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»Du sollst heute um Mitternacht am Swanti sein«,
verkündete Kästner, kaum, dass Pieplow die Tür der Wachstube hinter
sich ins Schloss gedrückt hatte. Die feinen Muskeln um Augen und
Mundwinkel zuckten verräterisch gegen den Versuch, dienstlichen
Ernst zu zeigen.
Pieplow tat ihm den Gefallen. Aus Gewohnheit und
weil es immer gut fürs Betriebsklima war, sich auf Kästners Scherze
einzulassen.
»Und wieso das? »Er gab sich so erstaunt, wie es
erwartet wurde.
»Weil Wanda dorthin kommt und dich zu ihrem
Mörder führt.«
»Bitte?«, fragte Pieplow irritiert. »Findest du
das jetzt wirklich komisch?« Ihm lagen die Ereignisse der letzten
dreißig Stunden noch so schwer auf dem Gemüt, dass er für diese Art
Witz wenig Verständnis aufbrachte.
»Frag das die Spinner, die reihenweise bei der
Kripo anrufen. Unter Mord tun sie’s nicht. Mit so was Langweiligem
wie einer einfachen Todesfallermittlung halten die sich gar nicht
auf. Schöbel sagt, es sind noch ganz andere Schoten dabei.«
»Was denn, zum Beispiel?«
»Kannibalismus.« Kästner genoss den Blick in
Pieplows entsetzten Augen. »Oder ein Medium, das seine Visionen
gern in den Dienst der Ermittlungsbehörden stellen würde. Gegen
Honorar, versteht sich. Andernfalls müssten wir leider allein
herausfinden, was passiert ist.« In Kästners Blick glänzte etwas
Triumphierendes. Er hatte es immer gewusst. In dieser Welt wimmelte
es von Verrückten. »Auch die Behauptung, Wanda sei einer
satanistischen Verschwörung zum Opfer gefallen, ist nicht
übel.«
Pieplow ging zur Kaffeemaschine und füllte sich
seinen Becher randvoll, bevor er sich setzte und anhörte, was
Schöbel sonst noch berichtet hatte, bevor er nach Bergen
zurückgefahren war.
Mehr als dreißig Anrufe mit mehr oder weniger
sachdienlichen Hinweisen waren seit gestern eingegangen. Etliche
aus der Sparte Hellsehen und Wahrsagen inklusive der Ankündigung
düsterer Folgen für den Fall, dass Wanda Sievekings Tod nicht
gesühnt wurde.
Einigen war Wanda erschienen und hatte
Botschaften hinterlassen.
»Dafür, dass sie tot ist, hat sie gut zu tun,
das steht mal fest«, flachste Kästner und machte dazu
Schwebebewegungen mit den Armen.
Was sollte ihm jemand entgegnen, dem das selbst
widerfahren war? Pieplow schwieg mit ausdruckloser Miene. Seine
nächtliche Begegnung mit Wanda ging niemanden etwas an. Kästner
schon gar nicht.
Zwei Wanderer behaupteten unabhängig
voneinander, eine helle Gestalt im Hochland gesehen zu haben. Einer
in der Nähe des Leuchtturms, der andere auf dem Weg aus dem
Honiggrund hoch zum Swanti. Beide seien zu weit weg gewesen, als
dass sie Genaueres sagen konnten. Aber beide erstaunt, dass außer
ihnen noch jemand so spät in der Dunkelheit unterwegs war.
»So sind sie, die Leute. Treiben sich zur
Geisterstunde in der Wildnis herum und wundern sich, dass es noch
andere Irre gibt, die dasselbe tun.« Kästner hielt sich viel auf
seinen gesunden Schlaf zugute. Auf die Idee, nach Sonnenuntergang
über die Insel zu streifen, war er seit seiner Jugend nicht mehr
gekommen.
Pieplow dachte an die Nächte, in denen er erst
gegen Morgen nach Hause gekommen war. Endlich müde und so
erschöpft, dass selbst die Gespenster seiner Rostocker Zeit keine
Chancen hatten und sein Schlaf traumlos blieb. »Wohl wahr. Solche
Irren gibt’s.« Das Lächeln, mit dem er Kästner beipflichtete, fiel
ein wenig schief aus.
Kästner musterte ihn skeptisch. Für
Doppelbotschaften hatte er ein feines Gespür. Doch schließlich
sagte er nur: »Schön, dass du da wenigstens meiner Meinung bist«,
und schob Pieplow ein Schreiben über den Tisch zu. »Das hat Schöbel
eben gefaxt.«
Amtlich, das sah Pieplow schon, bevor es richtig
vor ihm lag. Staatsanwaltschaft. Die Obduktionsanweisung für Fritz
Niemann. Also doch. »Hat er auch gesagt, warum?«
Kästner zuckte mit den Schultern. »Irgendwas von
unklaren Umständen und vorsichtshalber in Anbetracht der
Ereignisse. Was weiß ich, was in einem Staatsanwaltskopf vorgeht.
In Anbetracht der Ereignisse – das hört sich ja an, als ginge hier
ein Serienmörder um.«
Mist, dachte Pieplow. Er würde die Familie
informieren müssen. Diesmal nicht, weil Kästner sich vor so was
gern drückte. Diesmal, weil er selbst versprochen hatte, sich darum
zu kümmern.
»Alles klar. Ich sag’ Käthe Niemann
Bescheid.«
»Und dem Professor«, ergänzte Kästner.
»Wieso das?«
»Schöbel weiß, dass der Schnippler eigentlich
Urlaub hat. Trotzdem soll er gefragt werden, ob er die Obduktion
übernimmt, weil er doch schon die äußere Leichenschau gemacht
hat.«
»Dann wäre es vielleicht das Einfachste, er ruft
ihn an?«
»Schon. Aber der Herr Professor ist nicht
erreichbar. Hat sein Telefon abgestellt.«
Pieplow griff wortlos nach Autoschlüssel und
staatsanwaltschaftlicher Anordnung.
»Moment, Moment!« Kästner gebot ihm mit
erhobener Hand Einhalt. »Das ist noch nicht alles.«
»Was denn noch?«
»Schöbel will wissen, wo Manfred Graber
vorletzte Nacht war. Zwei von den Anrufern haben nämlich behauptet,
dass Wanda ermordet worden ist und dass sie auch wüssten, von
wem.«
»Manfred Graber?«, fragte Pieplow
erstaunt.
»Genau der.« Kästner nickte bedeutungsvoll.
»Weil ihm das Wasser bis zum Hals steht und weil Marlies als
einzige Verwandte Wandas Vermögen erbt, sagen sie. Anonym,
natürlich.« Kästners verächtlicher Ton machte klar, was er davon
hielt.
»Gibt’s denn so was? Ein Vermögen, meine ich.«
Pieplow dachte an Wandas Haus. Schön, aber schlicht. Irgendeinen
Hinweis auf Reichtum hatte er nicht entdecken können. Aber das
musste nichts heißen. Wanda wäre nicht die Einzige, die ein
erkleckliches Sümmchen auf der hohen Kante hatte und das sorgfältig
verbarg. Das war besser, als den Neid der Hiddenseer zu wecken,
denen man nachsagte, sie gönnten keinem auch nur einen Fischschwanz
mehr, als sie selbst besaßen.
»Keine Ahnung. Es war nicht die Rede davon, dass
sie Geld hatte. Und selbst wenn. Das gibt niemandem das Recht,
solche Gerüchte zu verbreiten. Und wenn sich die beiden Pfeifen
hundert Mal mit ihm überworfen haben.« Kästner schnaubte
empört.
»Wie wär’s, wenn du mir verrätst, von wem du
sprichst?« Pieplow hatte da so seine Vermutungen, wollte aber
sichergehen, dass sie an dieselben Männer dachten.
»Von wem wohl? Der eine war Pulle, da gebe ich
dir Brief und Siegel drauf. Und Zorowski. Von den anderen Halunken,
denen ich das Gleiche zutrauen würde, ganz zu schweigen.«
Pulle Nowack, der so hieß, weil er praktisch nie
ohne Kornflasche unterwegs war, wenn er Hecken schnitt oder Rasen
mähte. Der, wenn’s schlecht lief, zwei Tage brauchte für das, was
Manfred Graber in vier Stunden schaffte und Nowack damit nach und
nach fast alle Kunden abspenstig machte. Denn die interessierte
nur, wer ihnen zuverlässig den Garten auf Vordermann brachte, und
nicht, wer am längsten im Geschäft war.
Und Zorowski. Dennis Zorowski. Ein jähzorniger
Tagedieb mit einem Hang zu Schlägereien nach Fußballübertragungen.
Als ihn Manfred Graber im vergangenen Jahr vorm Wieseneck windelweich prügelte, hatte Kästner sogar
mit Reizgaseinsatz drohen müssen, um die Streithähne zu
trennen.
»Ich hab Schöbel geraten, sich die beiden mal
genau anzugucken, bevor er sich mit solchen Zeugen auf Mördersuche
begibt.«
»Sagtest du nicht, die Anrufe waren
anonym?«
»Klar waren sie das. Was ja wohl nichts heißt,
wenn der eine zwischen Stumpen und Zahnlücke durchnuschelt und der
andere das’R’ rollt, als wär’ er nicht von hier.«
Noch hatte Kästner die Anrufaufzeichnungen nicht
gehört, wusste auch nicht, ob sie ihm jemals vorgespielt würden.
Aber wenn, dann würde er die unverwechselbaren Stimmen erkennen,
verkündete er, dann wäre Schluss mit der Anonymität von Pulle und
Zorro. Und mit jeder Art von Polizistenhöflichkeit. Von wegen
Zeugen. »Der größte Lump im Land ist und bleibt der Denunziant. Ist
zumindest meine Meinung.«
Und mit der hatte Kästner noch nie hinterm Berg
gehalten, das wusste Pieplow.
Der Besuch bei Käthe Niemann war kurz. Sie bat
ihn nicht ins Haus. Sie verzog keine Miene. Stand nur still da mit
ihrem krummen Rücken und musterte ihn aus bleichen, wässrigen
Augen. Sagte mit tonloser Stimme schließlich: »Dass ihr ihm das
antut...« und machte Pieplow die Tür vor der Nase zu, bevor er
etwas erwidern konnte.
Was auch? Oberflächlichkeiten aus dem
Ermittlungsalltag? Irgendwas, das sich anhörte wie aus der
Strafprozessordnung? Anhaltspunkte. Nichtnatürlicher Tod. Meldung
an die Staatsanwaltschaft. Nein, dann war es besser so. Keine
Erklärungen, kein Kommentar. Keine Plattitüde, die Käthe Niemanns
Schmerz sowieso nicht gerecht wurde.
Und nichts davon, dass Pieplow glaubte, sie zu
verstehen.
Dass Fritz Niemann von seiner Insel fortgebracht
wurde, war schon bedrückend genug. Wie abstoßend, ihn jetzt auch
noch von oben nach unten aufzuschneiden. Ihm die Kopfhaut vom
Schädel zu ziehen und das Herz aus dem Leib zu nehmen. Nur um
festzustellen, dass es alt war. Alt und müde und nun eben
still.
Fürchterlich, dachte Pieplow und schüttelte den
Kopf voller Widerwillen. Gegen den Staatsanwalt, den er gar nicht
kannte. Gegen Schöbel, weil der Wandas Tod und Fritz Niemanns
friedliches Sterben über einen Kamm scherte.
Angesichts der Umstände!
Pieplow schüttelte wieder den Kopf.
Verständnislos diesmal, denn beides hatte nichts miteinander zu
tun, das wusste er.
Nur leider nicht, wieso und woher.
Vom Niemannschen bis zum Papeschen Grundstück
war es nicht weit. Pieplow ließ den Streifenwagen stehen und ging
zu Fuß.
In den Gärten rechts und links des sandigen
Weges schien die Mittagsstille vollkommen. Schmetterlinge auf den
dunkelvioletten Dolden eines Sommerflieders. Die Arbeit der Bienen
in den gelben Kelchen der mannshohen Königskerzen genauso lautlos
wie die Plackerei der Ameisen auf ihrer Straße unter dem Baumstamm
am Zaun. Über allem der harzige Duft aus den sonnengewärmten
Kiefern.
Keine Maschinengeräusche, keine Menschenstimmen.
Nicht mal Vogelgezwitscher.
Hinter der Haustür blieb es noch still, nachdem
Pieplow ein zweites Mal auf den Knopf über den beiden
Namenschildern gedrückt hatte.
Pape. Gottschalk.
Hilde Gottschalk hatte nicht immer bei ihrer
Mutter gewohnt. Sie war wieder hier eingezogen, als ihr Mann Anfang
der neunziger Jahre beschloss, sich im Westen eine goldene Nase zu
verdienen. Dass er damit Erfolg und außerdem ein schlechtes
Gewissen hatte, bescherte ihr zwar auskömmliche
Unterhaltszahlungen, aber auf Männer war sie seitdem nicht
sonderlich gut zu sprechen gewesen. Das hatte sich erst vor zwei
Jahren geändert, als im Schlesinger-Fall die Gerichtsmedizin
Greifswald hinzugezogen wurde und Professor Wolfgang Dahlke für ein
paar Tage Quartier brauchte. Da war Hilde Gottschalk fast sechzig
gewesen und alt genug, keinen Pfifferling mehr auf das Gerede zu
geben, als sie sich in den Professor verliebte, den die Leute
vielleicht nicht ganz zu Unrecht für ein wenig eigenartig, um nicht
zu sagen verschroben hielten. Momentan hatte er offenbar alle
Verbindungen zur hektischen Welt jenseits des Boddens gekappt und
war eingetaucht in die Ruhe der Insel.
Das fand Pieplow keineswegs verschroben, und er
störte ihn wirklich ungern. Aber wenn er unverrichteter Dinge
wieder abzog, würde es womöglich zu spät für die Obduktions-Anfrage
werden. Es sei denn, das Gespräch mit Manfred Graber würde sehr
kurz werden. Weil er sich darauf nicht verlassen wollte, öffnete
Pieplow das Gartentor und machte sich auf die Suche nach dem
Professor. Oder einer verlässlichen Person, die ihn veranlassen
konnte, sich mit Schöbel in Verbindung zu setzen.
Er fand sie auf der Bank am Gartentisch. Bei
seinem letzten Besuch war er gedeckt gewesen wie auf einem
Postkartenidyll. Rosen und Schleierkraut in bauchiger Kanne,
geblümtes Geschirr auf weißer Leinendecke. Heute standen Schüsseln
und ein großes Sieb auf dem grauen Holz der Tischplatte. Davor saß
Waltraud Pape und streckte ihm ihre blutroten Hände entgegen.
»Ich wollte das nicht, Herr Wachtmeister. Aber
ich musste es tun.« Sie hielt die Arme so dicht beieinander, als
sollten sich Handschellen um ihre Gelenke schließen, und freute
sich über ihren Einfall. »Setzen Sie sich doch. Zum Mittag sind Sie
zu spät und zum Kaffee ein bisschen früh dran.« Der Kirschsaft
troff von ihrer Hand, als sie auf einen Stuhl neben sich wies.
»Aber wenn ich die paar Dinger noch entkernt habe, setze ich Wasser
auf.« Die paar Dinger waren mindestens fünf Kilo Schattenmorellen,
die in einem Eimer zu ihren Füßen aufs Entsteinen warteten.
»Schönen Dank auch, Frau Pape, aber ich komme
nicht zum Kaffeetrinken. Ich müsste nur kurz mit Professor Dahlke
sprechen, wenn’s geht.«
»Wie spät ist es denn?« Sie hatte ihre Arbeit
wieder aufgenommen und sah nicht auf.
»Zwanzig nach zwei.«
»Na, sehen Sie, ist doch die Zeit, wo man ein
Tässchen vertragen kann. Wenn ich ins Haus gehe, sage ich Bescheid,
dass Sie da sind. Nun setzen Sie sich schon und leisten mir ein
bisschen Gesellschaft.«
Etwas von fehlender Zeit und dringenden
Dienstgeschäften lag Pieplow auf der Zunge. Aber dann ging sein
Blick durch den Garten mit dem ausladenden Apfelbaum und dem
schläfrigen Kater, der nur ein halbgeöffnetes Auge auf den
ungewohnten Besucher hatte, bevor er sich auf die Seite rollte, um
sein getigertes Bauchfell in die Sonne zu halten.
Was soll’s, dachte er. Es gibt schlechtere
Plätze, um ein unerfreuliches Gespräch auf die lange Bank zu
schieben. Und mit Waltraud Pape war ganz sicher besser Kirschen
essen als mit Manfred Graber. Auch wenn sie Haare auf den Zähnen
hatte, wie es hieß.
Also setzte er sich.
»Worum geht’s denn, wenn man fragen darf?«
Behaarte Zähne und neugierig, dachte Pieplow,
das lässt sich gewiss polizeilich nutzen.
»Och, dienstlich«, gab er knapp wie gelangweilt
Auskunft. Seine Intuition sagte ihm, dass man alte Damen mit
elsternschnellen braunen Augen und hellhörigen Ohren am besten ein
wenig schmoren ließ. Das erhöhte Wissbegier und
Mitteilungsbedürfnis gleichermaßen.
»Geht’s um Wanda?«
»Auch. Ja.« Pieplow beugte sich vor und
stibitzte ein paar weiche, entsteinte Früchte.
»Kirschmarmelade?«
»Auch, ja«, machte sie ihn nach und klang leicht
pikiert.
Pieplow kaute und schwieg.
»Schreckliche Geschichte.« Mit einem Seufzer
nahm Waltraud Pape den Gesprächsfaden wieder auf. »Und nun auch
noch die Sache mit Fritz. Einfach furchtbar. Obwohl... na ja,
komisch ist es schon, oder finden Sie nicht?«
»Was?« Pieplow war irritiert. Was, bitte schön,
sollte an zwei Toten komisch sein?
»Merkwürdig, besser gesagt«, korrigierte sie
sich. »Ja, merkwürdig ist es schon... so kurz hintereinander... als
wenn er ihr gefolgt wäre.« In Waltraud Papes langsamem
Kopfschütteln lag Verwunderung. »Nach all den Jahren...«, murmelte
sie gerade so laut, dass Pieplow sie verstand, ohne zu wissen,
worauf sie hinauswollte.
»Das hört sich ja an, als hätte er das früher
schon mal getan. Ihr folgen.« Pieplow war interessierter, als er
sich anmerken ließ.
»Ja, sicher doch, wussten Sie das nicht?«
»Vielleicht war das vor meiner Zeit?« Pieplow
ließ offen, welche Zeit er meinte. Die auf Hiddensee oder die
überhaupt auf dieser Welt.
Über den Rand ihrer Brille hinweg sah sich
Waltraud Pape sorgfältig um. Nach links, wo der Kater nicht mehr
unter dem Apfelbaum lag, und nach rechts zum Haus, in dem es noch
immer so still war, als sei niemand da.
»Ende der Siebziger muss es gewesen sein,
genauer weiß ich es auch nicht mehr.« Waltraud Pape rückte auf
ihrer Bank ein wenig nach hinten und lehnte sich an. Wer bequem
saß, hatte mehr vom Geschichtenerzählen.
Diese, so rechnete Pieplow nach, musste sich
zugetragen haben, als er ABC-Schütze war.
Fritz Niemann war damals schon kein junger
Hüpfer mehr. Wanda auch nicht, obwohl sie gut zehn Jahre jünger war
als er und gut aussah. Sehr gut. Trotzdem gab es keinen Mann in
ihrem Leben. Jedenfalls nicht, soweit man wusste. Denn von dem, was
drüben in Bergen passierte, erfuhr man nicht viel. Höchstens, es
lag jemand im Krankenhaus. Dann traf man Wanda natürlich öfter. Als
Patient oder Besucher, je nachdem. Immer war sie freundlich, immer
patent. Aber nie sah man sie mit einem Mann, den sie näher zu
kennen schien.
»Sie wird ihre Gründe gehabt haben.« Waltraud
Pape zog nachdenklich die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den
Schultern. »Was weiß ich. Ist ja auch nicht immer das reinste
Honigschlecken, so eine Ehe.« Sie machte eine Pause, mit der sie
Pieplow die Gelegenheit gab, sich zu dieser Erkenntnis zu äußern.
Möglich, sagte ihr Elsternblick, dass ich dann erfahre, warum er in
Hinsicht Ehe so wenig zu Potte kommt. Es hätte sie interessiert.
Und ein paar andere Damen auch noch, die sich fragten, warum ein so
gutaussehender Enddreißiger mit Pensionsanspruch nicht unter die
Haube zu bringen war.
Pieplow verzichtete auf einen Kommentar.
Stattdessen nahm er noch ein paar Kirschen.
»Aber dass sie sich ausgerechnet in Fiete
Niemann verguckt – nee! Und wie, sag ich Ihnen! Man konnte nur den
Kopf darüber schütteln.« Das tat sie jetzt, dreißig Jahre später,
noch einmal so ausführlich, dass ihr faltiges Doppelkinn
nachbebte.
Alle hatten es gewusst, erfuhr Pieplow, auch
wenn die beiden dachten, es merkt keiner was. Solche Sachen ließen
sich nicht geheim halten. Nicht auf Hiddensee. Auch nicht, dass bei
Niemanns zwei Jahre der Haussegen schief hing wie ein Kutter im
Kaventsmann. Böses, bitteres Schweigen, in dem Käthe Niemann immer
härter und kälter wurde.
»Und Fritz?«, fragte Pieplow, obwohl er sich
denken konnte, wie der alte Niemann sich aus der Affäre gezogen
hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
»Der?« Waltraud Pape pustete verächtlich Luft
durch die Nase. »Der hatte sein Schiff und seinen Schnaps. Damals
schon. Wenn auch noch nicht so viel wie später.«
Pieplow nickte. So kannte er den ollen Niemann.
Schweigend am Hafen sitzen. Ständig die Pfeife im Mund und keinen
Schnaps ablehnen, wenn einer ihn anbot.
»Für die Jungs war’s schwer«, fuhr Waltraud Pape
fort. »Die sind gar nicht mehr nach Hause gegangen, wenn’s nicht
unbedingt sein musste. Haben sich lieber am Hafen herumgetrieben.
Oder draußen am Schubboot-Anleger. Manfred vor allem. Der war
damals schon verrückt nach Autos. Kein Wunder, dass...«
»Wer?« Pieplow war mit einem Mal sehr
aufmerksam. Schon als sie von den Jungs
sprach, hatte er aufgehorcht. Dass jetzt von Manfred die Rede war,
ließ ihn noch hellhöriger werden.
»Ich dachte, der junge Niemann heißt Hans. Gab
es denn noch einen Sohn?«
Waltraud Pape musterte ihn zwei zögernde
Sekunden lang. Du sollst nun der Richtige sein, Licht ins Dunkel
der Inselabgründe zu bringen?, fragte ihr Blick. Ein Utwartscher,
der von nix eine Ahnung hat? Nun ja.
»Nicht direkt. Aber großgezogen haben sie ihn,
den Sohn von Käthes Schwester. Manfred Graber. Wussten Sie das
nicht?«
Pieplow schüttelte den Kopf. »Und warum? Was war
mit den Eltern?«
Waltraud Papes stummer Fingerzeig wies durch den
Garten, am Haus vorbei Richtung Westen, wo hinter den Bäumen die
See lag. »Abgehauen. Anfang der Siebziger schon.« In ihrer Stimme
schwang deutlich Verachtung.
»Abgehauen?«, echote Pieplow und erhielt ein
nachdrückliches Nicken zur Antwort.
»Und das Kind hiergelassen?«
»Tja.« Was sollte man mehr dazu sagen? So was
hatte es eben gegeben. Auch hier. Leider.
Sie schwiegen eine Weile. Waltraud Pape wieder
mit ihren Kirschen und Pieplow mit der Frage beschäftigt, ob das
alles, polizeilich gesehen, überhaupt von Bedeutung war.
»Vor dreißig Jahren hätte ich gesagt, sie
waren’s«, half Waltraud Pape ihm auf die Sprünge. »Sie haben Wanda
von der Klippe gestoßen.«
»Wer?«
»Hans und Manfred natürlich. Die beiden haben
sie gehasst, für das, was sie Käthe angetan hat. Erst recht...«
Wieder ein schneller, sichernder Blick und die Stimme zum Raunen
gesenkt. »... erst recht, nachdem Manfred die beiden erwischt hat.
Fritz und Wanda in flagranti sozusagen. Und wissen Sie wo?«
Kunstpause. »Unten am Bodden bei Fietes Aalbucht. Da, wo ihr ihn
heute Morgen gefunden habt.« In Waltrauds Miene zog Mitleid. Nicht
mit dem toten Niemann, wie Pieplow zunächst glaubte. »Für den
Jungen wird’s ein Schock gewesen sein. Und ein Grund mehr, Wanda
die Pest an den Hals zu wünschen.«
»Sie sehen, mein lieber Pieplow, Waltraud gibt
der Mordtheorie den Vorzug. Wie so mancher hier, fürchte ich.
Dagegen ist auch mit den besten Sektionsergebnissen nicht
anzukommen.« Ausgeruht, mit rosigen Wangen und frisch gekämmtem
Haarkranz trug der Professor das Tablett mit Kaffeegeschirr vor
sich her. Wie ein Kellner das Serviertuch über dem Unterarm die
Tischdecke. Blau geblümt diesmal. »Sind Sie schon lange
hier?«
»Eine Dreiviertelstunde.« Waltraud Pape
antwortete, obwohl die Frage an Pieplow gerichtet war. »Ihr habt
euch ja Zeit gelassen.«
Der Professor strahlte zufrieden. »Ich sage nur
Heringsfilet, Pellkartoffeln, Specksoße, grüner Salat,
Vanille-Pudding mit Sauerkirschen – führt unweigerlich zu
Suppenkoma. Postalimentäre Somnolenz, wie man so schön sagt.«
Postalimentär?, fragte sich Pieplow, als Hilde
Gottschalk mit Milch und Kaffeekanne aus dem Haus kam. Er dachte an
etwas ganz anderes und bekam vor Verlegenheit fast so rosige Wangen
wie Hilde und der Professor.