• 11 •
Als der Blitz neben ihnen einschlug, bäumte sich Julians Fuchs auf. Julian hörte das erschrockene Wiehern des Ponys, aber er hatte alle Hände voll mit seinem eigenen Pferd zu tun. Er schwang sich aus dem Sattel, hielt den ängstlichen Fuchs am kurzen Zügel und kämpfte sich die Böschung hinunter. Auf halber Höhe ragte ein Felsen aus dem Boden und bildete eine Art Überhang. Julian drängte sein ängstliches Pferd darunter und presste sich gegen das Tier. Er wusste nicht, wo Viviana war, hoffentlich hatte sie ebenfalls in der Nähe Deckung gefunden. Das Tosen des Baches war gewaltig. Keine fünfzehn Fuß von ihm entfernt schlug ein Blitz in einen der niedrigen Bäume ein. Die auflodernden Flammen wurden von der Sturzflut umgehend gelöscht. Julian konnte sich nicht erinnern, jemals in ein solches Unwetter geraten zu sein. Gottes Urgewalten waren fürchterlich, und er hoffte, mit heiler Haut davonzukommen. Nach schier endloser Zeit zog das Gewitter ab, und die Sonne kam wieder hervor.
»Viviana?«
Julian blickte sich um.
»Viviana?«
Er rief ihren Namen, aber Viviana blieb verschwunden. Spuren waren nach dem Gewittersturm nicht zu finden. Verdammt, er würde die gesamte Gegend absuchen müssen. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Julian ging zu seinem Fuchs zurück und führte ihn von dem felsigen Hang wieder hinauf auf die Hügelkuppe, als er feststellte, dass das Pferd mit dem rechten Hinterlauf lahmte. Er kniete sich hin und untersuchte besorgt das Bein. Das Sprunggelenk war leicht geschwollen. Wahrscheinlich war der Fuchs auf einem der glatten Felsen, die überall aus dem Boden ragten, abgerutscht, oder er hatte sich in seiner Panik während des Gewitters vertreten. Frustriert stand Julian auf. Er konnte das Tier unmöglich reiten, das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Wie sollte er jetzt nach Viviana suchen? Er brauchte ein Reittier. Dort hinten lag die Straße, und sie würde früher oder später durch einen Ort führen. Julian führte den Fuchs am Zügel und machte sich auf den Rückweg. Die Büsche waren niedergedrückt, und der Boden war von tiefen Rinnen durchzogen, die das Wasser hinterlassen hatte. Es dauerte geschlagene zwei Stunden, bis er hinter sich das Geräusch eines Pferdefuhrwerks hörte, das aus dem Nirgendwo gekommen zu sein schien. Er blieb stehen und wartete, bis es zu ihm aufgeholt hatte.
»Sie sind aber ordentlich nass geworden«, begrüßte ihn der alte Mann auf dem Karren. Das Pferd war nicht weniger alt und ging so langsam, dass Julian sich wunderte, dass es sich überhaupt vorwärtsbewegte.
»Ja, meine Begleiterin und ich sind mitten in das Gewitter geraten.« Er blickte in das runzelige Gesicht des Mannes, der seinen greisen Gaul angehalten hatte.
»Ihre Begleiterin?«
Julian nickte.
»Das andere Pferd ist durchgegangen, ich weiß nicht, wo sie sich jetzt befindet. Nachsehen kann ich auch nicht, weil sich meiner hier« – Julian deutete auf den Fuchs – »das Gelenk vertreten hat.«
Der alte Mann nickte ernsthaft.
»Das Gewitter ist so schlimm gewesen wie lange nicht mehr. Ich hatte mich vorsichtshalber in dem Schafstall dort drüben untergestellt.«
Julian blickte in die Richtung, konnte aber kein Gebäude erkennen.
»Er ist hinter dem Hügel.«
»Ich hatte mich schon gewundert, als Sie mit dem Karren wie aus dem Nichts auftauchten. Gibt es hier in der Nähe ein Dorf?«, fragte Julian, der die Unterhaltung gerne etwas beschleunigt hätte.
»Kein Dorf, aber ein oder zwei Bauernhöfe.«
»Wollen Sie zu einem von denen?«
Der Mann nickte.
»Zum Hof meines Schwiegersohns, des Taugenichts. Ich habe gleich gesagt, dass er nicht der Richtige für unsere Molly ist, aber die Frauen wollten nicht auf mich hören.« Wieder nickte er.
»Gibt es dort ein Pferd, das ich mieten könnte?«, unterbrach Julian die Familienbetrachtungen seines Gegenübers.
»Gut möglich, dass er Ihnen seinen Klepper überlässt.«
Julians Blick wanderte unwillkürlich zu dem alten Gaul vor dem Karren.
»Sagen Sie nichts über meine Mathilde! In ihrer Jugend hätte sie Ihre Mähre locker stehen lassen.« Die Augen des Greises funkelten Julian erbost an.
»Wie alt ist Ihr Tier?«
»Älter als Sie, junger Spund.«
»Mathilde, hm?« Julian streichelte dem Pferd über die Blesse.
»Jawohl, Mathilde, nach Kaiserin Mathilde! Geboren in dem Jahr, als die rechtmäßige Erbin des alten Henry auf dem Thron saß!« Der Mann hob seinen gichtkranken Finger. »Sagen Sie nicht, dass Sie den Dieb Stephen unterstützt haben. Ein Dieb ist er gewesen und ein Verräter! Hat dem alten Henry geschworen, seine Tochter anzuerkennen, und kaum hatte der König seine Augen geschlossen, setzte er sich selbst auf den Thron.«
Offensichtlich hatte Julian es mit einem Veteranen des Bürgerkriegs zu tun, und wenn er nicht noch heute Abend hier stehen wollte, musste er jetzt unhöflich sein und den Greis unterbrechen.
»Ach, wissen Sie, ich war während des Bürgerkrieges noch ein Kind und weiß nicht viel darüber.« Letzteres war gelogen, aber das spielte jetzt keine Rolle. »Können Sie mich mitnehmen zum Hof Ihres Schwiegersohns?«
Von dem plötzlichen Themenwechsel etwas verwirrt, nickte der alte Mann.
»Steigen Sie auf.«
Julian band seinen Fuchs am Wagen fest und stieg auf den Kutschbock. Der Mann schnalzte mit der Zunge, und das Pferd setzte sich langsam in Bewegung. Julian betrachtete den knochigen Gaul, der im Schneckentempo die Straße entlangtrottete. Zu Fuß war er schneller gewesen, aber nach zwei Stunden Marsch war er froh, fahren zu können.
»Wie alt ist Ihr Pferd?«
»Einunddreißig.«
»Mein Gott, es ist tatsächlich älter als ich!«
»Habe ich doch gesagt.« Der Greis lächelte zufrieden. In der nächsten halben Stunde erfuhr Julian, dass seine neue Bekanntschaft Paul hieß, aber von seinen Freunden nur »Hammer« genannt wurde. Diesen Ehrentitel hatte er sich 1140 während der Belagerung von Exeter durch Stephen Blois verdient. Baldwin de Revers hatte die Stadt drei Monate für Kaiserin Mathilde gehalten, ehe der Mangel an Trinkwasser ihn zur Kapitulation gezwungen hatte. Julian schätzte Paul, den Hammer, auf etwa siebzig Jahre. Seine Haut sah aus wie Leder, und sein Gesicht war von Falten durchzogen. Er hatte nur noch wenige Zähne, aber er schien ein zäher Bursche zu sein, denn trotz seines Alters konnte Julian die Muskeln an seinen dünnen Armen sehen. Es war später Nachmittag, als sie schließlich den ärmlichen Bauernhof erreichten.
»Da bist du ja, Vater, ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Eine blonde Frau trat aus dem niedrigen Holzhaus und blieb verwundert stehen, als sie Julian erblickte.
»Ho!« Paul zog unnötigerweise an den Zügeln, denn seine Mathilde war, nachdem sie endlich zu Hause angekommen war, einfach im Hof stehen geblieben. Julian sprang vom Kutschbock herab. Zwei kleine Jungen kamen aus dem Stall gelaufen, um ihrem Groß- oder auch Urgroßvater das Pferd abzunehmen. Beim Anblick von Julians Fuchs traten sie neugierig näher.
»He, ihr Bengel, kümmert euch um Mathilde, aber ein bisschen plötzlich«, befahl Paul ihnen, während er umständlich von dem Holzkarren herabstieg. Julian ging auf die Frau zu und stellte sich vor.
»Mein Name ist Julian. Ihr Vater war so freundlich, mich mitzunehmen. Er sagte mir, Sie hätten vielleicht ein Pferd, das ich mieten könnte? Mein Tier hat sich das Gelenk vertreten.«
»Sie sind ja ganz nass.«
Julian, der sich inzwischen an seine klammen Sachen gewöhnt hatte, winkte ab.
»Ich habe meine Begleiterin in dem Gewitter verloren und möchte gerne nach ihr suchen. Und dafür brauche ich ein Pferd.«
Paul trat zu ihnen.
»Wo ist der Nichtsnutz von deinem Ehemann?«
»Harold ist auf dem Feld, Vater.«
»Hat er seinen Gaul dabei?«
»Nein, das Pferd ist auf der Weide.«
»Gib unserem Gast einen Schluck Bier, Molly, ich gehe das Pferd holen.«
Julian wollte protestieren, dass er ebenso gut das Pferd holen könnte, aber ein warnender Blick der Frau hielt ihn zurück. Paul stapfte davon.
»Ich bin Molly. Kommen Sie doch für einen Augenblick herein.«
Sie hielt Julian die Tür auf, und er trat in das Strohdachhaus, das nur aus einem Raum bestand. Als er sich auf die Holzbank neben das Feuer setzte, merkte er erst, wie durstig und hungrig er war. Molly reichte ihm einen Krug Bier.
»Mein Vater wird leicht unwirsch, wenn man ihm widerspricht, besonders, wenn ihn seine Gicht plagt. Sie müssen das entschuldigen.«
»Ich habe nichts zu entschuldigen, ich habe mich zu bedanken, dass er mich mitgenommen hat. Er ist ein beeindruckender alter Herr.«
Sie lächelte und nickte.
»Ja, das ist er.«
Julian nahm einen Schluck Bier und war auf das Angenehmste überrascht.
»Das Bier ist ausgezeichnet!«
»Mein Mann macht sehr gutes Bier«, antwortete sie stolz und reichte ihm ein Stück Brot mit Käse.
»Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich.« Julian konnte sehen, dass die Familie nicht viel besaß, und es war ihm fast unangenehm, dass sie etwas von dem wenigen mit ihm teilten.
»Sie haben Ihre Begleiterin verloren? Das ist ja schrecklich.«
»Ja, ihr Pferd ist durchgegangen. Ich muss unbedingt nach ihr suchen.«
Die Tür ging auf, und Paul steckte den Kopf herein.
»Das Pferd ist da.«
Julian stand auf, schob sich den Rest seines Brotes in den Mund und ging hinaus.
»Sollen wir den Sattel von Ihrem Pferd auflegen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich möchte keine Zeit verlieren und das Tageslicht ausnutzen.« Julian blickte hinüber zu seinem Fuchs.
»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihr Tier, die Jungs werden sich darum kümmern, und ich sehe mir das Gelenk an.«
»Vielen Dank, Paul. Ich werde bei Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.« Er schwang sich auf das Pferd, das nur ein Zaumzeug trug, und trabte eilig vom Hof.
Der Grashalm, der über Vivianas Wange strich, hatte sie geweckt. Sie fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatte, und richtete sich gähnend auf, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ihre Hand tastete nach ihrem Unterkleid, das ihr am nächsten lag. Mit einer raschen Bewegung zog sie es zu sich herüber und hielt es schützend vor sich. Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie sich umdrehte und in die gelben Augen eines Hasen blickte. Aufmerksam betrachtete das Tier sie, seine Nase mit den Barthaaren zuckte unablässig. Erleichtert lachte Viviana auf und ließ sich zurück ins Gras fallen. Der Hase suchte das Weite. Die Sonne stand bereits im Westen, es war später Nachmittag. Viviana zog ihre Kleider an, die inzwischen getrocknet waren. Sie hatte die Orientierung verloren. Die Landschaft gab keinerlei Anhaltspunkte, welchen Verlauf der Fluss genommen hatte, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand und wie weit sie von der Straße oder überhaupt von einer menschlichen Behausung entfernt war. Viviana blickte über die einsamen Hügel. Am besten, sie hielt sich südlich, irgendwann müsste sie dann wieder auf die Straße treffen. Aber zunächst musste sie etwas trinken, und hungrig war sie ebenfalls. Viviana kletterte den Hang hinunter zum Fluss. Sie war noch nicht ganz unten angelangt, als sie sich umblickte und in einiger Entfernung ihr Pony stehen sah. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Das Tier musste dem Flussverlauf gefolgt sein, zu erschöpft, die Steigung des Hügels zu bewältigen. Jetzt graste es am Flussufer. Langsam näherte sich Viviana und streckte lockend die Hand aus, aber das Pony würdigte sie keines Blickes. Viviana war unsinnigerweise über dieses Verhalten verärgert und ging schließlich einfach auf das Tier zu und nahm die Zügel.
»So, nun komm, du blödes Vieh. Wenn du nicht so schreckhaft gewesen wärest, würden wir jetzt nicht hier herumirren!«, schimpfte Viviana und zog das widerwillige Pony mit sich. Über dem Hügel hing die Sonne schwer und golden am Himmel. Sie sollte sich auf den Weg machen. Hoffentlich würde sie einen Platz zum Übernachten finden. Das Pony war müde, und Viviana hatte große Mühe gehabt, es den Abhang hinaufzuführen. Wenn sie das Tier nicht ständig antrieb, würde es sowieso nur im Schritt gehen. Viviana blickte missmutig auf den Sattel, der immer noch völlig durchnässt war. Sie beschloss, das Tier zu führen und zu Fuß zu gehen. Sie kam nur langsam voran, im Gegensatz zur Sonne, die sich umso schneller nach Westen zu bewegen schien. Weit und breit waren keinerlei Anzeichen von Menschen zu sehen, nur einsame Hügel. Viviana musste an Wölfe denken. Sie tastete nach dem Dolch, der an ihrem Gürtel hing. Der würde ihr gegen ein hungriges Wolfsrudel auch nichts nützen. Ihre Füße taten weh, das getrocknete Leder der Schuhe war steif und scheuerte an ihren Zehen. Sie hätte gerne eine Pause gemacht, aber sie musste das Licht ausnutzen, in der Hoffnung, doch noch einen Unterschlupf zu finden. Es war früher Abend, und die Schatten wurden immer länger. Gerade als Viviana sich damit abgefunden hatte, unter freiem Himmel schlafen zu müssen, entdeckte sie in einem Hain niedriger Bäume einen Unterstand. Es war eine ausgesprochen windschiefe Bretterbude, aber ihr Anblick ließ Viviana ein kleines Dankgebet gen Himmel schicken. Viviana band das Pony an einem der Bretter fest und blickte durch die Türöffnung. Die eisernen Türangeln waren aus den verrotteten Brettern gebrochen, und die Tür lehnte neben der Öffnung an der Wand. Im Inneren lag ein kleiner Haufen Stroh. Sonst war der Unterstand leer. Viviana trat wieder ins Freie und sattelte das Pony ab. Immerhin, es war besser als nichts und gab ihr die Illusion von Sicherheit. Vor einer Viertelstunde waren sie an einem kleinen Rinnsal vorbeigekommen, an dem sie das Pony getränkt hatte. Wenn sie jetzt noch etwas mehr Heu fände, wäre für das Tier gesorgt. Sie ging um die Bretterbude herum und hatte Glück. An die Nordseite lehnte sich eine Art Vordach, unter dem sich noch mehr Stroh befand. Es würde auch noch für ein bequemes Bett für sie reichen, dachte Viviana zufrieden und griff mit beiden Händen zu. Überrascht ließ sie den Arm voll Stroh wieder fallen. Ihre Finger waren gegen etwas Hartes gestoßen. Neugierig schob sie die Halme beiseite, bis dunkler Stoff zum Vorschein kam. Viviana zog daran und blickte plötzlich auf das grausige Antlitz einer Leiche. Mit einem Schreckensschrei fuhr sie zurück und bekreuzigte sich. Ihr Herz raste, als sie mit zitternden Knien vor den verwesten Überresten eines Menschen stand. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber wohin? Warum war Julian jetzt nicht bei ihr? Er wusste immer, was zu tun war. Unglücklich trat Viviana von einem Fuß auf den anderen. Es dauerte eine kleine Weile, ehe sie sich beruhigt hatte. Sie sollte feststellen, was es mit der Leiche auf sich hatte, sagte sie sich. Schließlich musste sie hier übernachten. Zögernd trat sie wieder näher an den Leichnam heran. Was sollte sie tun? Widerwillig wischte sie den Großteil des Strohs von dem Körper herab und erkannte, dass der dunkle Stoff Teil einer Nonnentracht war. Wieder bekreuzigte sich Viviana. Was machte eine tote Nonne hier mitten in der Einöde unter einem Haufen Stroh? Dem Zustand der Frau und ihres Gewandes nach zu urteilen, war sie schon eine Weile tot. Viviana starrte auf die mumifizierte Gestalt vor sich. Sie musste einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Erneut griff Viviana nach dem Dolch an ihrer Seite und sah sich um, als wenn der Mörder noch hinter den Büschen lauerte. Wieder wünschte sie sehnlichst, dass Julian hier wäre. Viviana fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie musste sich konzentrieren. Es würde bald dunkel sein, und sie konnte jetzt nichts weiter tun. Sie häufte etwas Stroh zurück auf das Gesicht der Toten, klaubte dann einen Armvoll zusammen und trug es in die Bretterbude. Sie hatte kein Bedürfnis mehr, sich daraus ein weiches Lager zu bauen, und warf es für das Pony in eine Ecke. Dem Tier würde es gleichgültig sein, dass eine Leiche unter seinem Futter verborgen gewesen war. Missmutig grub Viviana mit einem Fuß in dem kleinen Haufen, der in dem Unterstand gelegen hatte. Nicht, dass sie noch etwas Schreckliches finden würde. Aber es fand sich nichts. Sie führte das Pony in den Unterstand und schob die Tür vor den Eingang. Nachdem sie sich in ihren Umhang gewickelt hatte, setzte sie sich in eine Ecke und starrte vor sich hin. Vielleicht war die Frau auch gar nicht ermordet worden, sondern hatte sich verirrt, war verletzt und dann schließlich hier gestorben? Nein, das war Unsinn, sie hätte Schutz in der Bretterbude gesucht, anstatt sich draußen unter das Vordach zu legen. Immerhin war die Leiche noch intakt, soweit sie das erkennen konnte, was zumindest die Anwesenheit von einem Rudel Wölfe in dieser Gegend unwahrscheinlich machte. Wieder durchflutete die Sehnsucht nach Julian ihren Körper. Was, wenn sie sich nicht wiederfänden? Sie war allein mit einer Leiche. Und sicher gab es hier auch Wiedergänger von all den verdammten Seelen, die in den umliegenden Mooren versenkt worden waren. Eine Träne lief über Vivianas Wange, und sie zog unglücklich den Umhang fester um sich. Ihre Überlegungen wurden jedoch kurz darauf von der Frage unterbrochen, warum der Mörder den Leichnam der Frau nicht vergraben hatte? Vielleicht war es zu viel Arbeit gewesen, und er hatte nicht die Zeit dazu gehabt, grübelte Viviana. Aber wenn man einen Leichnam verschwinden lassen wollte, wäre es sicher sinnvoller, ihn irgendwo zu verscharren, als unter einem Strohhaufen zu verbergen, wo er früher oder später nichts ahnenden Reisenden einen gewaltigen Schreck einjagen würde. Es war inzwischen dunkel geworden, und außer den regelmäßigen Kaugeräuschen des Ponys war nichts zu hören.
Viviana starrte auf die Wand, hinter der die Leiche lag. Sie würde sich das alles morgen bei Tageslicht noch einmal ansehen. Die Frau musste ja irgendwo vermisst werden. Vivianas Gedanken wanderten zu Julian. Würde er überhaupt Nachforschungen anstellen? Der Gedanke, dass er vielleicht nicht nach ihr suchen könnte, war ihr bisher noch gar nicht gekommen. Er hatte ja sicher nicht unbegrenzt Zeit, seinen Auftrag zu verschieben. Viviana unterdrückte weitere Tränen. Sie war entmutigt und fürchtete sich, redete sie sich gut zu und wühlte in ihrer Tasche nach dem halben Brot, das sie als Proviant eingesteckt hatte. Es war natürlich nass und ein unappetitlicher, matschiger Klumpen geworden. Morgen würde alles anders aussehen, dachte sie und begann, ihr karges Abendmahl zu essen.
Als Viviana am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es schon hell. Durch die vielen Spalten zwischen den Holzbrettern schien die Sonne und tauchte das Innere des Stalls in Streifen von Licht und Schatten. Sie stand auf und rieb sich ihren steifen Nacken. Das Pony schnaubte ungeduldig zur Begrüßung.
»Ich kann nicht sagen, dass ich dich besonders gut leiden kann«, sagte Viviana zu ihrem Reittier und schob die behelfsmäßige Tür beiseite. Das Pony drängte hinter ihr ins Freie und begann sofort, das von Tau bedeckte Gras zu fressen. Sie musste Wasser für das Tier finden. Es war noch früh, aber es würde wieder ein heißer Tag werden. Das Wichtigste zuerst, sagte sich Viviana und machte sich auf die Suche. Sie hatte Glück und entdeckte das kleine Rinnsal wieder, an dem sie gestern das Pony getränkt hatte. Nachdem sie das Tier und sich selbst versorgt hatte, ihre Sachen gepackt waren und es nichts anderes mehr zu tun gab, ging Viviana um die Bretterbude herum, um sich die Leiche nochmals anzusehen. Sie holte tief Luft und schob das Stroh von der toten Frau herab. Im hellen Sonnenschein erschreckte sie der Anblick nicht mehr so sehr wie am Abend, als sie müde und erschöpft gewesen war. Das Gesicht der Leiche glich einer Ledermaske. Hände und Füße waren dunkel verfärbt und ausgetrocknet. Mit einem Stock hob sie den Körper vorsichtig an. Ein Heer von wimmelnden Käfern und Larven wurde sichtbar, und der Gestank, der von der Unterseite der Leiche ausging, erzeugte bei Viviana einen Brechreiz. Angeekelt ließ sie die Tote wieder zurücksinken und trat ein paar Schritte zur Seite. Sie glaubte jedoch, gesehen zu haben, wie etwas Glänzendes von der Leiche weggerollt war. Viviana wühlte mit dem Stock in dem Heu und fand es schließlich. Es war ein silberner Knopf. Nachdenklich hob sie ihn auf. Mit diesen Knöpfen wurden Jacken und Mäntel verziert. Viviana ließ den Knopf in ihrem Beutel verschwinden. Jemand anderer musste die tote Frau bergen, sie wusste ja noch nicht einmal, was sie mit ihr tun sollte. Entschlossen häufte sie das Stroh wieder auf die Leiche und brach auf.