• 19 •
Nach ein paar Stunden Schlaf und einem späten Frühstück machten sie sich auf den Weg zur zweiten Pilgerkirche Saint Michaels. Was Julian gestern Nacht als großartige Eingebung erschienen war, fand er bei Tageslicht nicht mehr ganz so wahrscheinlich.
»Es ist nicht mehr als eine Vermutung, aber wir müssen es trotzdem überprüfen.«
»Die Liste muss ja irgendwo sein. Ich habe auch keine bessere Idee.«
Diesmal gingen sie zu Fuß. Viviana blieb vor den Auslagen eines Händlers stehen, um einen bestickten Beutel zu begutachten.
»Dies ist wirklich nicht die Zeit für Einkäufe, Viviana!«
»Meine Güte, bist du missgelaunt.« Sie legte den Beutel wieder zurück und griff nach einem geflochtenen Ledergürtel, um ihn zu inspizieren. Julian nahm ihn ihr aus der Hand und schob sie weiter.
»Wir haben etwas Dringendes zu erledigen, schon vergessen? Man könnte meinen, dass du auf einer Erholungsreise bist.«
Sie hakte sich bei ihm ein und lächelte unschuldig.
»Wir werden verfolgt«, hauchte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Ich weiß.«
Sie machte ein ungehaltenes Gesicht.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Warum sollte ich?«, fragte er in dem gleichen provozierenden Ton, den sie gerne benutzte. Sie blickte ihn einen Moment erbost an, musste dann aber die Lippen zusammenpressen, um ihr Grinsen zu verbergen. Julian bog in eine Seitengasse ab. Die Häuser standen so eng, dass die ebenerdigen Räume kaum vom Sonnenlicht erreicht wurden. Hier war es sogar am helllichten Tag düster und stickig. Als sie an eine Kreuzung kamen, schob Julian Viviana unauffällig nach rechts, während er nach links abbog. Sie huschte schnell in eine der Toreinfahrten und wartete. Die Gestalt, die ihnen gefolgt war, kam nicht an ihr vorbei. Sie musste also Julian nachgegangen sein. Viviana lugte vorsichtig in die Gasse, aber weder der Verfolger noch Julian waren zu sehen. Sie eilte zurück zur Kreuzung und überquerte sie. Aufmerksam nach links und rechts spähend, ging sie langsam weiter. Auf der Straße vor ihr entstand ein Tumult, der sich rasch in ihre Richtung bewegte. Ein Hund hatte einen Laib Brot gestohlen und rannte mit seiner Beute, so schnell er konnte, die Straße entlang. Er wurde verfolgt von einer Rotte anderer Streuner, einer Gruppe barfüßiger Straßenkinder, dem Besitzer des Brots sowie dessen Frau, die mit schriller Stimme ihr Mittagessen zurückforderte. Vivianas Aufmerksamkeit war durch das Spektakel einen Moment abgelenkt, und in genau diesem Augenblick wurde sie von hinten umklammert und in eine der engen Hofeinfahrten gezerrt. Sie biss kräftig in die Hand und hörte ein unterdrücktes Fluchen. Der andere Arm war fest um ihre Mitte und ihre Arme geschlungen und hob sie hoch, sodass sie den Boden unter den Füßen verlor. Augenblicklich trat sie mit den Hacken nach hinten und erwischte schließlich ein Schienbein, was einen erneuten Fluch hervorrief. Der Angreifer schleuderte Viviana hart auf den Boden und stürzte sich dann auf sie, noch ehe sie Zeit hatte, eines ihrer Messer zu ziehen. Sie änderte die Taktik und hörte auf, sich zu wehren. Als der Mann daraufhin von ihr abließ, presste sie sich mit einem unterdrückten Schluchzen an den Pfosten des Fachwerkhauses. Der Mann stand auf und bedeutete ihr, das Gleiche zu tun.
»Aber keine Tricks!«
Sie erhob sich und zog unbemerkt eines ihrer Messer. Das Ziehen und Ausholen zum Wurf waren eine einzige Bewegung. Als Viviana das Messer auf ihren Angreifer schleuderte, sah sie, wie Julian durch die Toreinfahrt auf den Verfolger zurannte. Sie schrie eine Warnung, aber das Messer hatte sich schon in Julians Arm gebohrt, und die beiden Männer fielen zu Boden. Viviana holte gerade erneut mit einem zweiten Messer aus, als Julian sich aufrappelte.
»Halt, Viviana!« Er drehte sich zu dem Mann um.
»Zum Teufel mit dir, Emmitt«, fluchte er, biss die Zähne zusammen und zog sich das Messer aus dem Arm. Viviana ging zu Julian hinüber, löste, ohne sich weiter mit dem Angreifer aufzuhalten, das Tuch von ihrem Kopf und riss es in Streifen.
»Es tut mir leid, Julian«, sagte sie, als sie die Wunde verband.
Emmitt stand auf, war aber sichtlich außer Fassung. Ein paar der Anwohner waren herbeigelaufen, um zu sehen, was vor sich ging.
»Es ist alles in Ordnung, es war ein Missverständnis«, sagte Julian mit lauter Stimme in einem Tonfall deutlicher Autorität, der keinen Widerspruch hervorrief.
»Was ist denn in dich gefahren, Emmitt?«
Der junge Mann sah schuldbewusst und verwirrt aus. Viviana verknotete den Verband und wischte mit dem Rest des Kopftuchs ihr Messer ab, ehe sie es wieder einsteckte.
»Kommt, gehen wir woanders hin«, sagte Julian mit Blick auf die gaffenden Anwohner. »Ist da noch jemand draußen?«
Emmitt schüttelte den Kopf.
»Sir, ich verstehe nicht …«, begann er.
»Ich verstehe auch nicht, was das sollte!«, schnitt ihm Julian ungehalten das Wort ab.
Sie gingen gemeinsam zurück auf die Hauptstraße und in das erstbeste Gasthaus. Als der Wirt drei Bier gebracht hatte und sie wieder allein waren, sagte Julian, zu Viviana gewandt: »Das ist Emmitt, ein angehender Agent des Königs. Ich bin mir nicht sicher, ob er es jemals so weit bringen wird, dass du mit ihm zu tun haben wirst.«
Der junge Mann mit den blonden Locken ließ den Kopf hängen.
»Emmitt, ich bin Viviana. Willst du uns nicht erklären, was hier vor sich geht?« Sie legte ihm freundlich die Hand auf den Arm. Julian blickte sie empört an.
»Es tut mir furchtbar leid, Sir, und ich entschuldige mich auch bei Ihnen, Miss Viviana.«
»Vergiss nicht, sie ist der Feind«, warf Julian ätzend ein.
»Haben Sie denn keine Nachrichten aus Westminster bekommen, Sir?«
»Was für Nachrichten?«
»Es gibt eine Klage gegen Sie, und der Kardinal hat Sie vorläufig von Ihren Aufgaben entbunden.«
»Was?« Julian blickte ihn entgeistert an.
»Offenbar hat sich eine Miss Marguerite beschwert, dass Sie, nun ja …« Emmitt stockte.
Julian winkte ab. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Miss Marguerite, hm?«, bemerkte Viviana provozierend.
Julian warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Wir hatten Sie schon gestern oder vorgestern erwartet, Sir«, erklärte Emmitt weiter.
Er hätte sich tatsächlich melden sollen, dachte Julian, aber die Ereignisse hatten sich derart rasant entwickelt, dass ihm die Inbesitznahme der Liste vorrangig erschienen war. Er hatte Viviana nicht die Gelegenheit geben wollen, die Liste zu holen und sich dann aus dem Staub zu machen. Gleichzeitig war es nicht wünschenswert, dass sie wusste, wo die Geheime Kanzlei ein Büro in Saint Albans hatte.
»Und da konntest du mich nicht einfach ansprechen, Emmitt?«
Der junge Mann errötete.
»Mister Thorn hatte gemeint, dass Sie vielleicht übergelaufen sind und auf eigene Faust die Liste an sich nehmen wollten, Sir.«
Viviana brach in Gelächter aus.
»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein, Emmitt!«
»Es tut mir leid, Sir, aber Mister Thorn hatte mir Anweisungen gegeben, den Kurier« – er blickte unsicher auf Viviana –, »also Miss Viviana in Gewahrsam zu nehmen.«
Julian stand auf.
»Entschuldige, Viviana, aber ich muss mal mit meinem Kollegen allein sprechen.«
Viviana lächelte spöttisch und neigte den Kopf. Emmitt und Julian setzten sich zwei Tische weiter.
»Wer ist außer euch noch hier?«
»Gilbert Miller.«
»Sonst niemand?«
»Die Kanzlei wird morgen noch zwei weitere Agenten schicken. Ich glaube, der Kardinal ist nervös, weil hier noch nichts passiert ist.«
»Habt ihr den Spanier eingeholt?«
»Jawohl, Sir.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er ist im Loch, also ich meine, wir haben ihn eingesperrt.«
Das »Loch« war ein unterirdischer Kerker in dem inoffiziellen Gebäude der Geheimen Kanzlei in Saint Albans. Es wurde für Verhöre und die kurzfristige Festsetzung von Verdächtigen und Feinden benutzt.
»Steht der Spanier in irgendeiner Verbindung zu dem Kurier?«
»Er behauptet nein, Sir.«
Julian hob die Brauen. Emmitt hüstelte.
»Mister Thorn hat ihm ordentlich zugesetzt, aber der Gefangene ist bei seiner Aussage geblieben.«
»Was hat Thorn dann jetzt mit ihm vor?«
»Das weiß ich nicht, Sir.«
Julian dachte nach. Er konnte sich einer Anweisung des Kardinals nicht widersetzen, so sehr es ihm auch widerstrebte, die Angelegenheit abzugeben. Niemand, der ihn kannte, konnte ernsthaft glauben, dass er sich Miss Marguerite gegenüber ungebührlich benommen hatte. Aber ehe die Sache geklärt war, hatte der Kardinal wahrscheinlich keine andere Wahl. Wenn er Viviana erzählte, dass Rinaldo hier in Gefangenschaft war, würde sie darauf bestehen, ihn sofort zu befreien. Nein, besser er behielt diese Information zunächst für sich, und der Spanier musste leider noch ein bisschen länger im Verlies ausharren. Er blickte auf Viviana, die dort am Tisch mit ihrem Glas Bier das Bild einer unschuldigen Jungfer bot. Ihre Blicke trafen sich, und er konnte das ungute Glimmen in ihren Augen sehen. Sie stand auf und kam zu ihnen herüber.
»Nun? Alles geklärt?«
»Wollen Sie mit Mister Thorn sprechen, Sir? Ich kann solange auf sie aufpassen«, schlug Emmitt vor.
»Du kannst nicht einmal auf dich selbst aufpassen. Ich habe vorhin dein Leben gerettet«, sagte Julian, missgelaunt auf seinen verletzten Arm blickend, der sich mit einem pochenden Schmerz deutlich bemerkbar machte, und Julian fragte sich, ob er nicht wegen der Verwundung die Aufgabe sowieso würde abgeben müssen.
»Mach dir nichts draus, Emmitt, wenige Männer können mich in Schach halten.« Sie lächelte den jungen Mann freundlich an. »Außer Sir Julian hier, natürlich!«, fügte sie hinzu, sich über Emmitts formelle Anrede amüsierend. Emmitt errötete erneut.
»Viviana und ich werden jetzt gehen und hoffentlich die Liste finden. Viviana wird sich dann, wie geplant, in der westlichen Pilgerherberge einquartieren und auf die Kontaktaufnahme warten.« Julian blickte Viviana an. Sie nickte. »Von da ab könnt ihr dann übernehmen, aber es wäre zu kompliziert, jetzt die Begleitperson zu tauschen. Alles klar?«
Emmitt nickte, sah aber sehr besorgt aus.
»Was?«
»Mister Thorn wird der Plan nicht gefallen.«
»Das ist mir völlig gleichgültig.«
»Armer Emmitt«, sagte Viviana vergnügt, als sie wieder auf der Straße waren und ihren Weg in Richtung Saint Michaels fortsetzten.
»Das kannst du zweimal sagen. Melchor Thorn ist ein unangenehmer Bursche.«
»Und er kleidet sich seltsam.«
Julians Kopf fuhr herum.
»Woher kennst du ihn?«
»Ich hatte das Vergnügen in Shaftesbury.«
»Du hast ihn in Shaftesbury getroffen?«
»Allerdings. Ich war auf der Suche nach meinem Retter, einem Beamten der Königlichen Schatzkammer namens Julian White.« Ihr Tonfall klang unbeteiligt, aber Julian meinte, eine gewisse Schärfe herauszuhören.
»Wo hast du ihn getroffen?«
»Im Hof der Abtei. Er war so nett, mir zu sagen, dass er dich kennen würde, aber er konnte sich einfach nicht erinnern, wo du dich aufhieltest.«
Julian presste wütend die Lippen zusammen. Das war typisch für Thorn, ihm ohne jeden Grund schaden zu wollen. Immerhin wusste er zu dem Zeitpunkt, dass Julian auf der Suche nach einer Frau war.
»Also, Julian, wer ist Miss Marguerite?« Viviana wechselte das Thema.
»Niemand.«
»Nun sei doch nicht so mürrisch auf unserem letzten gemeinsamen Ausflug.«
Julian blieb stehen.
»Ist das alles nur ein Spiel für dich, Viviana?«
»Durchaus nicht. Aber wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehen, da können wir doch wenigstens nett zueinander sein.«
Er blickte sie an, und der Schmerz, den er in seinem Herzen fühlte, ließ ihn die Wunde an seinem Arm vergessen. Sie hatte recht. Wenn alles glattging, würde Thorn den Rest der Angelegenheit übernehmen, und er würde auf dem schnellsten Weg nach Westminster reiten, um sich vor dem König zu rechtfertigen. Viviana würde nach Frankreich zurückkehren und ihr Leben wieder aufnehmen. Vermutlich würde irgendwann vor ihrem dreißigsten Geburtstag das Glück sie verlassen, und sie würde mit durchgeschnittener Kehle in einem Pariser Hinterhof gefunden werden. Brüsk drehte er sich um und ging weiter.
»Wir sollten keine Zeit verschwenden.«
Sie folgten der Straße, die um die Abtei herumführte, und kamen schließlich zu einer Kirche, die große Ähnlichkeit mit Saint Stephens hatte. Es war gegen Mittag, und Saint Michaels war gut besucht. Viviana blickte Julian an, und er schüttelte den Kopf.
»Ich kann auch nichts Verdächtiges sehen«, sagte sie, und sie traten in das Innere des Steingebäudes, das angenehm kühl war. Auch an diese Kirche war in den letzten Jahren angebaut worden. Das Mittelschiff war um zwei Seitenschiffe verbreitert worden, und das Licht fiel jetzt durch Fensteröffnungen oberhalb der Seitenschiffe herein. Direkt gegenüber dem Eingang befand sich ein hölzerner Seitenaltar.
»Geradeaus und hinter dem Holz«, murmelte Viviana.
»Verzeihung, können wir hier mal vorbei!«, ertönte eine ungehaltene Stimme hinter ihnen. Viviana und Julian traten zur Seite, um eine Gruppe verschwitzter Pilger vorbeizulassen. Der Altar war mit einer hölzernen Reling abgetrennt und nicht direkt zugänglich.
»Wir müssen warten, bis es leerer wird«, flüsterte Viviana und blickte zu Julian. Er sah blass aus, und sie entdeckte feine Schweißperlen auf seinen Schläfen. Der Verband an seinem Arm wies einen großen, dunklen Fleck auf. Julian brauchte eine Pause, und sie musste die Wunde neu verbinden.
»Komm, wir suchen uns ein schattiges Plätzchen.« Sie schlang den Arm um seine Mitte und schob ihn nach draußen. Sein Arm lag schwer auf ihrer Schulter, als sie um die Kirche herumgingen. Ein wenig entfernt, aber mit gutem Blick auf das Geschehen, fand Viviana eine geeignete Stelle unter den tief hängenden Zweigen einer Trauerweide. Mit einem unterdrückten Stöhnen ließ sich Julian zu Boden gleiten und lehnte sich an den Stamm des Baumes. Viviana kniete neben ihm und untersuchte den Verband.
»Du verlierst zu viel Blut. Ich muss das richtig versorgen.«
»Willst du etwa noch mehr von deinem Kleid zerreißen?«
»Auf keinen Fall, ich will ja schließlich nicht ohne dastehen. Ich werde versuchen, Leinenstreifen aufzutreiben, und vielleicht gibt es hier auch irgendwo Kräuter zu kaufen.«
»Ich komme mit.« Julian wollte aufstehen, wurde aber von Viviana daran gehindert.
»Nein, du kommst nicht mit. Du brauchst Ruhe. Meinst du nicht, dass, hätte ich mich davonmachen wollen, ich das nicht schon längst getan hätte?«
Julian blickte sie zweifelnd an.
»So ein guter Aufpasser bist du auch nicht, mein Lieber.« Sie stand auf. »Ich bin bald wieder zurück.«
Noch ehe Julian protestieren konnte, raffte Viviana ihre Röcke und lief eilig über die Wiese zurück zur Straße. Ja, sie könnte jetzt versuchen, die Liste an sich zu bringen und zu flüchten. Aber wohin? Julian wusste, wo die Übergabe stattfinden sollte, und sie selbst hatte keine Möglichkeit, mit den Empfängern Kontakt aufzunehmen. Wenn sie jetzt einen Alleingang wagte, würde sie von allen Seiten gejagt werden und hätte überhaupt keinen Schutz. Wie viel der Schutz des Kardinals wert war, konnte sie schlecht einschätzen. Julian würde sich an die Abmachung halten, ob die Zusage des Kardinals ihm gefiel oder nicht, aber bei einem Mann wie Melchor Thorn war sich Viviana alles andere als sicher. Es widerstrebte ihr sehr, dass sie mit Thorn zusammenarbeiten sollte. Sie würde sehr aufpassen müssen. Von einem Händler, der auf dem Weg zum Markt nach Saint Albans war, kaufte sie ein Stück Leinen. Leider hatte er nur Stoffe und keine Heilmittel, aber am Straßenrand wuchs Schafgarbe, und die würde ebenfalls helfen, die Blutung zu stillen. »Du bist tatsächlich zurückgekommen«, stellte Julian fest, als Viviana die Zweige beiseiteschob und in das natürlich gewachsene Zelt trat. Sie machte ein beleidigtes Gesicht.
»Erzähle mir nicht, du hast nicht daran gedacht, die Liste zu holen und dich aus dem Staub zu machen.«
Viviana grinste.
»Natürlich habe ich das, aber ich konnte dich doch hier nicht hilflos zurücklassen!«
»Rücksichtsvoll, aber gänzlich unwahrscheinlich.«
»Und warum bin ich dann wohl zurückgekommen?«
»Weil dich sonst alle jagen würden.«
»Du hast mich durchschaut.«
Sie kniete sich neben ihn und löste den Verband von seinem Arm. Julian betrachtete sie.
»Du bist schwer zu durchschauen.«
»Ich nehme das als Kompliment.«
Sobald sie die Wolle entfernt hatte, begann die Wunde sofort wieder zu bluten.
»Ein guter Treffer«, stellte sie fest, als sie das Leinen in lange Streifen riss.
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut, aber es war trotzdem ein guter Wurf.«
»Ehre wem Ehre gebührt«, presste Julian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie legte die Schafgarbenblätter auf die Wunde und wickelte mehrere Lagen des Verbandes darüber.
»Das Blut wird den Stoff durchnässen und auch das Kraut. So kann es wirken. Ich habe kein frisches Wasser gefunden, mehr können wir also erst mal nicht tun.«
Julian bewegte seinen Arm. Er musste versuchen, ihn so ruhig wie möglich zu halten, damit er kein Wundfieber bekäme.
»Danke.«
»Glaube nur nicht, ich habe das aus Menschenliebe getan.«
»Um Gottes willen.«
»Ich will bloß nicht, dass du krank darniederliegst«, sagte sie ernsthaft, zwinkerte Julian aber zu.
»Trotzdem danke.«