinge wieder abzog, würde es womöglich zu spät für die Obduktions-Anfrage werden. Es sei denn, das Gespräch mit Manfred Graber würde sehr kurz werden. Weil er sich darauf nicht verlassen wollte, öffnete Pieplow das Gartentor und machte sich auf die Suche nach dem Professor. Oder einer verlässlichen Person, die ihn veranlassen konnte, sich mit Schöbel in Verbindung zu setzen.
Er fand sie auf der Bank am Gartentisch. Bei seinem letzten Besuch war er gedeckt gewesen wie auf einem Postkartenidyll. Rosen und Schleierkraut in bauchiger Kanne, geblümtes Geschirr auf weißer Leinendecke. Heute standen Schüsseln und ein großes Sieb auf dem grauen Holz der Tischplatte. Davor saß Waltraud Pape und streckte ihm ihre blutroten Hände entgegen.
»Ich wollte das nicht, Herr Wachtmeister. Aber ich musste es tun.« Sie hielt die Arme so dicht beieinander, als sollten sich Handschellen um ihre Gelenke schließen, und freute sich über ihren Einfall. »Setzen Sie sich doch. Zum Mittag sind Sie zu spät und zum Kaffee ein bisschen früh dran.« Der Kirschsaft troff von ihrer Hand, als sie auf einen Stuhl neben sich wies. »Aber wenn ich die paar Dinger noch entkernt habe, setze ich Wasser auf.« Die paar Dinger waren mindestens fünf Kilo Schattenmorellen, die in einem Eimer zu ihren Füßen aufs Entsteinen warteten.
»Schönen Dank auch, Frau Pape, aber ich komme nicht zum Kaffeetrinken. Ich müsste nur kurz mit Professor Dahlke sprechen, wenn’s geht.«
»Wie spät ist es denn?« Sie hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen und sah nicht auf.
»Zwanzig nach zwei.«
»Na, sehen Sie, ist doch die Zeit, wo man ein Tässchen vertragen kann. Wenn ich ins Haus gehe, sage ich Bescheid, dass Sie da sind. Nun setzen Sie sich schon und leisten mir ein bisschen Gesellschaft.«
Etwas von fehlender Zeit und dringenden Dienstgeschäften lag Pieplow auf der Zunge. Aber dann ging sein Blick durch den Garten mit dem ausladenden Apfelbaum und dem schläfrigen Kater, der nur ein halbgeöffnetes Auge auf den ungewohnten Besucher hatte, bevor er sich auf die Seite rollte, um sein getigertes Bauchfell in die Sonne zu halten.
Was soll’s, dachte er. Es gibt schlechtere Plätze, um ein unerfreuliches Gespräch auf die lange Bank zu schieben. Und mit Waltraud Pape war ganz sicher besser Kirschen essen als mit Manfred Graber. Auch wenn sie Haare auf den Zähnen hatte, wie es hieß.
Also setzte er sich.
»Worum geht’s denn, wenn man fragen darf?«
Behaarte Zähne und neugierig, dachte Pieplow, das lässt sich gewiss polizeilich nutzen.
»Och, dienstlich«, gab er knapp wie gelangweilt Auskunft. Seine Intuition sagte ihm, dass man alte Damen mit elsternschnellen braunen Augen und hellhörigen Ohren am besten ein wenig schmoren ließ. Das erhöhte Wissbegier und Mitteilungsbedürfnis gleichermaßen.
»Geht’s um Wanda?«
»Auch. Ja.« Pieplow beugte sich vor und stibitzte ein paar weiche, entsteinte Früchte. »Kirschmarmelade?«
»Auch, ja«, machte sie ihn nach und klang leicht pikiert.
Pieplow kaute und schwieg.
»Schreckliche Geschichte.« Mit einem Seufzer nahm Waltraud Pape den Gesprächsfaden wieder auf. »Und nun auch noch die Sache mit Fritz. Einfach furchtbar. Obwohl... na ja, komisch ist es schon, oder finden Sie nicht?«
»Was?« Pieplow war irritiert. Was, bitte schön, sollte an zwei Toten komisch sein?
»Merkwürdig, besser gesagt«, korrigierte sie sich. »Ja, merkwürdig ist es schon... so kurz hintereinander... als wenn er ihr gefolgt wäre.« In Waltraud Papes langsamem Kopfschütteln lag Verwunderung. »Nach all den Jahren...«, murmelte sie gerade so laut, dass Pieplow sie verstand, ohne zu wissen, worauf sie hinauswollte.
»Das hört sich ja an, als hätte er das früher schon mal getan. Ihr folgen.« Pieplow war interessierter, als er sich anmerken ließ.
»Ja, sicher doch, wussten Sie das nicht?«
»Vielleicht war das vor meiner Zeit?« Pieplow ließ offen, welche Zeit er meinte. Die auf Hiddensee oder die überhaupt auf dieser Welt.
Über den Rand ihrer Brille hinweg sah sich Waltraud Pape sorgfältig um. Nach links, wo der Kater nicht mehr unter dem Apfelbaum lag, und nach rechts zum Haus, in dem es noch immer so still war, als sei niemand da.
»Ende der Siebziger muss es gewesen sein, genauer weiß ich es auch nicht mehr.« Waltraud Pape rückte auf ihrer Bank ein wenig nach hinten und lehnte sich an. Wer bequem saß, hatte mehr vom Geschichtenerzählen.
Diese, so rechnete Pieplow nach, musste sich zugetragen haben, als er ABC-Schütze war.
Fritz Niemann war damals schon kein junger Hüpfer mehr. Wanda auch nicht, obwohl sie gut zehn Jahre jünger war als er und gut aussah. Sehr gut. Trotzdem gab es keinen Mann in ihrem Leben. Jedenfalls nicht, soweit man wusste. Denn von dem, was drüben in Bergen passierte, erfuhr man nicht viel. Höchstens, es lag jemand im Krankenhaus. Dann traf man Wanda natürlich öfter. Als Patient oder Besucher, je nachdem. Immer war sie freundlich, immer patent. Aber nie sah man sie mit einem Mann, den sie näher zu kennen schien.
»Sie wird ihre Gründe gehabt haben.« Waltraud Pape zog nachdenklich die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich. Ist ja auch nicht immer das reinste Honigschlecken, so eine Ehe.« Sie machte eine Pause, mit der sie Pieplow die Gelegenheit gab, sich zu dieser Erkenntnis zu äußern. Möglich, sagte ihr Elsternblick, dass ich dann erfahre, warum er in Hinsicht Ehe so wenig zu Potte kommt. Es hätte sie interessiert. Und ein paar andere Damen auch noch, die sich fragten, warum ein so gutaussehender Enddreißiger mit Pensionsanspruch nicht unter die Haube zu bringen war.
Pieplow verzichtete auf einen Kommentar. Stattdessen nahm er noch ein paar Kirschen.
»Aber dass sie sich ausgerechnet in Fiete Niemann verguckt – nee! Und wie, sag ich Ihnen! Man konnte nur den Kopf darüber schütteln.« Das tat sie jetzt, dreißig Jahre später, noch einmal so ausführlich, dass ihr faltiges Doppelkinn nachbebte.
Alle hatten es gewusst, erfuhr Pieplow, auch wenn die beiden dachten, es merkt keiner was. Solche Sachen ließen sich nicht geheim halten. Nicht auf Hiddensee. Auch nicht, dass bei Niemanns zwei Jahre der Haussegen schief hing wie ein Kutter im Kaventsmann. Böses, bitteres Schweigen, in dem Käthe Niemann immer härter und kälter wurde.
»Und Fritz?«, fragte Pieplow, obwohl er sich denken konnte, wie der alte Niemann sich aus der Affäre gezogen hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
»Der?« Waltraud Pape pustete verächtlich Luft durch die Nase. »Der hatte sein Schiff und seinen Schnaps. Damals schon. Wenn auch noch nicht so viel wie später.«
Pieplow nickte. So kannte er den ollen Niemann. Schweigend am Hafen sitzen. Ständig die Pfeife im Mund und keinen Schnaps ablehnen, wenn einer ihn anbot.
»Für die Jungs war’s schwer«, fuhr Waltraud Pape fort. »Die sind gar nicht mehr nach Hause gegangen, wenn’s nicht unbedingt sein musste. Haben sich lieber am Hafen herumgetrieben. Oder draußen am Schubboot-Anleger. Manfred vor allem. Der war damals schon verrückt nach Autos. Kein Wunder, dass...«
»Wer?« Pieplow war mit einem Mal sehr aufmerksam. Schon als sie von den Jungs sprach, hatte er aufgehorcht. Dass jetzt von Manfred die Rede war, ließ ihn noch hellhöriger werden.
»Ich dachte, der junge Niemann heißt Hans. Gab es denn noch einen Sohn?«
Waltraud Pape musterte ihn zwei zögernde Sekunden lang. Du sollst nun der Richtige sein, Licht ins Dunkel der Inselabgründe zu bringen?, fragte ihr Blick. Ein Utwartscher, der von nix eine Ahnung hat? Nun ja.
»Nicht direkt. Aber großgezogen haben sie ihn, den Sohn von Käthes Schwester. Manfred Graber. Wussten Sie das nicht?«
Pieplow schüttelte den Kopf. »Und warum? Was war mit den Eltern?«
Waltraud Papes stummer Fingerzeig wies durch den Garten, am Haus vorbei Richtung Westen, wo hinter den Bäumen die See lag. »Abgehauen. Anfang der Siebziger schon.« In ihrer Stimme schwang deutlich Verachtung.
»Abgehauen?«, echote Pieplow und erhielt ein nachdrückliches Nicken zur Antwort.
»Und das Kind hiergelassen?«
»Tja.« Was sollte man mehr dazu sagen? So was hatte es eben gegeben. Auch hier. Leider.
Sie schwiegen eine Weile. Waltraud Pape wieder mit ihren Kirschen und Pieplow mit der Frage beschäftigt, ob das alles, polizeilich gesehen, überhaupt von Bedeutung war.
»Vor dreißig Jahren hätte ich gesagt, sie waren’s«, half Waltraud Pape ihm auf die Sprünge. »Sie haben Wanda von der Klippe gestoßen.«
»Wer?«
»Hans und Manfred natürlich. Die beiden haben sie gehasst, für das, was sie Käthe angetan hat. Erst recht...« Wieder ein schneller, sichernder Blick und die Stimme zum Raunen gesenkt. »... erst recht, nachdem Manfred die beiden erwischt hat. Fritz und Wanda in flagranti sozusagen. Und wissen Sie wo?« Kunstpause. »Unten am Bodden bei Fietes Aalbucht. Da, wo ihr ihn heute Morgen gefunden habt.« In Waltrauds Miene zog Mitleid. Nicht mit dem toten Niemann, wie Pieplow zunächst glaubte. »Für den Jungen wird’s ein Schock gewesen sein. Und ein Grund mehr, Wanda die Pest an den Hals zu wünschen.«
»Sie sehen, mein lieber Pieplow, Waltraud gibt der Mordtheorie den Vorzug. Wie so mancher hier, fürchte ich. Dagegen ist auch mit den besten Sektionsergebnissen nicht anzukommen.« Ausgeruht, mit rosigen Wangen und frisch gekämmtem Haarkranz trug der Professor das Tablett mit Kaffeegeschirr vor sich her. Wie ein Kellner das Serviertuch über dem Unterarm die Tischdecke. Blau geblümt diesmal. »Sind Sie schon lange hier?«
»Eine Dreiviertelstunde.« Waltraud Pape antwortete, obwohl die Frage an Pieplow gerichtet war. »Ihr habt euch ja Zeit gelassen.«
Der Professor strahlte zufrieden. »Ich sage nur Heringsfilet, Pellkartoffeln, Specksoße, grüner Salat, Vanille-Pudding mit Sauerkirschen – führt unweigerlich zu Suppenkoma. Postalimentäre Somnolenz, wie man so schön sagt.«
Postalimentär?, fragte sich Pieplow, als Hilde Gottschalk mit Milch und Kaffeekanne aus dem Haus kam. Er dachte an etwas ganz anderes und bekam vor Verlegenheit fast so rosige Wangen wie Hilde und der Professor.