14
Weil vier Stunden Schlaf wohl doch etwas wenig waren, konnte Pieplow sich dieser Frage am nächsten Morgen nicht widmen.
Er überhörte den Wecker, verschlief und hatte nicht mal eine halbe Stunde Zeit, vom Bett aufs Revier zu kommen.
Kästner wartete schon mit dem fertigen Schlachtplan.
Zuerst ans Süderende. Zu Quidde, Enno, der Oberflitzpiepe. Streifenwagen direkt vor die Tür. Keine Samthandschuhe. Nicht lange fackeln. Eben das, was zum Standard in Kästners Repertoire gehörte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ihnen geöffnet wurde und Kästner loslegen konnte.
»Ihr habt wohl gedacht, ihr kommt ungeschoren davon?« Er legte eine Mischung aus Hohn, Drohung und Feldwebeljovialität in die Frage. »Falsch gedacht, Bürschchen! Und diesmal gibt’s richtig Ärger, das lass dir gesagt sein!«
Vor Ennos verschlafenem Mondgesicht pendelte in Kästners erhobener Hand der Plastikbeutel, in den er das entscheidende Beweisstück verpackt hatte. Die rot verschmierte Spraydose mit Fingerspuren, die sich verräterisch gut auf dem Dosenmantel abzeichneten.
»Das ist nicht meine.« Ennos Augenlider flatterten nur kurz. Seine Stimme kratzte und klang pelzig, aber fest.
Er hält sich wacker, wenn man bedenkt, dass wir ihn aus dem Bett geholt haben, dachte Pieplow, der eine Stufe unter Kästner auf der Haustreppe stand.
»Aber du weißt, wem sie gehört und wer sie wozu benutzt hat. Also raus mit der Sprache oder das Ding hier wandert in die Kriminaltechnik und dann seid ihr fällig!« Kästner machte einen einschüchternden Schritt auf den Jungen zu und wäre beinahe mit Vera Quidde zusammengeprallt. Sie war barfuß und ebenso verschlafen wie ihr Sohn, aber entschieden weniger kleinlaut.
»Moment!« Die rechte Hand streckte sie abwehrend Kästner entgegen, mit der linken hielt sie ihren Bademantel zusammen. »Ich glaube nicht, dass du hier so einfach reinspazieren kannst, ohne dass ich es erlaube. Und bevor ich das tu’, wüsste ich gern, worum’s geht.«
Kästner ließ Plastikbeutel und Spraydose sinken. »Morgen, Vera. Gut, dass du da bist.« Es war ihm nicht anzumerken, dass ihre Anwesenheit ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Er hätte sich ihren Sohn, diesen verzogenen Lümmel, gern allein vorgeknöpft. »Wir ermitteln in der Sache am Klausner vorgestern Nacht.«
»Was für eine Sache?«
Sie schien tatsächlich nichts von dem zu wissen, was Kästner ihr beschrieb. »Das ist kein Pappenstiel, Vera, das hat Konsequenzen«, mahnte er. »Da geht’s nicht mehr um Laternenkuppeln oder Fassadenfarbe. So was ist nicht nur strafbar, sondern auch teuer, ziemlich teuer.«
Es waren wohl weniger die Kosten, die Vera Quidde ärgerlich werden ließen, als der Umstand, dass es diesmal einen Geschädigten gab, mit dem weniger gut Kirschen essen war als mit der Gemeindeverwaltung. Oder der Feuerwehr. Mit dem Klausner-Wirt überwarf man sich besser nicht. Entsprechend streng musterte sie ihren Sohn. »Bist du dabei gewesen?«
»Nein! Ehrlich nicht.« Mit Unschuldsmiene erwiderte Enno ihren Blick. »Und wer’s war, weiß ich auch nicht.«
»Lüg mich nicht an!«
»Tu ich nicht. Echt nicht.«
»Das werden wir ja sehen, wenn wir mit euch fertig sind.« Kästner ließ nicht locker und Pieplow befürchtete, dass ihm heute noch ein paar ähnliche Szenen bevorstanden. Schließlich mussten mindestens noch Harri und Wiesel die Leviten gelesen und Konsequenzen angedroht werden.
Pieplows Gedanken schweiften ab. Zu ungleichen Freunden, die sich ein paar Sommer lang unbesiegbar fühlten. Zu Matze, der ohne Schuhe Fußball spielte und auf einem viel zu großen Damenrad schneller als andere zwischen Weststrand und Bodden herumkarjolte. Zu Siggi, der seinen abgewetzten Lederball immer und überall mit sich herumschleppte und sogar in den Ferien mit dem Lehrer auf Kriegsfuß stand. Die Sache mit dem Fisch war seine Idee gewesen. Sechs Zanderköpfe, nicht mehr ganz frisch, mit gezielten Würfen durch die Gaube ins Arbeitszimmer direkt auf die Pläne fürs neue Schuljahr. Nie zuvor war Pieplow schneller gelaufen als in dieser Nacht. Nie wieder hatte er so hartnäckig und erfolgreich gelogen wie in den Wochen danach. Allen Leviten und Konsequenzen zum Trotz.
Als seine Aufmerksamkeit auf die Haustreppe der Familie Quidde zurückkehrte, wies Kästner gerade auf die Notwendigkeit einer festen, durchgreifenden Hand und die Gefahren hin, die es barg, wenn Eltern ihren Kindern alles durchgehen lassen.
Vorm Zaun auf der Straße blieben die ersten Leute stehen.
Es war an der Zeit, der Angelegenheit eine andere Richtung zu geben, fand Pieplow. Eine, die Enno aus dem bockigen Schweigen herausholte, mit dem er neben seiner Mutter stand, und eine Lösung ohne das amtliche Gedöns möglich machte, das Kästner hier veranstaltete. Eine Hiddenseeische Lösung sozusagen. In Eigenregie, ohne Anzeige, ohne Beweisaufnahme und ohne die Sache vor den Kadi zu ziehen.
»Kanntest du Wanda Sieveking?« Pieplows Frage kam überraschend und hatte sehr unterschiedliche Wirkung.
Kästner sah sich ärgerlich nach seinem Vize um, der ihn aus dem Konzept brachte.
Enno guckte stumm und ziemlich erschrocken und Vera Quiddes Blick hetzte zwischen Pieplow und ihrem Sohn hin und her, bevor sie sich empörte: »Jetzt reicht’s aber! Ich sage dir, was der Junge damit zu tun hat: Nichts! Überhaupt nichts! Ihr tickt doch nicht richtig!« Sie machte Anstalten, die Tür zuzuschlagen.
»So meine ich das nicht«, sagte Pieplow schnell und die Tür schwang erneut auf. »Aber wenn, nur mal angenommen, Enno und die anderen in der Nacht am Klausner waren, dann haben sie sich genau in der Zeit auf dem Hochland herumgetrieben, in der Wanda auch dort gewesen ist. Vielleicht haben sie also etwas gesehen oder gehört, was uns bei der Rekonstruktion der Nacht weiterhelfen könnte.« Pieplow sah in irritierte Gesichter.
»Was sollte das denn sein?«, wollte Vera Quidde wissen und klang sehr skeptisch.
Ennos Blick stellte dieselbe Frage.
»Das können wir erst sagen, wenn wir mit den Kindern gesprochen haben. Gut möglich, dass sie wirklich nichts gesehen haben. Genauso gut kann es aber sein, dass sie mehr bemerkt haben, als ihnen bewusst ist. So was lässt sich nur in der Zeugenbefragung klären.«
»Verstehe.« Vera Quidde nickte. »Das Problem ist nur, dass Enno gar nicht dort war. Ihr habt’s doch gehört.« So schnell gab sie nicht klein bei.
Kästner brummte und verdrehte entnervt die Augen. Das Gespräch nahm einen Verlauf, der ihm nicht passte. Aber er sagte nichts.
»Kann ja sein, dass du diesmal nicht mit von der Partie warst«, sprach Pieplow den Jungen direkt an. »Aber du kennst die, die dabei waren, oder?«
»Weiß nicht. Kann sein. Aber verpfeifen tu’ ich keinen.« Enno war jetzt hellwach und sehr auf der Hut. Mit Freundlichkeit einseifen ließ er sich nicht.
»Das sollst du auch gar nicht. Aber ich schlage dir ein Geschäft vor. Du wirst unser Unterhändler. Sagst denen, die es angeht, dass sie sich bei uns melden sollen, und wir kümmern uns darum, dass Alfred Hartung die Geschichte nicht an die ganz große Glocke hängt. Gewissermaßen als Beitrag zu den Ermittlungen über den Verlauf der Unglücksnacht.«
Enno zögerte. »Ist gut«, sagte er dann. »Mach ich. Und wenn’s nichts wird?«
»Tja, dann müssen wir eben andere Saiten aufziehen«, sagte Pieplow und hörte sich dabei fast an wie Kästner.
013
Auf der Rückfahrt ins Revier hing Kästners Groll schwer wie Nebel im Streifenwagen. Es kostete ihn Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. Er hatte begriffen, dass sie sich die Rundfahrt zu den übrigen Verdächtigen vorerst schenken konnten. Was er nicht verstand, waren Sinn und Zweck der hanebüchenen Schnapsidee, mit der Pieplow ihn überrumpelt hatte.
So drückte es Kästner aus und schien auf jedem Wort herumzubeißen vor Wut. Er hätte gern gebrüllt, das war klar, aber dazu war im Treppenhaus vor der Wachstube zu viel Betrieb.
»Unterhändler!«, spuckte er aus. »Rekonstruktion! Ermittlungen über den Verlauf der Unglücksnacht – ich werd’ nicht wieder! Hab’ ich irgendwas nicht mitgekriegt, vielleicht ein Fax oder so?« Mit höhnischer Geste wies er auf das Gerät in der Ecke hinter seinem Schreibtisch. »Siehst du da irgendwas oder hast du dir den ganzen Quatsch aus den Fingern gesogen? Was, in drei Teufels Namen, versprichst du dir davon?« Kästners Schreibtischstuhl ächzte, als er sich hineinwarf.
Pieplow schwieg und wartete, ob der Ausbruch vorüber war.
Er war es nicht.
»Glaubst du wirklich, die kommen hier reumütig reinspaziert und lassen sich auf deinen Kuhhandel ein? Mal ganz davon abgesehen, dass du gar nichts zu handeln hast. Ich glaub nämlich nicht, dass Alfred damit einverstanden ist.«
»Was ist, wenn ich Recht habe?«, fragte Pieplow, als sich Gesichtsfarbe und Atmung bei Kästner normalisierten.
»Womit?«
»Dass die Jungs irgendwas gesehen haben, von dem wir nichts erfahren, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie am Klausner waren.«
»Ach, und was, Herr Kriminalrat?«
»Keine Ahnung. Ich hab sie ja noch nicht gefragt.«
Kästner hob flehend die Arme zur Zimmerdecke und ließ sie klatschend zurück auf die Stuhllehnen fallen. Aber er sagte nichts mehr. Saß nur stumm und missbilligend da und hörte zu, wie Pieplow mit dem Klausner-Wirt verhandelte.
Es war einfacher, als Pieplow gedacht hatte.
Sachbeschädigung lag vor, gar keine Frage, schickte er vorweg, und natürlich ein Fall für polizeiliche Ermittlungen. Die waren, all den anderen, wirklich furchtbaren Ereignissen zum Trotz, auch durchgeführt worden. Nur zeichnete sich jetzt das wenig befriedigende Ergebnis ab, dass die Mehrheit der Täter schuldunfähig war. Bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt. Da war es möglicherweise sinnvoller, die Kinder allesamt, sozusagen im Täter-Opfer-Ausgleich, zu einer Art Wiedergutmachung heranzuziehen. Selbstverständlich nicht als Ersatz für die Haftungspflicht der Eltern, sondern als erzieherische Maßnahme für die geständigen Täter. Ganz unabhängig vom Alter.
Kurz und gut, ob er als der Geschädigte sich mit diesem Plan anfreunden könnte, fragte Pieplow.
Der Klausner-Wirt konnte. Seine Wut hatte sich gelegt, der Schaden war geringer, als im ersten Moment erkennbar, und für tätige Reue auf dem Klausner-Gelände bis zum Herbst genug zu tun. Rasen mähen, Laub fegen, Müll sammeln und noch allerhand, das sonst teure Arbeitsstunden fraß.
»Prima«, sagte Pieplow und versprach, die Delinquenten demnächst zum Erstgespräch zu begleiten.
»Du spinnst ja, so was auf blauen Dunst anzuleiern. Was machst du, wenn die Bengels nicht kommen? Gehst du dann selbst Rasen mähen oder was?«
»Sie kommen«, sagte Pieplow. »Verlass dich drauf.«
»Oha! Unser Obermeister hat das dritte Auge. Ein unschätzbarer Vorteil im Polizeidienst, wie man hört.« Kästner tippte sich mit dem Finger mitten auf die Stirn.
»So ein Quatsch! Ich glaube eben nicht, dass die Jungs bösartig sind. Sie wissen, dass es Wichtigeres geben kann, als einen blödsinnigen Streich geheim zu halten.«
Kästner schüttelte den Kopf, schnaubte abfällig und hatte schon immer gewusst, dass Pieplow einen Vogel hatte.
Das hinderte ihn nicht, beinahe zufrieden »Kiek an« zu sagen und sich rechthaberisch am Schreibtisch zurückzulehnen, als sich die Tür nach einem vorsichtigen Klopfen öffnete. »Wen haben wir denn da?«
Sie hatten sechs Kinder und nur zwei Holzstühle in der Wachstube. Den einen nahm Enno, der andere blieb leer, bis Jette sich rechts auf die Sitzkante hockte und die linke für Mikka frei ließ. Dahinter Harri und Tom, nervös die Standbeine wechselnd, und Wiesel mit sehr cool in die Hosentaschen gehakten Daumen.
Wie selbstverständlich übernahm Kästner die Regie, beugte sich über seinen Schreibtisch vor und legte eine Hand hinter die Ohrmuschel.
»Ich höre«, sagte er barsch.
»Das am Klausner waren wir«, führte Enno das Wort. Auch er, klar. Aber er war ja nicht so blöd, das jedem gleich unter die Nase zu schmieren. Gab nur Ärger.
Kästner nickte so grimmig, dass Mikka erschrocken zu Boden sah. Er war der Jüngste und nur mitgelaufen. Den Plan ausgeheckt hatten Enno und Wiesel. Die Route auch, über die sie sich anschlichen. Die Gruselstrecke am Strand entlang, wo nachts der Damm wie ein schwarzer Höllenwall aufragte und Findlinge wie große stumme Tiere im Sand zwischen Monsterbäumen lagen, die auf knochenweiß gebleichten Stelzen wie Urzeitvögel ihre hakigen Krallen von oben herabstreckten.
Dass da Leute zum Rumknutschen hingingen, sollte mal einer verstehen. Machten sie aber. Auch in dieser Nacht. Ein Stück hinter dem Saurierbaum hatte ein Pärchen gelegen und... na ja.
Also, dass die was mit Wandas Tod zu tun hatten, konnte Enno nicht glauben.
Die anderen auch nicht. Sie schüttelten einhellig die Köpfe. Mikka wurde außerdem noch ganz rot.
Dann schon eher der Typ, der gerade in dem Moment aus dem Hochland kam, als Wiesel seinen Kopf über die oberste Stufe der Klausner-Treppe streckte. Der hatte sie nicht gesehen. Aber sie ihn, wie er rüber zum Wald lief. Ziemlich groß, schlank, Hose und Jacke sahen schwarz aus. Das Käppi auch. Der war weder langsam gegangen noch schnell. Wanderertempo eben. Mitten in der Nacht.
Wiesel zuckte mit den Schultern und schaute verständnislos.
»Weißt du, wann das war?«, fragte Pieplow und dachte an den Zeugen, der Wanda vor Mitternacht am Leuchtturm gesehen hatte.
»Genau nicht. Zwölf, schätz ich mal. Kurz bevor beim Klausner das Licht ausging.«
Mehr hatten sie nicht gesehen. Entweder war außer ihnen niemand da gewesen oder sie hatten ihn in dem ganzen Stress nicht entdeckt.
»Das war’s«, schloss Enno. »Können wir jetzt gehen?«
»Könnt ihr. Vorausgesetzt, ihr stimmt meinem Vorschlag zu.«
Rasen mähen, Laub harken, Müll sammeln. Es gab lange Gesichter und von Wiesel einen ärgerlichen Knuff in Ennos Schulter. Von wegen erledigt, die Sache.
Keiner war begeistert, aber alle einverstanden.
»Also abgemacht – morgen um drei beim Klausner
»Ich nicht«, sagte Harri leise. »Ich kann nicht.« Er hielt sich an Jettes Stuhllehne fest und starrte lieber in ihr karottenrotes Haar als die anderen anzugucken.
»Du musst«, forderte Enno. »Oder glaubst du, weil du nur Schmiere gestanden hast, kannst du dich drücken?«
»Ich muss arbeiten«, stieß Harri hervor. »Heute und morgen.« Er sah hilfesuchend zu Pieplow hinüber. »Geht’s nicht auch später? Um fünf oder sechs?«
Punkt sechs, entschied Pieplow und fragte sich, was den Jungen so ängstigte, dass sich Schweiß im hellen Flaum seiner Oberlippe sammelte.