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Etwa eine Stunde später ging Viviana mit ihrem Begleiter die steile Straße zur Abtei hinauf. Sie hatten den Jungen mit dem Wagen in der Vorstadt zurückgelassen. Mister Bartholomeus hatte beschlossen, außerhalb der Stadtgrenze anzuhalten, da er sonst für seine Waren hätte Steuern zahlen müssen. Jetzt waren sie auf der Suche nach einem Gasthof, in dem man, wie er es ausdrückte, so richtig ordentlich für sein leibliches Wohl sorgen könnte. Sie hatten sich gerade in den Gastraum der Schenke »Goldener Hund« gesetzt, als sie plötzlich lautes Gepolter und das Bersten von Holz aus dem Obergeschoss hörten. Der Wirt und einige Gäste stürmten die Treppe hinauf. Mister Bartholomeus stand auf.
»Kommen Sie, Miss Viviana. Hier gibt es eine Schlägerei. Das ist nicht der geeignete Ort für eine Frau, und wahrscheinlich brennt deshalb auch gerade der Braten in der Küche an.«
Mister Bartholomeus hatte in dem Gasthaus, in dem sie schließlich das versprochene deftige Abendmahl zu sich genommen hatten, einen Bekannten getroffen. Die Unterhaltung drehte sich von da an um die gänzlich unangemessene Besteuerung von Handelsgütern und die viel zu hohen Preise von Importwaren und wurde mit zunehmendem Alkoholgenuss immer leidenschaftlicher und auch unlogischer. Viviana hätte sich gerne noch nach Julian und Rinaldo erkundigt, aber es wurde bereits dunkel, und sie wollte abends nicht allein unterwegs sein. Einmal davon abgesehen, dass sie es für ihre Pflicht hielt, Mister Bartholomeus sicher wieder zu seinem Wagen zurückzubegleiten. Die Glocke der Abtei hatte die Nonnen bereits zur Komplet gerufen, als sie endlich die Schenke verließen. Mister Bartholomeus hing schwer an Vivianas Arm und schmetterte mit Inbrunst ein Volkslied nach dem anderen, was ihnen in den schmalen Straßen mit den dicht gedrängten Häusern allerlei Verwünschungen einbrachte. Ein paar Mal bemerkte Viviana aus dem Augenwinkel unheimliche Gestalten, die sich in den Hofdurchfahrten herumdrückten. Für diese Galgenvögel wäre Mister Bartholomeus ein leichtes Opfer gewesen. Doch obwohl sie ihn nicht allein gegen einen Dieb hätte verteidigen können, konnte sie um Hilfe schreien. Das machte einen Überfall viel unwahrscheinlicher, da einer der Nachtwächter in der Nähe sein könnte. So erreichten sie das Stadttor unbeschadet. Inzwischen war die Sangeslust ihres Begleiters erschöpft, und Viviana hatte Schwierigkeiten, den zunehmend schlaffer werdenden Körper vorwärtszuschieben.
»Na, Miss, Ihr Vater hat wohl einen über den Durst getrunken.«
Der Wachposten öffnete ihr die Holztür für Fußgänger, die sich in dem großen Tor befand, das jetzt für die Nacht geschlossen war.
»Immerhin singt er nicht mehr.«
Der Wachposten lachte und verriegelte die Tür hinter ihr. Gott sei Dank war es nicht weit bis zu der Stelle, an der sie den Wagen und den Jungen zurückgelassen hatten. Auf ein lautes Klopfen hin tauchte das verschlafene Gesicht des Helfers auf. Als er den Zustand seines Herrn bemerkte, verdrehte er die Augen und kletterte vom Wagen herunter.
»Wir werden ihn nicht in den Wagen kriegen.«
Viviana ließ Mister Bartholomeus los, der mit einem Seufzer zu Boden glitt. Die Nacht war warm, und um sie herum lagen viele Menschen neben oder unter ihren Wagen, in ihre Umhänge eingewickelt. Der Junge nahm eine Decke und warf sie über die leblose Gestalt seines Meisters, der sofort eingeschlafen war. Dann blickte er Viviana zögernd an und fragte schließlich: »Wollen Sie im Wagen schlafen?«
Obwohl sie sah, dass ihm eine andere Antwort lieber gewesen wäre, nickte sie.
»Ja, das wäre nett. Danke schön.«
Wenig später streckte sie sich inmitten des umfangreichen Warensortiments aus und schloss erschöpft die Augen.
Am nächsten Morgen wurde Viviana von dem Blöken eines Esels geweckt, der sich beharrlich und lautstark weigerte, mit dem ihm aufgebürdeten Gepäck auch nur einen Schritt vorwärtszugehen. Sie öffnete die Tür und streckte sich. Mister Bartholomeus lag noch genauso da, wie er in der Nacht zu Boden geglitten war, und schlief noch immer tief und fest. Der Junge war nirgends zu sehen. Viviana nahm den Wasserkrug und stellte sich in die Schlange am Brunnen. Viele der Pilger, die in der überfüllten Stadt kein Bett mehr bekommen hatten oder sich von vornherein keine Schlafstatt leisten konnten, hatten sich vor den Stadttoren niedergelassen. Die Vorstadt hatte sich darauf eingerichtet, und man konnte für ein kleines Entgelt sein Lager aufschlagen und Wasser aus dem Brunnen holen. Nachdem sie sich Gesicht und Hände gewaschen und ihre Zöpfe sorgfältig unter ihr Kopftuch gesteckt hatte, beschloss sie, Frühstück zuzubereiten. Das Inventar von Mister Bartholomeus bot zwar eine erstaunliche Auswahl an nützlichen und weniger nützlichen Dingen, jedoch waren Lebensmittel nicht darunter. Vielleicht ging der Händler zum Essen immer in eine Gaststube? Wieder wurde ihr schmerzlich bewusst, wie hilflos und abhängig sie ohne Geld war. Sie konnte sich nicht einmal ein Frühstück kaufen. Der Junge kam zurück, brachte ein Brot und einen Streifen Speck mit.
»Sollen wir ihn wecken?«, fragte Viviana und wies auf Mister Bartholomeus.
»Bloß nicht.«
Viviana beobachtete ihn, wie er ein kleines Feuer entfachte, dann eine schwere Eisenpfanne von einem der Haken nahm und den Speckstreifen in grobe Würfel schnitt.
»Bist du mit Mister Bartholomeus verwandt?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Wie lange bist du denn schon mit ihm unterwegs?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Du weißt also nicht, wie lange du schon mit ihm durch die Lande reist?«, insistierte Viviana.
Der Junge errötete und zuckte wieder mit den Schultern.
»Vielleicht vier Sommer, oder fünf?«
»Macht dir das Reisen Spaß?«
»Nicht wirklich.«
Viviana wunderte sich.
»Ist er nicht gut zu dir?«
»Doch.«
Sie wusste nicht, ob er nur ungemein schüchtern war oder ob er sich schlichtweg nicht mit ihr unterhalten wollte. Also schwieg sie. Er hatte den Speck klein geschnitten und blickte auf.
»Doch, er ist ein guter Herr, meistens.« Er blickte sich um, um sicherzustellen, dass Mister Bartholomeus noch immer schlief. »Aber ich würde lieber fest an einem Ort wohnen.«
»Kannst du keine andere Arbeit finden?«
»Ich soll irgendwann einmal den Wagen erben.«
Das war ein sehr verlockendes Angebot, wenn man ein mittelloser Jüngling war. Die meisten Männer schufteten ein Leben lang hart, ohne es jemals zu einem solchen Besitz zu bringen.
Sie stippten Brotstücke in das ausgelassene Fett und tranken Wasser zum Frühstück, als sich Mister Bartholomeus regte. Mit einem gepressten Stöhnen setzte er sich auf. Der Junge reichte ihm einen Becher mit Wasser.
»Gab es kein Bier?«, brummte Bartholomeus. »Wer weiß, ob das Wasser hier genießbar ist.«
»Es ist frisch und klar. Der Brunnen ist neu«, schaltete sich Viviana ein. Einen Moment starrte Mister Bartholomeus sie verständnislos an, dann fiel ihm wieder ein, wer sie war. Er nickte und trank den Becher in einem Zug leer.
»Bursche« – er streckte fordernd die Hand aus –, »das Syrische Pulver.« Der Junge verschwand im Wagen.
»Mein Schädel brummt. Da ist Syrisches Pulver genau das Richtige«, sagte er, an Viviana gewandt, und erhob sich mühsam.
»Woraus ist das Pulver denn gemacht?«
»Keine Ahnung, es ist ein Geheimrezept. Aber es wirkt Wunder, das kann ich Ihnen sagen.«
Viviana bezweifelte, dass sie ihre Kopfschmerzen, sollte sie denn welche bekommen, einem dubiosen Pulver anvertrauen würde, von dem sie nicht einmal wusste, woraus es bestand. Aber Mister Bartholomeus rührte zuversichtlich zwei gehäufte Messerspitzen der unappetitlich grün aussehenden Substanz in einen weiteren Becher mit Wasser und trank auch diesen in einem Zug leer. Danach ging er hinter den Wagen, um sich zu erleichtern, und setzte sich schließlich zu ihr an das kleine Kochfeuer. Viviana reichte ihm das Brot, und er begann hungrig, große Brocken abzureißen und in die Pfanne zu tunken.
»Vielen Dank, dass Sie mich so freundlich zurückgeleitet haben, Mistress Viviana«, sagte er mit vollem Mund und nickte ihr zu.
»Das habe ich doch gerne getan.«
»Das Essen ist ordentlich da, aber ich glaube, sie panschen das Bier, sonst hätte ich nicht so einen Schädel.«
Sie war sich nicht sicher, wie trinkfest Mister Bartholomeus üblicherweise war, aber Viviana hegte den Verdacht, dass auch die Menge des Bieres mit den Kopfschmerzen in Zusammenhang gebracht werden konnte.
»Ich würde mich gerne gleich auf die Suche nach meinem Mann machen.«
»Selbstverständlich. Ich kann Sie leider nicht begleiten, ich muss mich um mein Geschäft kümmern. Wenn ich Sie wäre, würde ich zuerst im Kloster nachfragen, da kommen alle Pilger vorbei. Sie wissen ja, wo wir uns aufhalten, falls Sie ihn nicht finden sollten.«
»Ja, vielen Dank. Ich werde auf jeden Fall Bescheid geben.«
Damit stand sie auf, schüttelte die Krümel aus ihrem Kleid und machte sich auf den Weg. Es war gar nicht gewiss, dass Julian überhaupt nach Shaftesbury gekommen war, und wenn, dann war er ja nicht auf einer Wallfahrt. Viviana begann, systematisch in den Herbergen nachzufragen, aber die Antworten entmutigten sie zunehmend. Entweder wurde ihr gesagt, dass man sich nicht jeden Gast merken könnte, oder sie wurde wie ein kleines Mädchen einfach beiseitegeschoben, man habe keine Zeit. Wäre sie ein Mann, würde man nicht so respektlos mit ihr umgehen, dachte sich Viviana verärgert. Es war bereits Mittag, als sie endlich die steile Straße zur Abtei hinaufging. Mit jedem Schritt schickte sie ein kleines Gebet gen Himmel, dass sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit Julian hier finden würde. Viviana erreichte das Pförtnerhäuschen. Sie musste eine Weile warten, bis eine der beiden diensthabenden Schwestern sich ihr zuwandte.
»Gott zum Gruß!«, sagte sie in einem Tonfall, der deutlich machte, dass diese Formel dutzende Male am Tag über ihre Lippen kam. Noch ehe Viviana antworten konnte, sagte die Schwester die Zeiten der Messen auf, die für die Pilger zugänglich waren, ohne auch nur einmal Luft zu holen.
»Verzeihung!«, unterbrach Viviana den geradezu übermenschlich langen Redestrom. »Ich bin auf der Suche nach ein paar Freunden von mir.«
Auch dieses Anliegen war nichts Neues für die Schwester, die mit resignierter Geduld die Augenbrauen hob.
»Der eine meiner Freunde ist sehr groß und dunkel. Er heißt Rinaldo della Rosa del Ranguano. Ist er vielleicht hier gewesen?«
Die Schwester schüttelte den Kopf.
»Und der andere heißt Julian White, er ist ein Beamter des Königs.«
Wieder schüttelte die Schwester den Kopf, und Vivianas Herz sank, als plötzlich eine etwas schleppende Stimme hinter ihr fragte: »Sie suchen Julian White?«
Sie drehte sich um und stand einem großen Mann in einem auffälligen Umhang gegenüber, der sie mit geradezu beleidigend gelangweiltem Blick betrachtete.
»Ja, Julian White. Kennen Sie ihn? Er arbeitet für die Schatzkammer des Königs.«
Melchor Thorn betrachtete die zierliche Frau vor ihm. Das musste die Frau sein, die White suchte. Seine blassen Lippen verzogen sich säuerlich. Plante White ein Schäferstündchen mit dieser dunklen Schönheit? Er selbst schätzte ebenfalls schöne Frauen, aber leider schätzten die Damen ihn nicht. Groß, dünn und mit schlechter Haltung, war Thorn nicht gerade gut aussehend. Sein Gesicht war ebenfalls länglich und hatte eine etwas gräuliche Farbe. Helle Augen von undefinierbarer Farbe und mausfarbene Haare taten das Übrige, nämlich nichts, um ihn begehrenswert erscheinen zu lassen. Seine bescheidenen Mittel konnten sein herrisches Auftreten nicht rechtfertigen, und so hielt Melchor Thorn nicht die Frauen im Arm, die er wollte, sondern nur die, die er sich leisten konnte.
»Sie kennen ihn?«
Die Hoffnung in ihrer Stimme verärgerte Melchor noch mehr.
»Allerdings. Und er hat gesagt, dass er für die Schatzkammer arbeitet, wie?« Er sah mit Genugtuung, wie ein Schatten über das hübsche Gesicht huschte.
»Und können Sie mir auch sagen, wo er ist?«
»Möglicherweise.«
»Möglicherweise?«
Er blickte sie provozierend an, und sie wurde ungehalten.
»Also, wollen Sie mir nun sagen, wo er ist, oder nicht? Wenn nicht, dann brauche ich hier auch nicht herumzustehen und mir Ihre dunklen Andeutungen anzuhören.«
Melchor zog überrascht die Augenbrauen hoch. Ihm gefielen temperamentvolle Frauen, er stellte sich dann vor, wie er sie zähmen würde. Aber richtig selbstbewusste Weiber konnte er nicht leiden, Schönheit hin oder her.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, log er, denn er hatte sich den gesamten Vormittag darüber geärgert, dass Julian nach Salisbury geritten war und nicht bei der Suche nach Rinaldo hatte helfen wollen. »Irgendwo in der Stadt, nehme ich an, oder er ist schon abgereist. Was weiß ich.«
Er ließ sie stehen und ging zu den Stallungen. Emmitt hatte herausgefunden, dass der Südländer heute sehr früh Shaftesbury durch das Osttor verlassen hatte. Jetzt hatte er einen guten halben Tag Vorsprung, und sie mussten sich beeilen.
Viviana starrte ihm wütend hinterher. Ihr Stolz verbot ihr, ihm nachzulaufen. Am liebsten hätte sie ihm einen Stein ins Kreuz geworfen. Unschlüssig blickte sie sich um. Julian sollte irgendwo in der Stadt sein oder eben auch nicht. Und was hatte der Mann mit seiner Frage gemeint? Hatte Julian sie belogen, und er stand gar nicht im Dienste des Königs? Sie musste nachdenken und sich einen Plan machen, was sie am besten als Nächstes tun sollte. Menschen strömten zur Mittagsmesse in die große Kathedrale, und Viviana schloss sich dem Zug an. Sie fand auf einer der hinteren Bänke Platz, eingezwängt zwischen einem Ehepaar unbestimmten Alters, das offenbar nicht das Bedürfnis verspürte, nebeneinanderzusitzen. Der Gottesdienst begann, aber Viviana hatte keine Augen für die beeindruckende Kirche oder die prachtvolle Zeremonie. Sie wünschte, sie hätte den unangenehmen Kerl in dem hässlichen Umhang nicht einfach so gehen lassen. Er war ihre einzige Spur gewesen. Warum hatte sie sich von ihrem Stolz zurückhalten lassen, ihn noch einmal zu fragen? Viviana seufzte hörbar, und die Frau neben ihr blickte sie tadelnd an. Kein Wunder, dass ihr Mann nicht neben ihr sitzen wollte! Viviana starrte vor sich hin. Wie sollte sie jetzt am besten vorgehen? Vielleicht hatte sie Glück und würde noch jemand anderen treffen, der ihn kannte. Vielleicht hatte er öfter in Shaftesbury zu tun? Wie wenig sie über ihn wusste. Rinaldos Warnung klang Viviana in den Ohren, Julian nicht zu trauen. Bei dem Gedanken an Rinaldo durchflutete sie schlechtes Gewissen. Hoffentlich war er noch am Leben! Sie war so mit ihrer Suche nach Julian beschäftigt, dass sie nach Rinaldo eigentlich immer nur in einem Nachsatz fragte. Welch eine schlechte Freundin war sie ihm. Viviana atmete tief durch, diesmal geräuschlos. Sie würde weiter nach Julian und Rinaldo suchen, was blieb ihr auch anderes übrig? Immerhin gab es hier jemanden, der mit Julian bekannt war. Möglicherweise war er nicht der Einzige, und vielleicht würde sich dann diese rätselhafte Andeutung des Mannes aufklären. Sie musste der Abtei sowieso ihren Leichenfund melden, da konnte sie dann auch gleich nach Julian fragen.
Als sie eine Dreiviertelstunde später erneut an der Klosterpforte stand, antwortete ihr dieselbe Nonne wie zuvor. Sie schien Viviana nicht wiederzuerkennen und holte gerade tief Luft, um die Zeiten der Messe für Pilger aufzusagen, als Viviana sie unterbrach.
»Ich möchte gerne etwas melden, es handelt sich um ein Verbrechen.«
Die Nonne seufzte.
»Sollten Sie das nicht eher dem Sheriff melden?«
Die Gerichtsbarkeit in Städten wie Shaftesbury war kompliziert, da die Zuständigkeiten zwischen der kirchlichen Autorität und der Stadt oder einem Lehnsherrn oder dem König aufgeteilt waren. Jeder war für seinen Besitz zuständig, aber natürlich gab es immer Überschneidungen.
»Ich glaube, es ist eher Sache der Abtei. Ich habe eine Leiche gefunden, und sie trägt eine Benediktinerinnen-Tracht.«
Die Nonne, die bisher keinerlei Interesse an ihr gezeigt hatte, riss erschrocken die Augen auf und bekreuzigte sich.
Wenig später saß Viviana einem Mann mit schütterem Haar und sorgfältig gelocktem Bart gegenüber. Seine reich verzierte Jacke und die aufgeplusterten Ärmel passten nicht recht zu der strengen Einrichtung des Besucherzimmers. Er hatte sich nicht mit seinem Namen, sondern mit seiner Funktion vorgestellt, nämlich als der Stellvertreter des Propstes. Der Propst nahm viele der weltlichen Verwaltungsaufgaben des Klosters wahr und war ein wichtiger Mann. Sein Stellvertreter war, seinem Gebaren nach zu urteilen, mindestens ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger.
»Nun? Was haben Sie zu melden, Miss?«
Gottlob konnte Viviana mit einer Leiche aufwarten, denn nichts Geringeres hätte die Störung einer so wichtigen Person rechtfertigen können.
»Vor drei Tagen habe ich etwa einen Tagesritt nördlich von hier im Moor eine tote Frau gefunden, sie trägt eine Tracht.« Viviana kam direkt zur Sache.
Die Mundwinkel des Stellvertreters zuckten kurz, doch ansonsten regte sich nichts in seinem Gesicht.
»Wo?«
»In der Nähe von Amesbury.«
»Wir vermissen keine unserer Schwestern, sie muss wohl aus Amesbury kommen.«
»Das Gleiche wurde mir dort gesagt.«
Wieder zuckten die Mundwinkel kurz.
»Nun denn. Hat man die Tote geborgen?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie blickten einander einen Moment lang an. Viviana konnte seinen Blick nicht recht deuten, es schien, als versuchte er, sie einzuschätzen. Er strich sich mit seinen manikürten Fingern über den Bart. Der Ausdruck in seinen Augen beunruhigte Viviana. Eine Schweißperle bildete sich an seinem dünnen Haaransatz und rollte langsam über die Schläfe an der Wange entlang und verschwand in dem Bart. Der Stellvertreter löste die Verschnürung seiner Überjacke, um sich ein wenig abzukühlen. Warum war er plötzlich so nervös geworden, fragte sich Viviana, als ihr Blick auf die ärmellose Weste fiel, die unter der Überjacke zum Vorschein gekommen war. Die Weste war mit Knöpfen verziert, mit etwas zu protzigen, silbernen Knöpfen, in deren Mitte ein roter Punkt gemalt war. Es waren aufwändig gearbeitete, teure Stücke, nur der unterste Knopf war etwas kleiner und hatte keinen roten Punkt. Ein kalter Schauer überlief Viviana. Der Knopf, den sie bei der Leiche gefunden hatte, war groß und silbern und hatte eine runde, rote Verzierung in der Mitte. Jetzt schien er wie ein Stück Glut ein Loch in den Beutel zu brennen, der in ihrer Rocktasche verborgen war. Sie war geradewegs in die Höhle des Löwen geraten. Sie blickte in die Augen des Stellvertreters, der sie intensiv beobachtete.
»Können Sie beschreiben, wo sich die Tote befindet?«
»Nicht genau, ich kenne mich in dieser Gegend nicht aus. Einen halben Tagesritt westlich von dem Dorf Westerfield.«
»Hat noch jemand außer Ihnen die Tote gesehen?«
»Warum fragen Sie das?«
Wieder starrten sie sich einen winzigen Moment lang an.
»Vielleicht könnte jemand anderer eine bessere Wegbeschreibung abgeben.«
Viviana wollte ihre Audienz mit dem Stellvertreter auf der Stelle beenden, aber sie wollte auch nicht seinen Verdacht erregen.
»Wenn es nach meinem Mann und seinen Freunden gegangen wäre, hätte ich diese Sache gar nicht melden sollen«, log sie und stand auf. »Ich kann Ihnen leider nicht mehr dazu sagen, aber ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen diese Angelegenheit zu melden.«
»Das haben Sie richtig gemacht. Wo sind Sie abgestiegen, falls ich noch eine Frage habe?« Seine Stimme war glatt und geschäftsmäßig.
»Es ist einer der Gasthöfe am Westende.«
»Wie heißt er?«
Viviana zuckte mit den Schultern.
»Ich werde jemanden schicken, der Sie begleitet, dann weiß ich, wo Sie sind.«
Vivianas Herz klopfte etwas schneller, vielleicht hatte er doch in ihren Augen etwas bemerkt, als sie die Knöpfe auf seiner Weste betrachtete hatte? Es gab keinen Mann, keine Freunde, und es gab auch keine Herberge. Es gab nur Mister Bartholomeus, und bei dem stand sie wahrlich schon viel zu tief in der Schuld, als dass sie ihn in einen Mordfall hineinziehen wollte. Sie war allein, und dieser Stellvertreter machte ihr Angst.
»Das ist nicht nötig, dass Sie jemanden schicken. Lassen Sie mich überlegen, ich glaube, das Gasthaus hat einen Eber auf dem Schild.«
Viviana erinnerte sich, in einer solchen Herberge nach Julian und Rinaldo gefragt zu haben. Der Stellvertreter nickte.
»Wie lange bleiben Sie in Shaftesbury?«
»Bestimmt noch bis Sonntag.«
Der Stellvertreter nickte ihr zum Abschied zu und begann in den Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch lagen, zu wühlen.
Viviana atmete tief durch, als sie wieder vor der Abteimauer stand, und versuchte, sich zu beruhigen. Plötzlich war alles so viel schwieriger geworden. Sie sah sich ängstlich nach allen Seiten um, aber keiner achtete auf sie, und die Menschen gingen geschäftig ihren Angelegenheiten nach. Wenn sie doch bloß Julian finden würde, dachte Viviana, und im gleichen Moment hatte sie wieder die Bemerkung dieses unangenehmen Menschen vom Klosterhof in den Ohren. Der Gedanke, dass Julian nicht ehrlich zu ihr gewesen war, beunruhigte sie. Sie fühlte sich in Shaftesbury nicht mehr sicher, aber was blieb ihr übrig, als weiter nach Julian und Rinaldo zu suchen. Ihr Blick fiel auf die große Herberge, in deren Gaststube Mister Bartholomeus gestern ursprünglich hatte zu Abend essen wollen, ehe es dort eine Schlägerei gegeben hatte. Dort hatte sie noch nicht gefragt.
Auf ihre erste Beschreibung hin zuckte der Wirt mit den Schultern. Erst als sie sich nach Rinaldo erkundigte, verdrehte er die Augen.
»Also wissen Sie, so eine seltsame und unorganisierte Reisegruppe wie Ihre ist mir noch nicht untergekommen. Zwei Ihrer Freunde waren schon hier. Der, der zuerst hier war, ist inzwischen abgereist, und der andere, der ihn zur Begrüßung verprügelt hat, hat jetzt sein Zimmer.«
»Wer hat wen verprügelt?«
»Der, nach dem Sie gefragt haben.«
»Der große, dunkle Ausländer?«, fragte Viviana völlig fassungslos.
»Nein, der, nach dem Sie zuerst gefragt haben. Auf den passt die Beschreibung. Der Südländer ist hier noch nicht aufgetaucht.«
»Wen hat er verprügelt?«
»Den jungen, blonden Mann.«
»Aha.« Viviana hatte keine Vorstellung, wen Julian zur Begrüßung verprügelt haben sollte, aber das brauchte der Wirt ja nicht zu wissen.
»Ist denn mein Freund, Julian White, noch hier?«
»Ja, er hat das Zimmer mit der Sonne. Aber er ist in der Frühe weggeritten und noch nicht wieder da.«
»Aber er wollte heute zurückkommen?«
»Jedenfalls hat er für die kommende Nacht bezahlt.«
»Kann ich in seinem Zimmer auf ihn warten?«
Der Wirt machte eine abwehrende Handbewegung.
»Nee, nee, Ihr Freund hat dafür gesorgt, dass hier keiner mehr allein in das Zimmer eines anderen gehen darf. Warten Sie doch im Schankraum. Wollen Sie etwas zu essen?«
Vivianas Magen knurrte vernehmlich, denn sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Sie hatte zwar nichts, womit sie bezahlen könnte, aber Julian würde sie sicher auslösen.
Julian war gemächlich geritten und erreichte Salisbury am frühen Nachmittag. Er bestellte in der Poststation ein Bier, und auf seine Nachfrage hin reichte ihm der Wirt eine lederne Rolle.
»Ist gestern Nachmittag hier angekommen.«
Julian nickte, klemmte die Rolle unter den Arm, nahm sein Bier und setzte sich in die hinterste Ecke des Schankraums. Er brach Simeons Siegel über dem Knoten, der die Rolle zusammenhielt. Es war eine lange Nachricht. Julian hob überrascht die Augenbrauen, denn obwohl Simeon schreiben konnte, war er doch langsam und hielt seine Nachrichten daher stets kurz.
»Ich hoffe, diese Nachricht findet Dich wohlauf«, begann der Brief, und dann wich mit jeder weiteren Zeile, die er las, langsam das Blut aus Julians Gesicht. Er saß wie versteinert da, und nur seine Augen folgten den dichten Wörtern aus schwarzer Tinte. Schließlich sanken seine Hände mit dem Pergament langsam auf seinen Schoß. Er starrte blicklos vor sich hin.
Die Geheime Kanzlei hatte neue Erkenntnisse über den Kurier. Es handelte sich um eine Frau, eine Französin mit Namen Emmanuelle Foulaise. Sie war in Cherbourg in See gestochen, und dann hatte sich ihre Spur verloren. Emmanuelle Foulaise war kein unbeschriebenes Blatt, sie war eine kaltblütige, skrupellose Agentin, die nicht nur in König Louis’ Dienst gestanden hatte, sondern auch für Prinz Richard arbeitete. Sie war eine Söldnerin und für den qualvollen Foltertod eines ihrer besten Männer auf dem Festland verantwortlich, weil sie ihn an König Louis verraten hatte. Außerdem wurde sie verdächtigt, mit dem Tod Sir Rolands, eines hochrangigen Beamten am Hofe von Königin Eleonore, zu tun zu haben. Sie war eine Mörderin. Simeon warnte Julian eindringlich, die Schiffbrüchige in seiner Begleitung nicht einen Moment aus den Augen zu lassen und besondere Vorsicht walten zu lassen. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, sollte er sie festsetzen. Die Sache hatte allergrößte Priorität, da noch nicht klar war, wie weit die Verschwörung schon gediehen war.
Julians Kehle hatte sich schmerzhaft zusammengezogen, und seine Augen brannten. Er schluckte trocken. Er sah Viviana vor sich, wie sie in Yeovil die Treppe herunterkam und sich stolz in ihrem neuen Kleid zeigte; wie sie nach dem Überfall vor ihm auf dem Pferd gesessen und er sie in seinen Armen gehalten hatte; ihr lachendes Gesicht, wenn sie sich beide über die gleiche Sache amüsierten. Julian schloss die Augen und spürte wieder ihre Lippen auf den seinen, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Sie war eine Lügnerin. Es war alles gelogen, sie hatte ihm etwas vorgespielt. Wie betäubt stand er auf, rollte das Pergament wieder zusammen und steckte es in seine Jacke.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte der Wirt vorsichtig mit einem Blick auf den Bierkrug, der unangetastet auf dem Tisch stand.
»Ich brauche ein Pferd, ich muss sofort zurück nach Shaftesbury.«
»Wollen Sie nicht lieber erst noch etwas essen?«
Julian schüttelte den Kopf und war auch schon hinaus. Wenig später galoppierte er auf einem neuen Leihpferd die Straße entlang, die er vor weniger als einer halben Stunde gekommen war.
Sir Roland war einer von Henrys besten Diplomaten gewesen, der immer ein wachsames Auge und scharfes Ohr gehabt hatte. Er war an Königin Eleonores Hof von einer Hure in seinem Bett ermordet worden. Emmanuelle Foulaise. Eine Dirne. Julian trieb sein Pferd an, als könnte er in diesem Wahnsinnstempo dem Höllenfeuer entrinnen, das in ihm brannte. Wieder sah er Viviana vor sich. Für eine Sekunde dachte er daran, sich von dem dahingaloppierenden Pferd zu stürzen und dieser Qual ein Ende zu bereiten. Wie hatte er sich so täuschen können? Er hatte geglaubt, Gott habe sein Flehen erhört und ihm einen Engel geschickt. Vielleicht gab es gar keinen Gott, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Er war im Begriff, den Verstand zu verlieren! Julian zog am Zügel, und das Tier kam schnaubend und zitternd zum Stehen. Er stieg ab und fiel auf die Knie, seine Stirn gegen die Fäuste gepresst. Gottes Wege waren unergründlich. Vielleicht war er schon verloren, und Gott hatte ihn verlassen, und ein böser Teufel trieb sein Spiel mit ihm. Mühsam stand Julian auf, griff zum Zügel und stieg wieder auf. Er musste Thorn und Emmitt informieren, dass sie auf der falschen Fährte waren. Gemeinsam mussten sie die Französin finden.