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Das gedämpfte Licht der alten Kirche hatte eine beruhigende Wirkung auf Julian. Kaum dass er König Henrys Gespielin in Wildemoore abgeliefert hatte, war er weiter nach Exeter geritten, um aus Miss Marguerites Schusslinie zu gelangen. Nachdem er sich einquartiert und eine Mahlzeit zu sich genommen hatte, war er ziellos durch die Straßen geschlendert. Seit gut einer Stunde saß er nun hier, inmitten der geschäftigen Stadt, in der unwirklichen Stille einer kleinen Kirche. Auch in Exeter war in den letzten Jahren eine große Kathedrale für den Bischof gebaut worden. Diese riesigen Gebäude waren beeindruckend, und die Leistung der Baumeister war enorm. Julian interessierte sich für Mathematik. Die statischen Berechnungen, die erforderlich waren, um derartig in die Höhe zu bauen, faszinierten ihn. Er hatte leider nicht genug Zeit, all die großen Wunder dieser Welt zu studieren. Er hatte nicht einmal genug Zeit, sich den kleinen Wundern zu widmen. Julians Blick fiel auf den Altar. Die Zugluft ließ die einzige Altarkerze auf der einen Seite schneller als auf der anderen Seite herunterbrennen. Der Luftzug musste von der Seitentür durch die Apsis herein- und durch die offenen Fensterbögen wieder hinausströmen. Die Wachsspuren auf dem hölzernen Kerzenhalter zeigten, dass die Kerze immer wieder gedreht wurde, um das unregelmäßige Abbrennen auszugleichen. Heute allerdings noch nicht. Warum nicht? War der Küster nachlässig? Hatte er etwas anderes zu tun? Julian schloss die Augen, um seine rastlosen Gedanken zu sammeln. Es hatte keinen Sinn, auszuweichen. Er spürte, wie der Schmerz in ihm hochstieg. Auf den Tag genau vor sechs Jahren hatte er Aelia zum letzten Mal gesehen. Sie hatten sich wie so oft gestritten. Sie wollte, dass er öfter zu Hause war, aber er hatte gerade angefangen, für den Kardinal zu arbeiten. »Das ist nicht möglich und Schluss damit!«, hatte er gesagt, und Aelia war wütend in die Küche gestürmt und hatte die Tür zugeknallt. Als er am nächsten Tag von seinem Auftrag zurückkam, war sie verschwunden. All ihre Sachen waren da, aber seine Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Julian saß mit geschlossenen Augen da und spürte dem brennenden Schmerz nach, der sich durch seinen Körper fraß. Reue, Trauer, Wut. Ein teuflisches Gemisch. Seine Ziele waren einmal so klar gewesen: eine Familie gründen, Karriere machen und Geld verdienen. Und wenn er genug Geld verdient hätte, wären sie aufs Land gezogen. Gelegentlich hätte er königliche Verwaltungsaufgaben übernommen und sich ansonsten seinen Studien gewidmet und in Ruhe Bienen gezüchtet oder vielleicht Hühner. Aber mit Aelia war auch der Sinn seines Lebens spurlos verschwunden, und ebensowenig wie seine Frau hatte er ihn wiederfinden können. Julian öffnete die Augen. Der Schmerz hinterließ eine gähnende Leere in ihm. Nach unerfreulichen und, wie er fand, sinnlosen Aufträgen wie dem letzten wurde diese Leere zu einem riesigen, schwarzen Nichts, das ihn verschlang. Sollte das der Inhalt seines Lebens bleiben, sittenlose Weiber durch das Reich zu eskortieren und diebische Knechte zu jagen? Er rutschte von der Bank auf die Knie und faltete die Hände vor seinem Gesicht. Er brauchte eine Inspiration, ein Zeichen. Irgendetwas.
Es war inzwischen später Nachmittag, und die Schankstube war sehr voll. Obwohl die kleinen Fensterluken geöffnet waren, war die Luft stickig und roch nach Schweiß, Bier und einem seltsamen Gemisch von Essensdüften. Julian rümpfte die Nase und wollte gerade wieder gehen, als sein Blick auf den großen, südländisch aussehenden Mann fiel, der am Ende des Raumes in der Ecke saß. Einer Eingebung folgend, bahnte sich Julian seinen Weg zur Theke und setzte sich so hin, dass er den Mann ungestört beobachten konnte. Der Wirt brachte Julian wortlos einen Krug Bier, was anscheinend das einzige Getränk war, das ausgeschenkt wurde. Der Südländer sprach mit einer zierlichen Frau mit langen, schwarzen Zöpfen, die ihm gegenübersaß und von der Julian nur den Rücken sah. Der Mann sah ungewöhnlich aus, fast ein bisschen lächerlich. Er hatte lange Gliedmaßen und einen mächtigen Brustkorb, aber er schien nicht sehr muskulös zu sein. Sein rundliches Gesicht machte einen harmlosen Eindruck, aber das konnte auch an seinen fast femininen Zügen liegen. Julian war überrascht, hier einen Kastraten vorzufinden. Es konnte nicht anders sein. Was machte ein hochspezialisierter Sänger hier, der von Kindesbeinen an gefördert und behütet worden war und für seinen Herrn sicherlich einen großen Wert darstellte? Oder war er ein Wächter eines maurischen Harems? Dem Aussehen nach konnte er durchaus von der Iberischen Halbinsel kommen. Aber auch dann stellte sich die Frage, was er in England in einem, Julian blickte sich um, etwas schäbigen Gasthaus machte? Seine Kleidung war bescheiden, aber ordentlich, das passte zu der Wahl seiner Unterkunft. Er hatte also nur begrenzte Mittel zur Verfügung und war in Begleitung einer Frau. Ihrer Haarfarbe nach zu urteilen, konnte auch sie aus dem Süden kommen.
Julian nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug und verzog das Gesicht. Missmutig blickte er in das Tongefäß. Diese dünne Brühe konnte doch wohl keiner als Bier bezeichnen! Er überlegte einen Augenblick, ob er sich beschweren sollte, aber dann hätte er die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich gezogen, und das wollte er nicht. Er schob den Krug auf dem klebrigen Tresen zu seinem Nachbarn weiter, einem kugelbäuchigen Kerl in einer speckigen Lederhose.
»Hier, zum Wohl.«
Der Mann blickte erfreut auf und nickte Julian zu, als dieser den Tresen verließ, um sich einen besseren Beobachtungsposten zu suchen. Gerade stand jemand von der Holzbank bei dem Südländer auf. Julian schlängelte sich zwischen den Gästen hindurch und erreichte den Platz, ehe sich jemand anderer setzen konnte. Er saß jetzt Rücken an Rücken mit der Frau.
»Wir müssen uns einen anderen Schlafplatz suchen, Viviana, diese Gaststätte ist überfüllt, einmal davon abgesehen, dass die Preise einfach exorbitant sind.«
Die ungewöhnlich helle, melodische Stimme hatte einen leichten spanischen Akzent. Julian hatte richtig vermutet, der Südländer war entmannt worden, ehe er dem Knabenalter entwachsen war, um seine helle Stimme zu erhalten.
»Vielleicht finden wir ein wenig außerhalb einen günstigeren Platz?«
Auch die Frau hatte einen Akzent. Sie war ganz sicher Französin, aber Julian konnte nicht sagen, aus welchem Teil Frankreichs sie kam. Sie sprach leise und wohlmoduliert. Ihre Stimme war kehlig und leicht rau, und Julian fand sie sehr reizvoll.
»Wie weit ist es noch bis Saint Albans?«
»Was darf ich bringen?« Die Bedienung übertönte dröhnend die Unterhaltung am Nebentisch.
»Was gibt es denn?« Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, in dieser schmierigen Absteige zu Abend zu essen, aber die Plätze an den Tischen waren Gästen vorbehalten, die bereit waren, sich den Künsten der Köchin auszuliefern.
»Haferbrei mit Schwarte, Haferbrei mit Zwiebeln und Rüben, gepökelter Aal.« Nach einem kritischen Blick auf Julians Kleidung fügte sie noch »Schweinshaxe und geröstetes Huhn« hinzu. Julian spürte, wie die Französin hinter ihm aufstand.
»Ich habe es mir anders überlegt, danke«, sagte er.
»Auch gut, aber dann musst du den Platz räumen.« Sie wischte halbherzig mit ihrem schmutzigen Handtuch über den nicht minder schmutzigen Tisch, dann wandte sie sich weniger wankelmütigen Gästen zu. Julian war froh, einer Mahlzeit entkommen zu sein, und stand ebenfalls auf. Er drehte sich um und zog überrascht die Luft ein. Vor ihm stand die Französin, und Julian starrte sie einen Augenblick unverhohlen an. Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von einem Paar riesiger, dunkler Augen dominiert, die, eingerahmt von einem Kranz schwarzer Wimpern, fragend zu ihm aufsahen. Ihre Lippen waren voll und hatten einen exquisiten Schwung. Sie mochte Mitte zwanzig sein. Julian konnte sich kaum von ihrem Anblick losreißen.
»Pardon.« Sie versuchte, sich an ihm vorbeizuschlängeln, und er spürte einen Moment ihre kleinen, festen Brüste an seinem Körper entlangstreifen.
»Verzeihung.« Julian setzte sich wieder, und die beiden zwängten sich durch die Menschenmenge in Richtung Ausgang. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Jede Faser seines Körpers brannte in dem plötzlichen Begehren, diese Frau zu besitzen.
»Ist hier noch frei?«
Eine korpulente Dame mit zwei struppigen Kleinkindern wollte seinen Platz auf der Holzbank. Julian gewann seine Fassung wieder.
»Ja, ich gehe gerade.«
Der Blick der Dame machte deutlich, dass sie fand, er könne sich ruhig etwas beeilen, und Julian gab ihr recht, da er das ungewöhnliche Paar nicht aus den Augen verlieren wollte.
Als er in den Hof trat, wurde gerade ein Maultier aus dem Stall geführt. Die beiden warteten. Ja, auch die Frau kam vermutlich aus dem Süden. Julian beschloss, in die Offensive zu gehen.
»Na, auch kein Bett mehr bekommen?«
Der Südländer drehte sich um und taxierte ihn vorsichtig und ein bisschen abweisend.
»Waren Sie schon mal hier? Gibt es ein anderes Gasthaus in Exeter, das vielleicht günstiger ist?«
Julian, der ja bereits vorgewarnt war, verzog keine Miene, als er von dem Mann mit dieser seltsam hohen Stimme angesprochen wurde.
»Ich werde es im ›Red Inn‹ versuchen, wenn Sie wollen, können Sie mitkommen.«
Der große Mann blickte zu seiner Begleiterin. Sie nickte. »Ja, das machen wir.« Er übernahm den Zügel des Maultieres von dem Knecht, und sie folgten Julian.
»Mein Name ist Rinaldo della Rosa del Ranguano, und dies ist meine Schwester Viviana.«
Die Frau war sicherlich nicht seine Schwester. Kein Mann hätte für die Entscheidung, wo man übernachten sollte, die Bestätigung seiner Schwester einholen müssen; ein Südländer schon gar nicht, dachte Julian. Er stellte sich ebenfalls vor.
»Angenehm, ich heiße Julian White, nennen Sie mich einfach Julian.« Er musste sich sehr zusammenreißen, seinen Blick auf Señor Rinaldo zu konzentrieren und nicht seine vorgebliche Schwester anzustarren.
»Das ›Red Inn‹ ist auf der anderen Seite der Stadt. Es liegt zwar nicht mitten im Geschehen wie dieses Gasthaus« – Julian wies über die Schulter –, »aber es ist recht ordentlich.«
»Wo ist denn Ihr Gepäck?«
Der Südländer war misstrauisch.
»Ich hatte eigentlich vor, bei einem Bekannten zu übernachten. Aber wie sich herausstellte, hat der Gute Besuch von seiner Familie aus Somerset.« Julian zuckte mit den Schultern. »Pech für mich, aber wenigstens konnte ich erst einmal meine Sachen unterstellen.«
Señor Rinaldo nickte, während er vorsichtig den vielen Schlaglöchern und Abfallhaufen auf der Straße auswich. Julian fuhr fort: »Sind Sie zum ersten Mal in Exeter? Dann sollten Sie unbedingt die Kathedrale sehen! Jedes Mal, wenn ich hier bin, gehe ich nachsehen, was wieder neu dazugebaut worden ist. Sehr beeindruckend.« Julian deutete in die Richtung, in der sich die mächtigen Türme über die Dächer erhoben.
»Das würde ich mir gerne ansehen«, sagte die Frau und lächelte. Ihre weißen Zähne strahlten. Julian war hingerissen und stellte gleichzeitig fest, dass sie in guter, gesunder Verfassung war und noch alle Zähne hatte. Ihm war gleich aufgefallen, dass sie nur ein Reittier besaßen. Hatten sie das zweite verloren? Wenn sie tatsächlich zu Fuß nach Saint Albans unterwegs waren, dann konnte er sich nicht das schlechte Schuhwerk der Schwester erklären. Das konnte er sich sowieso nicht erklären, denn die Schuhe passten ihr nicht. Der Rest der Ausrüstung war in gutem Zustand, warum also nicht ihre Schuhe? Irgendetwas war hier faul, und dem würde er auf den Grund gehen.
Sie kamen zu einem langgestreckten, niedrigen Holzhaus, das mit Ochsenblut gestrichen war. Julian schritt durch die Toreinfahrt in den Hof, an den sich ein bescheidener offener Stall angliederte. Der Stalljunge rief ihnen zu, das Maultier anzubinden, er würde sich gleich darum kümmern. Julian scheuchte einige Hühner aus dem Weg und öffnete die Tür zur Diele des »Red Inn«. Ehe er noch den Fuß hineinsetzen konnte, lief eine Frau mit einem großen Tablett an ihm vorbei.
»Vorsicht!«
»Auch voll hier!«, sagte Julian über die Schulter, als Rinaldo und Viviana ihm in das Gasthaus folgten. Sie gingen zum Tresen und winkten den Wirt herbei.
»Ich brauche eine Kammer und die beiden Herrschaften ebenfalls.«
Der Wirt glotzte Rinaldo aus hervorstehenden, hellen Augen neugierig an. Eines seiner Augen schien immer ausbrechen zu wollen, als hätte es keine Lust, die Dinge zu betrachten, die sein Besitzer ansehen wollte.
»Und Sie wollen auch eine Kammer?«
»Ja, für mich und meine Schwester«, sagte Rinaldo würdevoll mit seiner hohen Stimme.
»Heute noch, wenn es recht ist.« Julian war das unverschämte Starren des Wirtes unangenehm.
»Der muss gerade glotzen«, flüsterte Viviana.
»Immerhin hat eines seiner Augen mehr Benehmen als das andere«, erwiderte Julian, und Viviana unterdrückte ein Kichern.
Kurze Zeit später folgten sie der Tochter des Wirtes in den Hof, dem sich der Schlafsaal angliederte. Ihre Betten befanden sich am Ende des Raumes. Julian scheuchte ein Huhn von seinem Strohlager. Als er sich umdrehte, sah er sich Viviana gegenüber, die ebenfalls gerade ein Federvieh durch die offene Fensterluke bugsierte.
»Meines hat sogar ein Ei gelegt!« Julian hielt triumphierend das Ei hoch, das unter seinem Huhn zum Vorschein gekommen war. Sie blickte ihn entrüstet an und sagte dann ernst:
»Ich will mein Geld zurück!«
Julian lachte, und sie lachte auch.