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Julian schrieb zwei Nachrichten. Er musste sich kurzfassen, weil er nur wenig Pergament dabeihatte. Die Nachricht an den Kardinal beinhaltete eine Beschreibung Rinaldos und Julians Plan, weiter in Richtung Saint Albans zu reisen, in der Hoffnung, den Spanier aufzuspüren. Die zweite Nachricht ging an Simeon mit der Bitte, Augen und Ohren offenzuhalten, ob irgendwo eine Frau vermisst wurde, auf die die Beschreibung von Viviana passte. Mehr konnte Julian vorerst nicht tun.

Am nächsten Morgen brachen sie auf. Von dem erbeuteten Geld hatten sie für Viviana von einem der Bauern ein großes Pony gekauft. Es war etwas kühler geworden, und sie kamen gut voran. Am späten Nachmittag erreichten sie Yeovil, einen geschäftigen Marktflecken, an dem zwei Flüsse aufeinandertrafen und den Transport von Gütern erleichterten. Leider blieben ihre Nachforschungen ohne Ergebnis. Niemand hatte Rinaldo gesehen.

»Es kann auch gut sein, dass er hinter uns ist, anstatt vor uns. Immerhin hat er sein Maultier verloren und ist zu Fuß unterwegs.«

Sie schlenderten über den Marktplatz, auf dem die Händler damit begannen, ihre Buden für die Nacht abzubauen.

»Oder er hat eine andere Strecke genommen.«

Dass Rinaldo vielleicht gar nicht mehr am Leben war, erwähnten sie nicht, obwohl sie beide wussten, dass auch das eine Möglichkeit war.

»Sir, wollen Sie Ihrer schönen Frau nicht ein neues Kleid kaufen?« Einer der Händler, der Stoffe und Kurzwaren feilbot, trat in ihren Weg und hob ein fliederfarbenes Gewand hoch.

»Sie haben so eine bezaubernde Gattin, Sir, sie verdient ein schönes Kleid. Ich werde morgen weiterziehen und würde gerne mein Gepäck erleichtern.« Der Händler hielt Julian das leichte Wollkleid hin, damit er es befühlen konnte.

»Es ist eine ausgezeichnete Qualität. Das Tuch kommt aus Flandern, und ich habe es selbst eingefärbt. Meine Tochter hat das Gewand gemacht und« – er hielt Viviana das Kleid zur Begutachtung hin – »Sie werden zugeben müssen, Madame, dass meine Anna ihr Handwerk versteht.«

Julian blickte auf Viviana in ihrem inzwischen arg mitgenommenen Leinenkleid. Die Blutflecke waren immer noch in einem hässlichen Dunkelbraun zu sehen. Selbstverständlich brauchte sie ein neues Kleid. Erst jetzt fiel ihm ein, dass natürlich alle sie für ein Ehepaar halten würden. Es stünde ihm als Vivianas Gatten tatsächlich schlecht zu Gesicht, wenn er seine Frau in Lumpen herumlaufen lassen würde, während er selbst ordentliche Kleidung trug. Diese überaus sinnvolle Erklärung, nicht auffallen zu wollen, machte es Julian leichter, seinem Impuls, Viviana etwas Schönes zu kaufen, nachzugeben.

»Wie viel?«, fragte Julian den Händler, nahm das Kleid und drückte es Viviana in die Hand.

Als sie von ihrem Rundgang wieder zu ihrer Unterkunft zurückkamen, waren noch ein Kopftuch und ein Paar Schuhe dazugekommen.

»Die Leute sollen ja nicht denken, dass ich geizig bin«, sagte Julian, als er Viviana die Tür der Schankstube aufhielt. Sie lächelte.

»Ich gehe mich umziehen. Die Leute sollen auch nicht denken, dass du eine hässliche Frau hast.«

»Das denkt sowieso keiner.« Er sah Viviana nach, die eilig die Treppe hinauf zu ihrer Kammer im ersten Stock lief. Sie sah auch in ihrem abgenutzten, fleckigen Kleid wie eine Prinzessin aus. Er fragte sich, wie es wäre, wenn sie tatsächlich seine Frau wäre. Doch eine Frau wie Viviana war mit aller Wahrscheinlichkeit schon vergeben, und irgendwo wartete ein Mann auf sie. Julian setzte sich an einen der Tische und bestellte Bier. Er musste sich zusammenreißen und jeden Gedanken in diese Richtung aus seinem Kopf verbannen. Als Viviana jedoch zehn Minuten später in ihrer neuen Ausstattung die Treppe herunter und auf ihn zugeschwebt kam, klopfte Julians Herz schneller, und er wünschte nichts mehr, als dass sie die Seine wäre.

»Wie sehe ich aus?« Sie drehte sich einmal um sich selbst und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Du siehst sehr schön aus.«

Diesem Urteil schlossen sich die anwesenden Männer der Schankstube an, die die exotische Schönheit mit den sinnlichen Lippen und der katzenhaften Grazie die Treppe hatten herunterkommen gesehen.

Viviana setzte sich zu Julian an den Tisch.

»Was gibt es zu essen?«

»Ich weiß nicht.« Julian winkte das Schankmädchen zu sich. Nachdem Viviana die Nase über Schweinebacke, gefüllten Saumagen und Kohlgemüse gerümpft hatte, einigte man sich auf gebratene Ente, von der Julian den Verdacht hatte, dass sie gewildert worden war. Sie schmeckte aber ausgezeichnet, und auch das Bier, das hier serviert wurde, war erheblich besser als in Exeter. Sie spielten Backgammon, bis die Kerze auf ihrem Tisch heruntergebrannt war. In ihrem flackernden Schein stiegen sie die Treppe hinauf in ihre Kammer.

Als Julian die Tür hinter sich zuzog und sich wieder umdrehte, stand Viviana dicht vor ihm. Er bewegte sich nicht und blickte auf sie hinunter. In der Tiefe ihrer dunklen Augen spiegelte sich das Kerzenlicht. Julian streckte die Hand aus und strich über Vivianas Wange, seine Fingerspitzen berührten den seidigen, schwarzen Zopf, der ihr über den Rücken fiel. Er nahm ihn, streifte das Band, mit dem er zusammengehalten wurde, ab und löste das glänzende Haar. Es glitt geschmeidig und glatt zwischen seinen Fingern hindurch und fiel auf ihre Schultern.

»Du bist wunderschön.« Julians Stimme war rau.

Das mühsam unterdrückte Begehren und die unausgesprochenen Worte, die zwischen ihnen in der warmen Nachtluft standen, schienen so schwer zu sein, dass er sie hätte greifen können.

»Julian, wartet irgendwo eine Familie auf dich?«

»Nein.«

Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Aber irgendwo wartet ein Mann auf dich, dessen Frau du bist.«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Es wird sicherlich so sein.«

»Ich weiß es nicht.«

Julian schluckte hart. Er wollte sie besitzen, nicht nur für eine Nacht, für immer.

»Bald wirst du dich erinnern.«

»Und wenn nicht? Wenn ich mich nie mehr erinnere?«

Gequält schloss er die Augen.

»Warum willst du mich nicht?«

»Weil du sicher einem anderen gehörst.«

»Aber das wissen wir doch nicht.«

Julian schob sich an ihr vorbei und ging in der Kammer auf und ab. Viviana setzte sich auf das Bett und beobachtete ihn. Schließlich blieb er stehen.

»Und wenn du dich doch erinnerst? Irgendwann. Was dann?«

»Das werden wir dann sehen.«

Er setzte sich zu ihr auf das Bett und nahm ihre Hand.

»Vor sechs Jahren ist meine Frau spurlos verschwunden. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Vielleicht hat sie wie du das Gedächtnis verloren? Vielleicht lebt sie irgendwo als die Frau eines anderen, weil sie mich einfach vergessen hat?«

Viviana drückte seine Hand.

»Du bist wie ein neugeborenes Kind, Viviana, dein Gewissen ist rein. Du fühlst dich frei, weil du dich nicht an die Versprechen erinnern kannst, die du einmal gegeben hast. Aber das ist eine Illusion, denn du hast ein Leben gehabt, ehe du an den Strand gespült wurdest. Irgendwo sucht dich jemand verzweifelt, weil er das Licht seines Lebens verloren hat.«

Julian blickte in ihre dunklen Augen.

»Du bist ganz sicher eines Mannes einziges Glück, Viviana. Wie könnte ich ihm das wegnehmen?«

Sie ließ den Kopf hängen, und Julian streichelte ihre Hand.

»Glaub mir, wenn du frei wärest, ich würde dich niemals zurückweisen. Ich würde auf Knien um deine Gunst betteln. Aber ehe wir nicht wissen, wer du bist, haben wir nur geborgte Zeit. Dich zu besitzen, um dich dann wieder zu verlieren, das könnte ich nicht ertragen.«

Er stand auf und bereitete sich ein Lager auf dem Fußboden. Die Flamme des Kerzenstummels flackerte und verlosch. Viviana starrte in die Dunkelheit. Vielleicht hatte Julian recht? Vielleicht liebte sie jemand anderen? Wieso konnte sie sich dann nicht daran erinnern? Wenn sie ihr Herz schon vergeben hatte, wie konnte sie es jetzt ein zweites Mal verlieren?

Sie brachen früh am nächsten Morgen auf. Es war unangenehm heiß und stickig, ein Gewitter lag in der Luft. Die Landschaft war von einer wilden, schönen Einsamkeit, doch die Stimmung der beiden Reisenden war niedergedrückt. Keiner von ihnen hatte seit ihrem Aufbruch ein Wort gesprochen. Viviana dachte an Rinaldo. War er noch am Leben? In was war er verwickelt? Vielleicht war die Suche nach ihm unsinnig, und möglicherweise wollte er gar nicht gefunden werden? Wäre es nicht sinnvoller, wenn sie zurück an die Küste reisten und versuchten herauszufinden, wer sie war?

»Das sieht gar nicht gut aus, was da vor uns liegt.«

Julian deutete auf die schwarzen Wolken, die sich im Osten auftürmten.

»Wer weiß, wann das Gewitter losbricht.« Viviana blickte sich um. »Und kein Unterstand oder Schutz weit und breit.«

Sie befanden sich auf einer langgestreckten, fast baumlosen Bergkuppe.

Julian deutete nach Norden.

»Dort geht es bergab. Wir sollten in diese Richtung reiten, denn hier auf der Hochebene ist die Gefahr zu groß, von einem Blitz getroffen zu werden.«

Viviana nickte. Sie waren die höchsten Punkte in dieser Landschaft, und während eines Gewitters war das keine gute Sache. Sie lenkten die Pferde von dem Trampelpfad, dem sie gefolgt waren, und ritten querfeldein in Richtung Norden. Sorgenvoll beobachteten sie, wie das Gewitter schnell näher kam, und trieben ihre Tiere zum Galopp an. Es ging bergab zu einem breiten Bach. Einzelne schwere Tropfen fielen, die Sonne war verschwunden, und es war erheblich kälter geworden. Dann zuckte ein gleißender, erster Blitz über den Himmel. Der Donner war ohrenbetäubend. Es war, als wären plötzlich die Pforten der Hölle aufgestoßen worden, und ein unglaubliches Inferno brach über sie herein. Der Regen prasselte so stark auf sie herab, dass sie kaum einen Fuß weit sehen konnten. Mit einem fürchterlichen Knall schlug ein Blitz direkt neben Viviana in den Boden. Ihr Pony ging durch und preschte durch die Wasserflut, die vom Himmel fiel. Viviana klammerte sich an den Sattel und hoffte, dass das Tier nicht stürzte. Es war unmöglich, das Pony zu bändigen. Sie war klatschnass und konnte kaum etwas sehen. Um sie herum schlugen Blitze in den Boden, und der Lärm war kaum auszuhalten. Das Pony galoppierte neben dem Bach her, der immer mehr zu einem reißenden Fluss anschwoll. Wie ein Peitschenhieb traf plötzlich der Ast eines Baumes Viviana und schleuderte sie aus dem Sattel. Das tosende Wasser schlug über ihr zusammen. Sie kämpfte sich an die Oberfläche, nur um augenblicklich wieder nach unten gezogen zu werden. Sie brauchte Luft! Aber nach jedem verzweifelten Atemholen wurde sie wieder unter Wasser gezogen. Viviana kämpfte mit aller Kraft, doch ihre Arme versagten ihr schließlich den Dienst. Da plötzlich war es wieder! Das Geheimnis. Es war ganz nah um sie herum in dem tosenden, kalten Wasser, das sie nicht atmen ließ. Vivianas Sinne schwanden. Sie spürte, wie das Geheimnis von ihr Besitz ergriff, sie erinnerte sich … Plötzlich, fast brutal, wurde sie wieder an die Oberfläche geschleudert. Mit einem verzweifelten, gierigen Atemzug kehrte das Leben in sie zurück. Viviana begann sofort wieder zu kämpfen. Es ging ums Überleben. Und sie wollte leben, sie musste unbedingt leben. Sie erwischte einen kräftigen Ast, der von einem Baum abgebrochen war, und trieb auf dem Fluss, bis die Gewalt der Strömung schließlich nachließ. Der reißende Fluss wurde allmählich wieder zu einem Bach, und es gelang ihr, das Ufer zu erreichen. Erschöpft lag sie zitternd auf dem flachen Kieselstrand. Ebenso plötzlich, wie das Gewitter begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Der Regen wurde schwächer und hörte schließlich auf. Als hätte der schreckliche Tumult überhaupt nicht stattgefunden, schien die Sonne, und die grauen Wolken zogen weiter gen Westen. Die Luft war klar und frisch. Viviana blickte in den blauen Himmel. Fast hätte sie sich erinnert. Sie hatte ihr Gedächtnis im Meer verloren, und es schien in den Tiefen des Wassers auf sie zu warten. Sie setzte sich mühsam auf. Um sie herum lagen abgerissene Äste und anderes Treibgut. Wie betäubt saß sie am Ufer, und das Wasser gluckerte um ihre Füße. Nach einer Weile raffte sie sich auf, kletterte die sanfte Neigung des Hügels hinauf und blickte über eine unbekannte Gegend. Von Julian keine Spur, und weit und breit nur Einsamkeit, über die sich ein spektakulärer Regenbogen erhob. Viviana fröstelte, von ihren Zöpfen tropfte Wasser. Sie musste ihre Sachen trocknen und sich ein bisschen ausruhen, ehe sie etwas unternehmen konnte, von dem sie noch nicht wusste, was das sein könnte. Sie zog sich aus, legte ihre Kleider und Schuhe in der Sonne zum Trocknen aus. Immer wieder suchte sie die einsame Umgebung ab, aber sie war und blieb allein. Jetzt hatte sie nicht nur Rinaldo, sondern auch noch Julian verloren.