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Es war der dritte Tag nach ihrer Rettung, und Viviana saß draußen an der dem Meer abgewandten Seite der Schenke. Die Hauswand in ihrem Rücken war warm, und sie blinzelte in die Sonne. Neben sich hörte sie die Bienen in den wilden Rosen summen und hoch am strahlend blauen Himmel das Schreien der Möwen. Die Luft roch in dieser warmen, windstillen Ecke aromatisch nach Salz und Tang. Nachdenklich grub sie mit ihren nackten Füßen im feinen Sand. Niemand schien sie zu vermissen, es gab keinerlei Hinweise darauf, wo sie hergekommen sein könnte, und sie konnte sich noch immer an nichts erinnern. Der weiße Sand rieselte zwischen ihren braunen Zehen hindurch und über ihre blassrosa Nägel. Dies waren nicht die Füße einer Frau, die lange Wege barfuß oder in schlechtem Schuhwerk gegangen war. Wer war sie? Eines stand fest: Sie konnte hier nicht bleiben. Aber sie wusste auch nicht, was zu tun war. Sie hatte kein Geld. Das dringendste Problem war, irgendwie ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ehe sie überhaupt daran denken konnte, Nachforschungen anzustellen. Für die Männer im Dorf war sie wie Freiwild, und wenn Gott ihr nicht den Spanier als Freund geschickt hätte, wäre es schlecht um sie bestellt. Eine mittellose Frau und ganz allein, das war eine leichte Beute. Rinaldo hatte seinen Aufbruch nach Saint Albans verschoben, um hier mit ihr eine Weile abzuwarten. Aber keiner hatte nach ihr gefragt, und sie wusste, dass er bald weiterziehen wollte. Ihre Füße schoben den Sand zu einem kleinen Wall zusammen. Wenn Rinaldo ginge, wäre sie völlig schutzlos.

»Ein schöner Tag.«

Viviana blickte auf. Der Spanier kam auf sie zu.

»Ja, es ist wunderschön.«

Rinaldo räusperte sich.

»Viviana, wie du weißt, habe ich einen Eid geschworen, diese Pilgerfahrt zu machen. Wenn das nicht so wäre, könnte ich hier noch länger mit dir abwarten.« Er räusperte sich wieder. »Ich kann dich aber auch nicht einfach hier zurücklassen.«

Viviana wollte etwas sagen, aber er machte eine Handbewegung und sprach weiter.

»Ich habe nachgedacht. Gott hat uns sicher nicht grundlos hier zusammengeführt, und wenn du mit mir nach Saint Albans gingest, wird der Heilige dir vielleicht dein Gedächtnis zurückgeben.«

»Du willst mich mitnehmen?«

»Ich kann verstehen, wenn du nicht möchtest.«

»Doch, doch. Aber ich habe nichts, womit ich die Reise bezahlen könnte.«

»Wenn wir uns einschränken, wird das Geld bestimmt reichen.«

»Ich komme sehr gerne mit, und ich werde auch sicher einen Weg finden, dir alles zurückzuzahlen.« Impulsiv griff sie nach seiner großen Hand und drückte sie dankbar.

Der Spanier war hocherfreut und machte ganz den Eindruck, als würde sie ihm und nicht umgekehrt einen Gefallen tun.

»Gut, dann gebe ich der Wirtin Bescheid, dass wir morgen abreisen.«

Viviana sah ihm nach. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass Rinaldo befürchtet haben könnte, sie würde sein Angebot ablehnen. Seine merkwürdige Erscheinung machte ihn zu einem Außenseiter, dem oft mit Spott oder Ablehnung begegnet wurde. Vielleicht brauchte auch er genau wie sie einen Freund. Viviana schloss die Augen und sog die Meeresluft tief in sich hinein. Es war sehr seltsam, sie hatte keinen Besitz, keine Vorstellung von ihrer Zukunft, und sie kannte nicht einmal ihren richtigen Namen, aber in diesem Augenblick hier in der Sonne hinter den Dünen fühlte Viviana einen tiefen Frieden. Ihr dringendstes Problem hatte sich vorerst gelöst, und durch die Eindrücke einer Reise würde sie sicher auch den Schlüssel zu ihrem Gedächtnis wiederfinden.

Früh am nächsten Morgen standen sie in der Diele und verabschiedeten sich von Trudy. Die Wirtin hatte einen fadenscheinigen Umhang und ein Paar löchrige Schuhe für Viviana aufgetan, die zwar etwas zu groß waren, aber definitiv besser als keine. Rinaldo hatte seine Rechnung bezahlt und darauf bestanden, auch für Vivianas Unterbringung zu bezahlen. Sein Maultier stand im Hof und wartete, doch Trudy hielt sie plötzlich zurück.

»Einen Moment, Miss, ich habe noch etwas.«

Die Wirtin löste das Band des Beutels, der von ihrem Gürtel hing, und nahm etwas heraus. Sie drückte es Viviana in die Hand.

»Hier, das hatten Sie um den Hals. Ich habe es an mich genommen, als ich Sie versorgt habe.«

Viviana betrachtete das kleine Medaillon, das an einer dünnen Silberkette hing.

»Ich habe genau nachgesehen, es ist leer, und es gibt keine Zeichen darauf, die ein Hinweis hätten sein können«, sagte die Wirtin schnell, um sich zu verteidigen. Es war deutlich, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. »Ich dachte, es wäre nur gerecht, für die ganze Arbeit und das Essen und alles.«

»Es ist gut. Danke, dass Sie es mir gegeben haben.«

»War das das Einzige, was Miss Viviana bei sich hatte, oder gibt es da noch andere Dinge?« Der Spanier war verärgert.

»Das war das Einzige, das schwöre ich bei dem Leben meiner Kinder.«

Viviana legte die Kette um ihren Hals und zog Rinaldo am Ärmel.

»Lass uns aufbrechen, Rinaldo.«

Das große, kräftige Maultier trug ihre wenigen Habseligkeiten, während sie beide zu Fuß gingen. Schweigend hatten sie bereits ein ganzes Stück des Weges zurückgelegt, als Viviana unvermittelt sagte: »Was ist, wenn ich mich einfach nie mehr erinnern kann?«

»Es wird wiederkommen, bestimmt.«

»Ich fühle mich so losgelöst von allem. Jeder Mensch hat Familie und weiß, wohin er gehört. Nur ich nicht.«

»Ich gehöre auch nirgendwo hin.«

»Aber du weißt, wo du herkommst.«

»Ja, leider.«

Viviana blickte Rinaldo an. Er hatte ihr erzählt, dass er einen Eid geschworen hatte, auf Pilgerschaft zu gehen, um eine Sünde wiedergutzumachen. Viviana konnte sich kaum vorstellen, dass ein so sanfter, freundlicher Mensch wie Rinaldo Sünden begangen haben sollte, die nur durch eine entbehrungsreiche Pilgerfahrt nach England gesühnt werden konnten. Aber sie wusste nur sehr wenig über ihn. Er stapfte neben ihr in der Vormittagssonne, und Schweiß strömte über sein Gesicht. Nein, sie konnte nicht glauben, dass er einer anderen Kreatur etwas anhaben könnte. Aber es gab auch schlimme Sünden, die man ganz für sich allein begehen konnte. Schweigend gingen sie weiter. Eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen, von denen der eine kein Gedächtnis hatte und der andere nicht über seine Vergangenheit reden wollte, war gar nicht so einfach.

Am Abend hatten sie bei einem Bauern Unterkunft gefunden, der sie in der Scheune schlafen ließ. Seine Frau hatte mehr über das ungleiche Paar wissen wollen, da sie aber nur Kornisch und kaum Englisch sprach, hatte sie schließlich ihr Verhör abgebrochen.

»Was wollen wir den Leuten erzählen, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen?«

Rinaldo, der Stroh zu einer Lagerstatt zusammenschob, hielt inne.

»Ich glaube, wir sollten mit der Wahrheit vorsichtig sein, Viviana. Wenn man niemanden auf der Welt hat, ist man ein leichtes Opfer.«

»Aber wir haben doch uns.«

Er blickte sie an und erwiderte Vivianas Lächeln. Ja, es schien wirklich, als hätte Gott sie zusammengeführt, damit sie sich gegenseitig helfen konnten.

»Wir sollten verwandt sein. Du könntest meine Schwester sein.«

»Wir sehen uns nicht sehr ähnlich«, gab Viviana zu bedenken und blickte von ihrem zierlichen Körper zu Rinaldos hünenhafter Gestalt.

»Aber wir sind beide dunkel und haben einen fremdländischen Akzent. Das dürfte schon reichen. Ich glaube nicht, dass die Leute einen spanischen Akzent von einem französischen Akzent unterscheiden können.«

»Nein, das glaube ich auch nicht.«

»Wo kommen wir her?« Rinaldo schien offenbar zunehmend Gefallen daran zu finden, sich eine Geschichte zurechtzulegen.

»Eine Grenzregion wäre gut, vielleicht Aragonien?« Viviana stutzte. »Ich weiß sehr viel über diese Region, stelle ich gerade fest.«

»Wahrscheinlich kommst du da her.«

»Vielleicht.« Aber ihre Stimme klang unsicher. Sie nahm die Halskette ab und hielt das Medaillon in die untergehende Sonne. Viviana hatte es bereits mehrmals genauestens untersucht, aber es gab absolut keine Hinweise. Es war aus Silber, rechteckig, ohne Verzierungen und leider leer. Was sich auch immer in dem Schmuckstück befunden hatte, lag jetzt unwiederbringlich auf dem Grund des Meeres. Rinaldo machte es sich auf seinem improvisierten Bett bequem und streckte sich seufzend aus. Viviana betrachtete ihn. Armer Rinaldo, jetzt, da er mit ihr reiste, war er gezwungen, zu Fuß zu gehen, und das war er offensichtlich nicht gewohnt. Sie selbst hatte zwar eine viel bessere Kondition als der Spanier, aber lange Fußmärsche schienen auch in ihrer Vergangenheit nicht üblich gewesen zu sein. Sie rieb sich ihre schmerzenden Zehen und warf einen grimmigen Blick auf Trudys ausgelatschte Schuhe. In der nächsten Stadt musste sie eine Möglichkeit finden, etwas zu verdienen, um sich ein Paar neue Schuhe kaufen zu können. Aber wie sollte sie etwas verdienen, wenn sie nicht einmal wusste, ob sie überhaupt irgendeine Fertigkeit besaß? Mutlos legte sie ihre Kette wieder um. Irgendwann musste sie sich doch erinnern! Die Landschaft, durch die sie wanderten, war wunderschön mit den felsigen Höhen und den bewaldeten Tälern, aber nichts kam ihr bekannt vor.