• 28 •
Emmitt und Terrence waren scharf geritten und hatten die Pferde einmal gewechselt, als sie endlich durch das Nordtor in die Stadt kamen. Ohne weitere Verzögerung bahnten sie sich ihren Weg zu der Stellmacherwerkstatt von Simeons Schwiegervater. Terrence war sich sicher, dass Julian sich bei seinem Freund melden würde, sobald er in der Stadt war. Sie stiegen gerade ab, als Simeon von seinem Treffen mit Viviana zurückkam.
»Na, da mussten wir ja nicht lange warten!«, stellte Terrence befriedigt fest.
»Was macht ihr denn hier?«
»Wichtige Angelegenheit.«
»Lass mich raten, es hat mit Julian zu tun?« Simeon bat die beiden Männern in die Wohnstube. Janet servierte, mit säuerlichem Gesicht, Bier und verschwand dann in der Küche.
»Ihr müsst entschuldigen, sie hat es nicht gerne, wenn ich Arbeit mit heimbringe.«
»Julian steckt tief in der Scheiße!«, stellte Terrence in seiner üblichen drastischen Ausdrucksweise fest.
»Ich weiß, er ist von Thorn in Saint Albans festgesetzt worden.«
»Hat Miller Westminster schon erreicht und Bericht erstattet? Das ist dann aber eine echte Glanzleistung für ihn.«
Simeon schüttelte den Kopf.
»Nein, ich weiß es von jemand anderem, aber erzähl du erst einmal weiter.«
»Derjenige ist aber dann nicht auf dem neuesten Stand. Julian ist ausgebrochen und verschwunden.«
Simeon blickte von einem zum anderen.
»Kannst dir ja vorstellen, wie das jetzt aussieht«, fuhr Terrence fort.
»Wir hatten einen Zeugen, einen von Hugh Bigods Männern, der bestätigen konnte, dass Thorn der Verräter ist. Aber leider ist er gestern Nacht umgekommen.«
»Ich könnte schwören, er ist von jemandem zum Schweigen gebracht worden!«, unterbrach Emmitt Terrence.
»Das weiß ich, das weiß ich. Das hast du mir in den letzten Stunden ununterbrochen erklärt, und ich sage dir, dass das jetzt gleichgültig ist. Der Mann ist tot und uns nicht mehr nützlich.«
Emmitt errötete.
»Aber es ist doch wichtig, zu wissen, wer es gewesen ist!«, verteidigte er sich.
»Ja, aber nicht jetzt.« Terrence wandte sich wieder Simeon zu. »Du hast schon etwas von der Sache gehört, von wem?«
Simeon zögerte. Er kannte Terrence nur flüchtig und war erstaunt, dass Julian ihn anscheinend näher kannte, denn er war offensichtlich auf Julians Seite. Emmitt war Simeon schon ein paar Mal begegnet, ein etwas zu tatkräftiger Anfänger, aber er schien das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. Vielleicht hatte sich eines der Probleme gerade erledigt.
»Die Französin war hier. Sie wird uns Thorn liefern.«
»Was?« Terrence machte große Augen.
Simeon nickte.
»Ich weiß nicht, warum sie das tut, aber sie hat vorgeschlagen, dass wir Thorn eine Falle stellen.«
»Können wir ihr trauen?«
»Ich weiß nicht. Andererseits hat diese Sache keine Vorteile für sie. Möglicherweise will sie nur mit dem Kardinal reinen Tisch machen, aber ich wüsste nicht, warum. Sie könnte sich auch einfach absetzen.«
»Vielleicht will sie Julian helfen?«, schlug Emmitt vor.
»Wenn es nicht so unwahrscheinlich wäre, wäre das die einzige Erklärung.«
»Das nenne ich aber einen Glücksfall, dass Simeon mit von der Partie ist!«, sagte Terrence, als er die stumpfe Feder anspitzte, die der Wirt ihm gebracht hatte, und in das Tintenfass steckte. Doch ehe er den ersten Buchstaben geschrieben hatte, kam das Schankmädchen und stellte zwei Krüge Bier auf den Tisch. Terrence legte die Feder ab und wandte sich den wichtigeren Dingen zu.
»Auf dass die Gerechtigkeit siege!« Er prostete Emmitt, der ihm gegenübersaß, zu. Emmitt grinste. Einen Verbrecher festzunehmen war schon sehr spannend, aber einen Verräter aus den eigenen Reihen dingfest zu machen, das war großartig.
Sie hatten verabredet, dass Simeon eine Nachricht an Viviana schickte und den Treffpunkt angab. Sie würde dann so tun, als wenn sie diese Zusammenkunft mit dem angeblichen Meister Hektor abgemacht hätte.
Das Treffen sollte auf der Themse stattfinden. Das war zwar etwas ungewöhnlich, hatte aber den Vorteil, mögliche Fluchtversuche zu erschweren. Außerdem hatte Simeon richtig erkannt, dass Thorn über ein Netz von unbekannten Helfern und Helfershelfern verfügte, die seine Festnahme vereiteln könnten. Noch vor Morgengrauen wollten Simeon, Terrence und Emmitt mit einem Boot auf die Themse rudern und sich dort mit Melchor und Viviana treffen. Die Dämmerung würde ihnen dabei helfen, sich erst in letzter Minute zu erkennen zu geben. Sie würden Melchor mitsamt der Liste festnehmen, und Julian wäre entlastet. Terrence musste zugeben, dass Simeon da einen guten Plan gemacht hatte. Er schob Emmitt das Pergamentblatt zu.
»Hier, schreib du den Bericht an den Kardinal, du bist bestimmt schneller als ich.«
Emmitt nahm den Federkiel, tauchte ihn in die Tinte und schrieb einen genauen Bericht über die Sachlage und ihren Plan, Melchor morgen in aller Früh festzusetzen.
»Hoffentlich geht alles glatt«, brummte Terrence und nahm einen weiteren Schluck Bier. Emmitt nickte, aber Terrence und er dachten nicht an das Gleiche. Es war schade um einen guten Mann wie Julian, aber Terrence war schon so tief in Melchor Thorns Machenschaften verstrickt, dass es für ihn kein Zurück mehr gab. Er musste tun, was zu tun war, um diese Sache zu Ende zu bringen. Wenn Thorns Versprechungen wahr würden, könnte Terrence seine Schulden bezahlen und sich endlich zur Ruhe setzen. Hoffentlich hatte Thorn die Nachricht bei der Poststation abgeholt, die er ihm aus Saint Albans geschickt hatte. Er sollte Thorn auch vor dieser Falle warnen, aber er wusste nicht, wo er in London abgestiegen war. Es war zweifelhaft, ob er nochmals bei der Poststation nachfragen würde, wenn er keine Nachricht erwartete. Es war auch gleichgültig, denn bei diesem Treffen auf der Themse war das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Das Einzige, was ihn wunderte und auch beunruhigte, war die Französin. Sie trieb ein doppeltes Spiel mit Thorn. Wenn er nicht selbst in die Sache verwickelt wäre, würde er Thorn einen solchen Misserfolg von Herzen gönnen. Aber was steckte wirklich dahinter? Er hatte zunächst geglaubt, dass sich die Französin tatsächlich mit Thorn verbündet hatte. Aber stattdessen hatte sie mit Simeon diese Falle ausgeheckt. Terrence leerte seinen Krug mit einem großen Schluck, um den bitteren Geschmack in seiner Kehle hinunterzuspülen. Jetzt würde Simeon auch noch dran glauben müssen, noch ein guter Mann. Das Schankmädchen brachte ihm einen zweiten Krug Bier. Es würde das allerletzte Mal sein, dachte Terrence, und dann musste endlich Schluss sein. Emmitt blickte von dem Pergament auf.
»So, ich hoffe, ich habe an alles gedacht.« Er reichte es Terrence.
»Hast du darauf hingewiesen, dass wir das unauffällig allein machen, damit Thorn keinen Verdacht schöpft?«
Emmitt nickte.
»Ich will nicht, dass Miller sich plötzlich besinnt und doch noch mitmachen will. Er ist zwar stinkend faul, aber wenn er ohne viel eigenen Aufwand an einem Erfolg teilhaben kann, dann kriegt er ganz schnell den Hintern hoch.« Terrence stürzte den Inhalt seines zweiten Krugs hinunter und stand auf.
»Los komm, wir sehen uns mal das Dock an, von dem wir morgen losrudern.«
»Sollte ich nicht lieber gleich nach Westminster reiten und den Bericht abgeben?«
»Das kannst du doch noch danach machen. Ich will nicht, dass du morgen den Weg nicht findest.«
Emmitt grinste.
»Da kannst du Gift darauf nehmen, dass ich mir das nicht entgehen lassen werde.«
Ein Schatten huschte über Terrences Gesicht, als er Emmitt aus der Schenke folgte. Es war bereits dunkel, als sie die Gasse hinunter ans Wasser gingen. Der durchdringende Geruch von Brackwasser wehte ihnen entgegen, und schon bald hörten sie die Wellen an das befestigte Ufer schlagen. Das Wasser sah fast schwarz aus. Emmitt stand auf dem gemauerten Kai und blickte in die Tiefe. Es war auflaufendes Hochwasser, und es erstaunte ihn jedes Mal wieder, wie weit im Inland die Gezeiten des Meeres noch zu merken waren.
»Wo ist das Boot?«
»Da drüben.« Terrence zeigte in eine Richtung, wo am Ufer ein Stück entfernt schemenhaft ein Steg zu erkennen war. Emmitt beugte sich vor, um besser sehen zu können.
»Tut mir leid, Junge.« Noch ehe sich Emmitt umdrehen konnte, traf ihn der Griff des Messers hart an der Schläfe. Er sackte in sich zusammen, und Terrence stieß ihn in die Dunkelheit. Klatschend schlug das Wasser über Emmitt zusammen, und sein lebloser Körper wurde von der schnellen Strömung davongetragen. Terrence sah ihm nach. Es tat ihm leid. Er hatte gehört, dass Ertrinken ein angenehmer Tod sein sollte, und ein Bewusstloser würde dem nichts entgegensetzen. Er konnte die Gestalt bereits nicht mehr sehen. Godefroy Helmet, der alte Tattergreis, war ebenfalls ein ganzes Stück flussabwärts getrieben, ehe man ihn entdeckt hatte. Er hatte Terrence immer an einen schnüffelnden, blinden, alten Dachshund erinnert, der hinter jedem Stein Gespenster witterte. Keiner hatte Godefroy mehr ernst genommen, doch ausgerechnet dieses eine Mal hatte er tatsächlich eine Verschwörung entdeckt. Es war fast tragisch, nach einem langen, gefährlichen Agentenleben auf den letzten Metern doch noch erwischt zu werden. Terrence bekreuzigte sich. Was war nur aus ihm geworden, dass er die eigenen Leute umbringen musste? Er knüllte Emmitts Nachricht an den Kardinal zusammen und warf sie ebenfalls in den dunklen Fluss. Missmutig drehte er sich um und ging die Straße zurück, um sich in der erstbesten Spelunke zu betrinken.
Die Nachrichten, die Melchor Thorn von Terrence aus Saint Albans erhalten hatte, waren unerfreulich. Der Kurier war die ganze Nacht durchgeritten und hatte tatsächlich in der Poststation auf ihn gewartet und ein stattliches Trinkgeld verlangt. White war aus dem Loch ausgebrochen und ihm wahrscheinlich auf den Fersen, stand dort geschrieben. Immerhin hatte Terrence das Problem mit dem Glatzkopf gelöst, der, wie zu erwarten, ohne Bedenken die Sache seines Herrn verraten hatte. Jedenfalls würde er jetzt mit einem Messer im Rücken nichts mehr bezeugen können. Melchor hatte dem Kerl von Anfang an nicht getraut. Terrence wollte ein Auge auf Emmitt haben, der die Angelegenheit offenbar durchschaut hatte, und ebenfalls, so schnell es ging, nach London kommen. Er würde die Stadt nicht vor dem Nachmittag erreichen, dachte Melchor, als er aus dem Fenster sah und die Kirchenglocke zum Mittag schlug. Er hatte sich vor einer Stunde von Viviana getrennt, seine Post abgeholt und es sich in seinem neuen Quartier bequem gemacht. Melchor wusste, dass der Wirt dieser gediegenen Herberge dem König seine Steuern vorenthielt, und der Wirt wusste, dass Melchor es wusste. So hatten sie sich zu beiderseitigem Vorteil arrangiert, und Thorn hatte eine ausgezeichnete Unterkunft bezogen. Er blickte auf das breite Bett mit dem mit Gold verzierten Baldachin und dachte an Viviana. Heute Nacht würde er an das Ziel seiner Träume gelangen. Melchor betrachtete seine schmutzigen Fingernägel. Er sollte ein Bad nehmen, dachte er. Sehr wahrscheinlich würde er in einem der öffentlichen Bäder auch einen Bekannten treffen, was ihm die Gelegenheit geben würde, eine Geschichte in Umlauf zu bringen, weshalb er in London war. Die Leute bezeugten, wenn man sie befragte, eifrig alle möglichen Geschichten. Sie hatten keinerlei Beweise für das, was sie gehört hatten, präsentierten es aber, als wenn es die unbedingte Wahrheit wäre. Vermutlich lag es an dem urmenschlichen Bedürfnis, sich wichtigzumachen und dazuzugehören. Er musste aufpassen, dass White ihn nicht erwischte, ehe er den Kontakt mit den Verschwörern hergestellt hatte, dachte Melchor, als er die Treppe hinunterging und auf die Straße trat. Hoffentlich hatte er auch genug Zeit, die entschlüsselte Liste zu kopieren. Dann bräuchte er nur noch auf White zu warten. Er könnte ihn festnehmen und ihm die unverschlüsselte Liste unterschieben. In dem Fall war White der Strang sicher. Besser noch, er würde es Terrence überlassen, White festzunehmen, dann könnte niemand eine Verbindung zu ihm selbst herstellen. Terrence of Wiltonbridge war ein Mann, der gerne trank und gerne um Geld spielte. Er war Melchor bereits ein paar Mal behilflich gewesen, und dafür hatte er, Melchor, Terrence bei seinen Gläubigern ausgelöst. Besonders vorteilhaft war, dass niemand sie je miteinander in Verbindung bringen würde, ihre Bekanntschaft war rein geschäftlicher Natur. Terrence war sicherlich einmal so ein aufrechter Soldat wie White gewesen, aber Alkohol hatte sich in seine Seele gefressen und ihn korrumpiert. Umso besser für Melchor, der solche Männer für seine Zwecke zu nutzen wusste.
Julian und Rinaldo erreichten London am Vormittag. Nachdem sie die Pferde untergestellt hatten, hatten sie sich getrennt, um nach Thorn und Viviana zu suchen. Es war Julian nicht recht gewesen, dass Rinaldo ebenfalls Fragen stellen würde, denn seine Erscheinung war zu auffällig, und dies könnte Thorn vorzeitig warnen. Aber er konnte dem Spanier nichts vorschreiben, und außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis Thorn erfuhr, dass er aus dem Verlies entkommen war. Julian klapperte die üblichen Etablissements ab, die Thorn frequentierte, aber er hatte kein Glück. Am frühen Abend beschloss Julian, mit Simeon Kontakt aufzunehmen. Er hatte lange überlegt, ob er ihn in diese Sache mit hineinziehen sollte, aber er brauchte die Unterstützung seines Freundes. Immer noch nicht recht entschlossen, ging er durch die Straßen in Richtung des Handwerkerviertels. Es war ein Leichtes, sich in einer so großen Stadt wie London zu verstecken, und Melchor Thorn konnte überall sein. Wenn er nicht den Beweis führen konnte, dass Thorn im Besitz der Liste war, wäre er geliefert. Selbst wenn der Kardinal ihm seine Unschuld glauben würde, hätte Julian trotzdem durch sein eigenmächtiges Handeln die gesamte Mission zunichtegemacht. Jedenfalls sah es so aus. Die Anschuldigungen von Miss Marguerite erschienen, verglichen damit, fast nebensächlich. Doch es war fraglich, ob der König das auch so sah. Julian verlangsamte seinen Schritt, als er in die Eastlane abbog. Er hatte die Werkstatt fast erreicht, als er sah, wie die Tür des Hauses aufging und zwei Männer heraustraten. Julian verschwand in einer Toreinfahrt und spähte vorsichtig um die Ecke. Es waren Emmitt und Terrence. Was machte Terrence hier? Gehörte er zu der Verstärkung, die nach Saint Albans geschickt worden war? Sie kamen direkt an ihm vorbei. Julian drückte sich in den Schatten.
»Erst einmal brauche ich ein Bier!«
»Wir müssen einen Bericht an den Kardinal schicken«, hörte Julian Emmitt sagen.
»Schön eines nach dem anderen. Außerdem bin ich mir sicher, dass Miller inzwischen Westminster erreicht hat und wahrscheinlich gerade jetzt dem Kardinal mit dem Fiasko in Saint Albans in den Ohren liegt.«
Die beiden Männer bogen in eine Querstraße ab. Julian lehnte sich an die kühle Wand der Hausdurchfahrt. Sie waren ihm zuvorgekommen. Was hatte Emmitt damit gemeint, dass sie einen Bericht an den Kardinal schicken müssten? Hatte er den jungen Mann nicht in Saint Albans von seiner Unschuld überzeugen können? Immerhin hatte er ihm zur Flucht verholfen. Was machte er jetzt in Terrences Begleitung? Nachdenklich lehnte Julian an der Wand. Er wusste nicht viel über Terrence. Er war älter als er selbst, vielleicht Ende dreißig oder bereits vierzig, und schon länger im Dienst. Er hatte früher einmal solide Arbeit geleistet, aber seine Erfolgsquote hatte in den letzten zwei Jahren stetig nachgelassen. Julian wusste, dass er zu viel trank und dass er immer wieder Wettschulden machte. Bisher hatte er nur ein Mal mit Terrence zusammengearbeitet, und damals hatte Terrence einen vernünftigen Eindruck auf ihn gemacht. Was hatten die beiden bei Simeon gewollt? Es war natürlich bekannt, dass Julian mit Simeon befreundet war, sie hatten sicherlich bei seinem Freund nach ihm gefragt. Miller war also nach Westminster geritten, um Bericht zu erstatten, grübelte Julian weiter. Ja, sie waren ihm auf den Fersen, die beiden. Selbst wenn Emmitt von seiner Unschuld überzeugt war, wusste er nicht, wo Terrence stand. Wenn er Simeon jetzt um Hilfe bat, würde er ihn in Schwierigkeiten bringen. Er blickte wieder um die Ecke zu dem Haus seines Freundes. Aus dem Hof kamen seine beiden kleinen Töchter mit einem großen Einkaufskorb, um für ihre Mutter eine Besorgung für das Abendessen zu machen. Julian seufzte. Er musste Simeon aus der Sache heraushalten. Hier ging es nicht um eine kleine Regelwidrigkeit, hier ging es um Hochverrat, und da konnten schnell Köpfe rollen.
Julian hatte sich mit Rinaldo an dem Stall verabredet, in dem sie die Pferde untergestellt hatten, aber »abends« war ein recht weit gefasster Zeitraum, und so musste er noch eine geschlagene Stunde warten, bis er den großen Spanier die Straße herunterkommen sah. Etwas in seinem Gesicht sagte Julian, dass Rinaldo erfolgreich gewesen war.
»Ich habe ihn gefunden!«, stellte er etwas atemlos fest, als er Julian erreicht hatte.
»Das ist großartig!«, beglückwünschte ihn Julian, »und auch ein wenig peinlich für mich, denn ich habe nicht die geringste Spur auftun können.«
Rinaldo lachte.
»Das macht nichts, ich habe einfach Glück gehabt.«
»Lassen Sie uns etwas essen, und dann überlegen wir, wie wir am besten weiter vorgehen.«
Wenig später saßen sie unter dem schattigen Strohdach einer Schenke.
»Haben Sie auch eine Spur von Viviana gefunden?«
Rinaldo legte seine Schweinshaxe auf den Holzteller vor sich und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.
»Nein, das habe ich nicht. Und Thorn habe ich nur von hinten gesehen, und das ist auch gut so.«
»Gut, dann hat er Sie nicht bemerkt. Erzählen Sie mal, wie Sie ihn gefunden haben und vor allem, wo?«
»Ich habe ihn in einem Bad gesehen. Meine Gelenke schmerzen, wenn ich mich überanstrenge.« Rinaldo wischte sorgfältig jeden einzelnen seiner überlangen Finger ab. »Eigentlich muss ich sagen, habe ich mich permanent überanstrengt, seit ich den ersten Fuß auf diese Insel gesetzt habe.«
»Seien Sie froh, dass Sie nicht im Winter gekommen sind, da haben sogar die Einheimischen Gelenkschmerzen.«
»Widriges Klima!« Rinaldo schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Jedenfalls kam ich auf meiner Suche an diesem öffentlichen Badehaus vorbei. Es sah angenehm und sauber aus, und ein heißes Bad lindert die Schmerzen.«
»Und?«
»Und da sah ich Thorn in einem der großen Bottiche sitzen.«
»Wo waren seine Sachen?«
»Die lagen daneben auf einem Hocker.«
»Konnten Sie die Liste sehen?«
»Nein, aber ich nehme an, dass das Pergament und auch mein Anhänger bei seinen Sachen lagen. Wenn ich jünger gewesen wäre, dann hätte ich mir den Haufen geschnappt und wäre damit durchgebrannt.«
»Gut, dass Sie nicht jünger sind, denn das hätte mir gar nichts genützt.«
»Aber mir.«
Sie sahen sich einen Moment lang an, dann fuhr Rinaldo fort: »Ich habe also gewartet, bis er sich wieder angekleidet hatte, und bin ihm gefolgt, als er das Badehaus verließ.« Rinaldo legte die Serviette sauber gefaltet neben seinen Teller. »Er wohnt in einem Gasthaus hinter der Saint-Pauls-Kathedrale. Dort ist er hingegangen und dann nach etwa einer halben Stunde wieder weggegangen. Ich weiß aber nicht, in welcher Kammer er wohnt.«
»Ein Mann wie Thorn wird keine Kammer zum Hinterhof hinaus haben. Er hat die besten Gemächer, die zur Straße hinausgehen«, stellte Julian mit Überzeugung fest und fragte weiter: »Und keine Spur von Viviana?«
Rinaldo schüttelte den Kopf.
»Vielleicht hat sie sich schon abgesetzt?«
Fast hoffte Julian, dass das der Fall war. Der Gedanke, dass sie gemeinsame Sache mit seinem Erzfeind machte, war unerträglich. Immerhin, dank Rinaldo wusste er nun, wo Thorn zu finden war. Das Einzige, was er jetzt tun konnte, war, Thorn zu folgen und herauszufinden, was er vorhatte. Wenn er mit seiner Vermutung richtiglag, dann würde Thorn versuchen, die Liste entweder zu Geld zu machen oder aber bei den Verschwörern mit einzusteigen oder beides. Das heißt, wenn er ihm folgte, würde Thorn ihn früher oder später zu den Verrätern führen. Irgendwann würde ihm auch eine Idee kommen, wie er sich aus dem Schlamassel wieder herauswinden könnte, hoffte Julian.
»Sie haben einen neuen Verband.« Rinaldo deutete auf Julians Arm. Julian nickte.
»Ja, ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, die Wunde von jemandem untersuchen zu lassen, der etwas davon versteht. Sie hat eine Salbe benutzt und den Arm neu verbunden. Trotz aller Anstrengungen heilt der Messerstich gut.«
»Die Person ist eine Frau?«
»Ja, die Witwe eines Böttchers, aber sie hilft nur Leuten, die sie kennt. Sie will nicht in Schwierigkeiten geraten.«
Das Schankmädchen räumte den Tisch ab.
»Wir sollten zu der Herberge gehen und auf Thorn warten. Vielleicht ist er inzwischen auch schon zurückgekommen«, schlug Rinaldo vor.
»Und dann?«
»Dann wird er mir wiedergeben, was er mir genommen hat.«
Julian runzelte die Stirn.
»Wenn wir ihn weiterhin nur beobachten, dann könnte ich vielleicht herausfinden, mit wem er sich wegen der Liste in Verbindung setzt.«
Jetzt runzelte Rinaldo die Stirn.
»Aber ich muss unbedingt meinen Anhänger wiederbekommen. Wenn ich jetzt warte, verpasse ich womöglich meine Chance.«
»Ja«, stimmte Julian dem Spanier zu, »das kann ich verstehen. Aber die Liste allein nützt mir nicht viel.«
»Immerhin besser als ohne Liste.«
»Aber die Liste beweist nur, was Thorn über mich behauptet hat, nämlich dass ich im Besitz des Pergaments bin. Melchor Thorn ist der Verräter, und ich muss ihn überführen. Sogar wenn ich die Liste beim Kardinal abgebe, habe ich keine Beweise gegen Thorn.«
Außerdem brannte Julian darauf, zu erfahren, welche Rolle Viviana in dieser Angelegenheit spielte. Hatte sie ihn tatsächlich ans Messer geliefert, um ihren Auftrag doch noch ausführen zu können, auch wenn die Liste jetzt nicht an die ursprünglichen Verräter weitergegeben werden würde? Er wollte es einfach nicht glauben, obwohl alles dafür sprach. Er war ein Narr.
»Na gut« – Julian stand auf –, »es dämmert bereits. Wir sollten jetzt zurückgehen, sonst bekommen wir womöglich gar nichts.«