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Jack blieb auch am folgenden Tag bewusstlos. Die Wunde wirkte leicht entzündet, sein Puls war schwach, und Ricarda spürte, dass er Fieber bekam.
Geschichten von vergifteten Pistolenkugeln kamen ihr in den Sinn. Ob die Kugel vergiftet war? Dazu kam die Sorge, dass die Dosis Äther, die Doherty Jack verabreicht hatte, zu groß gewesen war. Das Risiko, Hirnschäden von einer Äthernarkose davonzutragen, bestand durchaus. Normalerweise setzte in solch einem Fall die Atmung plötzlich aus, was Ricarda veranlasste, Jack ununterbrochen im Auge zu behalten.
Bitte, Jack, komm zu mir zurück!, flehte sie verzweifelt.
Gegen Abend trat Kerrigan in die Schlafstube. Der Vormann blickte sie ein wenig erschrocken an.
Ricarda wusste selbst, dass sie todmüde aussah. Aber trotz aller Erschöpfung brachte sie es nicht über sich, sich hinzulegen. »Bringen Sie Neuigkeiten?«, fragte sie, während sie den Blick wieder auf Jack richtete.
»Bessett ist zusammengebrochen«, antwortete der Vormann. »Er hat einen weiteren Infarkt erlitten.«
Mein Gott, es ist wahr!, dachte Ricarda erschrocken. Jack und er haben sich gestritten.
»Man hat sein Gewehr neben ihm gefunden.«
Ricarda schloss die Augen und atmete zitternd durch.
»Das bedeutet nicht, dass er geschossen hat«, sagte Kerrigan. »Niemand weiß etwas von einem Streit zwischen ihm und Mr Manzoni. Die Dienstboten hätten sicher darüber geplaudert.«
»Trotzdem können sie aneinandergeraten sein«, entgegnete Ricarda, während sie zitternd ihre Schultern umklammerte. Auf einmal fror sie, als habe man sie mit Eiswasser übergossen.
Kerrigan senkte den Kopf. Er musste zugeben, es fiel schwer, angesichts der Fakten etwas anderes zu vermuten.
»Was ist mit Bessett?«, erkundigte sich Ricarda. Wenn er geschossen hatte, musste er zur Rechenschaft gezogen werden. »Ist er im Hospital?«
»Er ist tot, Doktor.«
»Was sagen Sie da?«, fragte Ricarda entsetzt.
»Er hat den Infarkt nicht überlebt. Wenn er wirklich auf Mr Manzoni geschossen hat, hat Gottes gerechte Strafe ihn ereilt.«
»Aber Sie glauben nicht daran, dass er es war, oder?«
»Ich werde mich auf jeden Fall weiter umhören«, gab der Vormann ausweichend zurück. »Sie sollten sich zwischendurch eine kleine Pause gönnen, Doc. Wenn Sie wollen, übernehme ich jetzt die Wache.«
»Danke für das freundliche Angebot, Tom. Aber noch halte ich mich auf den Beinen.«
Als auch am nächsten Tag keine Besserung in Sicht war, beschloss Ricarda, Moana um Hilfe zu bitten. Aus schulmedizinischer Sicht war mit ihm bis auf die Bewusstlosigkeit alles in Ordnung. Vielleicht konnte die Medizin der Maori weiterhelfen.
Nachdem sie Kerrigan aufgetragen hatte, auf Jack zu achten, ritt sie ins Dorf.
Moana vermutete zunächst, dass ihre Besucherin Probleme mit ihrer Tätowierung hätte. Ricarda schüttelte den Kopf. Die zarte Blütenranke war unauffällig abgeheilt, wahrscheinlich auch deshalb, weil Ricarda gar keine Zeit gehabt hatte, darauf zu achten.
»Es geht um Jack«, entgegnete sie und schilderte kurz, was geschehen war.
Moana hörte mit besorgter Miene zu, dann verschwand sie in ihrer Hütte und kehrte mit einer Tuchtasche zurück. Die Heilerin schwang sich hinter Ricarda aufs Pferd.
Auf der Farm warteten einige Patienten aus der Stadt auf Ricarda. Sie bat sie um Geduld und führte Moana zu Jack.
»Du sehen nach deinen Leuten, ich bei kiritopa«, erklärte Moana.
Widerwillig stimmte Ricarda zu. Sie versorgte ihre Patienten so schnell wie möglich und eilte zurück zu Jack.
Moana hockte neben dem Bett, die rechte Hand auf seine Brust gelegt, als wolle sie seinen Herzschlag fühlen. Als Ricarda eintrat, erhob sie sich.
»Böse Geist hält Seele von kiritopa gefangen. Ich werde singen karakia, aber vorher wir ihm geben rongoa.«
Moana schlug die Tuchtasche auf. Einige der Pflanzen und Medikamente, die sie dabei hatte, kannte Ricarda, andere waren ihr fremd. Dass ein böser Geist von Jack Besitz ergriffen haben könnte, erschien Ricarda merkwürdig. Doch Moana schien fest daran zu glauben.
Du siehst ja, wie weit du mit deiner Schulmedizin gekommen bist, dachte Ricarda. Moana wird schon ihre Gründe haben. Und jemand anderen, den du um Hilfe bitten könntest, hast du nicht. Doch die Zweifel zerrten und nagten an ihr wie Raubtiere an ihrer Beute. Ich hätte ihn vielleicht bei Doherty lassen sollen. Vielleicht wäre er dann schon wieder wach.
»Kann ich helfen?«, fragte sie schließlich.
Moana nickte und deutete dann auf den Platz gegenüber. »Du wirst da sein für Körper. Ich für Geist.«
Ricarda hockte sich neben Jack und griff nach seinem Handgelenk, um nach seinem Puls zu fühlen. Noch immer keine Veränderung. Sein Herz schlug regelmäßig, aber schwach.
Dank ihrer Infusionen mit Kochsalzlösung würde er nicht austrocknen, dennoch konnte er in diesem Zustand nicht mehr allzu lange bleiben.
Moana gelang es nicht, ihm ihre Medikamente einzuflößen.
Ricarda kam die Trichtermethode in den Sinn, mit der man in einigen Irrenanstalten Menschen zwangsernährte. Das wollte sie Jack allerdings nicht antun.
Da er nicht schlucken konnte, legte ihm Moana schließlich einige Blätter, die sie zuvor mit den Fingernägeln angeritzt hatte, unter die Zunge. »Rongoa wird helfen, Geist frei zu machen für karakia«, erklärte sie.
Während die Heilerin ihre Gesänge anstimmte, blieb Ricarda starr neben Jack sitzen.
Sie fühlte sich wie damals im Versammlungshaus. Die Gesänge versetzten sie in einen tranceähnlichen Zustand, in dem sämtliche Sorgen von ihr abfielen. Erst als die Weisen verklungen waren, kehrte Ricarda in die Gegenwart zurück.
Gespannt blickte sie auf Jack, doch er lag noch immer reglos und unverändert da.
Ja, hast du wirklich ein Wunder erwartet?, schalt sie sich im Stillen.
Moana ließ sich nicht beirren.
»Ich zurückgehen und holen andere rongoa. Böse Geister sehr stark, aber ich vertreiben.«
Ricarda nickte betäubt. Ihre Verzweiflung war unermesslich. Wozu die langen Studienjahre, wenn ich mit all meinem Wissen nicht mal dem Mann helfen kann, den ich liebe?, fragte sie sich. Doch dann schalt sie sich insgeheim dafür, und ihr starker Wille drängte die Mutlosigkeit zurück. Noch schlägt sein Herz, sagte sie sich. Und solange das der Fall ist, werde ich hoffen und ihn keinesfalls aufgeben.
Am Abend kehrte das Gewitter zurück, diesmal mit einer Heftigkeit, wie sie es zuvor noch nie erlebt hatte. Der Donner hallte über das Land hinweg und fand sein Echo am Mount Maunganui. Blitze zuckten gleißend weiß, dann wieder violettrot über die tief hängenden Wolken.
Ricarda bereitete ein einfaches Abendessen aus Brot, Schafskäse und Früchten zu und empfing dann Moana, die mit einem Bündel durch den strömenden Regen zum Farmhaus gelaufen war. Sie aßen schweigend und begaben sich dann wieder an das Bett des Kranken.
Ricarda kontrollierte die Wunde und wechselte den Verband unter den interessierten Blicken Moanas.
»Wenn Wunde bekommen Feuer, dann nehmen kowhai oder harakeke«, riet die Heilerin.
Beide Pflanzen waren Ricarda mittlerweile bekannt.
Beim kowhai handelte es sich um einen Baum, dessen Holz die Maori für Umzäunungen benutzten. Mit dem Farbstoff seiner gelben Blüten ließen sich Stoffe einfärben. Und bei Prellungen, infizierter Haut und Wunden setzten die Maori die Rinde als Heilmittel ein.
Harakeke hingegen war der Maoriname für ein Liliengewächs, dessen Pflanzenfasern wie Flachs verarbeitet wurden. Daraus fertigten die Maori nicht nur Kleidung, Matratzen, Netze, Angelschnüre und Körbe, sondern sie kurierten mit dem Pflanzensaft auch Entzündungen und setzten Teile der Wurzel gegen Zahnschmerzen ein.
Ricarda nickte auf den Ratschlag hin. Noch zeigte der Einschuss keine Zeichen von Wundbrand, doch wenn sie den Verdacht hatte, würde sie diese Heilpflanzen anwenden.
Moana setzte ihre Rituale fort. Sie entzündete ein paar gemahlene Blätter in einer Schale und schwenkte diese wie einen Weihrauchkegel über seinem Kopf. Dabei sang sie erneut.
Vor dem Hintergrund des Regens, der wie Tausende von Fingern gegen die Fensterscheiben trommelte, wirkten die Melodien beinahe gespenstisch.
Nach einer Weile holte Moana ein seltsames Instrument aus ihrem Bündel hervor. Das Mundstück war in Form eines Gesichtes geschnitzt, am hinteren Ende war ein großes Gehäuse einer Meeresschnecke angebracht. Schneeweiße Federn baumelten an Perlensträngen von dem Instrument herab.
»Was ist das?«, fragte Ricarda. Ähnliche Muschelhörner hatte sie schon bei dem Ritual auf der Matariki-Feier gesehen.
»›Putatara«, erklärte Moana. »Ich Tane bitten, zu helfen, Geister fortzuschicken.«
Sie setzte das Instrument an die Lippen, schob die rechte Hand ein wenig in das Schneckengehäuse und begann zu spielen.
Der Klang war zunächst überraschend hell, doch Moana modellierte ihn mit ihrer Stimme so, dass er anschwoll und wieder abflachte. Auch die Tonhöhe veränderte sie mit ihrer Stimme. Manche Klänge konnte Ricarda förmlich unter ihrer Schädeldecke oder hinter den Augen spüren. Einige Töne und Tonwellen setzten sich hinter ihrer Stirn fest und brachten dort scheinbar etwas zum Schwingen. Ricarda verspürte den Zwang, die Augen zu schließen.
Immer tiefer versank sie in den Klängen, bis sie über einer grünen Landschaft zu schweben glaubte, die Wairere Falls hinauf. Ein schmerzvolles Stöhnen riss sie jedoch aus ihrer Vision. Ricarda fuhr zusammen.
Jack erwachte! Schnell ertastete sie seinen Puls. Sein Herz schlug wieder kraftvoller!
Als der Kranke zu husten begann, legte Ricarda die Arme um seine Schultern. Auf seinem Nachthemd erschien ein Blutfleck; offenbar hatte sich durch die Anstrengung die Wunde wieder geöffnet. Darauf achtete Ricarda aber nicht.
»Jack, liebster Jack, bitte wach auf!«, beschwor sie ihn, während sie ihn immer noch in den Armen hielt. »Komm zu mir zurück!«
Nachdem es so ausgesehen hatte, als kämpfe sich sein Bewusstsein zurück ins Licht, fiel sein Körper plötzlich wieder zusammen.
Ricarda schrie verzweifelt auf. Sie schmiegte den Kopf an seine Brust, um seinem Herzschlag zu lauschen - doch noch ehe sie den vernahm, hörte sie über sich ein Flüstern.
»Ricarda.«
Ein Seufzer der Erleichterung kam über ihre Lippen und ging in ein Schluchzen über. Jack war aufgewacht. Er würde leben! Dankbar sank Ricarda neben dem Bett auf die Knie. Die Tränen strömten ihr über die Wangen und verschleierten die Sicht auf Jack, denn sie weinte die Anspannung der vergangenen Tage aus sich heraus, während Moana ihr Spiel noch eine Weile fortführte.
»Fluch war mächtig«, behauptete Moana, als Ricarda sie schließlich nach draußen begleitete. »Jemand nicht nur Kugel geschickt, sondern auch großen Zorn. Das ihn gehalten in Geisterwelt. Aber jetzt vorbei.«
Bessetts Zorn?, fragte sich Ricarda in Erinnerung an Kerrigans Erzählung.
Kann es sein, dass sein Geist im Tode Jack besessen hatte?
Nein, daran wollte sie nicht glauben.
Wichtig war in diesem Moment nur, dass der Klang der putatara Jack aus seiner Bewusstlosigkeit geholt hatte. Wahrscheinlich gab es eine ganz natürliche Erklärung dafür. Wenn das Instrument schon auf sie und ihre Empfindungen eine solch starke Wirkung ausgeübt hatte, war es doch auch möglich, dass die Schallwellen etwas in Jacks Gehirn bewirkt hatten.
Ricarda nahm sich vor, es eines Tages herauszufinden. Vielleicht könnte auch sie eine Art Klangtherapie in ihr Repertoire aufnehmen.
Aber nun verabschiedete sie sich erst einmal voller Dankbarkeit von Moana. Sie versprach der Heilerin, in den nächsten Tagen wieder nach Taiko zu sehen. Anschließend kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.
Jack war zunächst zu sich gekommen, dann aber in einen normalen Schlaf hinübergeglitten. Seine Atemzüge tönten ruhig durch den Raum.
Ricarda legte sich neben ihn auf das Bett und betrachtete voller Zärtlichkeit sein Gesicht. Dann riss sie sich los und stand auf.
Noch immer stand sie ganz unter dem Eindruck des Wunders, das Moana bewirkt hatte. Wenn die Götter wirklich gnädig auf die Heiler und Heilerinnen herabsahen, dann hatte Moana es verdient. Kein Wunder, dass sie ein hohes Ansehen, mana, in ihrem Stamm genoss.
Auch ich möchte einmal so viel Ansehen genießen, dachte Ricarda, während sie den Ärmel ihres Kleides so weit hochkrempelte, dass die Tätowierung sichtbar wurde. Nachdem die Rötung abgeklungen war, wirkte das Muster, als sei es in ihre Haut geschnitzt worden.
In dieser Nacht schlief Ricarda wie ein Stein. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, zwischendurch nach Jack zu sehen, wachte sie nicht auf.
Am nächsten Morgen klopfte Kerrigan nach dem Frühstück an die Tür. »Wie geht es ihm?«, fragte er.
»Er ist gestern kurz aufgewacht und schläft sich nun aus«, erklärte Ricarda.
Ein erleichterter Ausdruck trat auf Kerrigans Gesicht. »Das haben wir wohl der Zauberin zu verdanken, was?«
Ricarda nickte ernst. »Man sollte die Heiler der Maori nicht unterschätzen.«
»Da sagen Sie was, Doc! In meiner Heimat gibt's auch Medizinmänner, die einem sogar Krankheiten aus den Knochen ziehen, die die gelehrten Doktoren nicht mal kennen.«
Vielleicht ist es dann an der Zeit, dass ich diese Krankheiten ebenfalls behandeln lerne, ging es Ricarda durch den Sinn.
Am späten Vormittag wachte Jack auf. Ricarda hatte wieder neben seinem Bett Platz genommen und wollte sich gerade davonstehlen, um nachzusehen, ob sich Patienten für sie eingefunden hatten.
»Bleib noch ein bisschen bei mir.«
Ricarda war bereits an der Tür und blieb wie angewurzelt stehen.
»Jack«, hauchte sie, lief zurück zu seinem Bett und küsste ihn sanft. »Ich bin so froh, dass du wieder bei mir bist.«
»Ich war doch nie fort!«
»Doch, das warst du. Deine Seele war fort. Moana glaubt, dass es ein Fluch war.«
»Wer sollte mich schon verfluchen wollen?«
Bessett zum Beispiel, hätte sie beinahe geantwortet, doch dann beschloss sie, ihn noch nicht mit der Todesnachricht zu konfrontieren.
»Doherty hat dich übrigens operiert. Ich habe dich anschließend hergeholt.«
Jack streckte seine gesunde Hand nach ihr aus und strich ihr über die Wangen. »Du hast dich tatsächlich in die Höhle des Löwen gewagt?«
»Ich wollte nicht, dass er dich weiter behandelt. Das wird mir wahrscheinlich noch Ärger einbringen, aber das ist mir egal.«
Jack zog sie vorsichtig an sich. Die Wunde schmerzte ihn, aber das hielt ihn nicht davon ab, Ricarda zu küssen.
»Ich habe übrigens eine Überraschung«, sagte sie, als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten. Sie öffnete ihr Kleid, schob es von der Schulter und zeigte ihm die Tätowierung.
Jack schmunzelte. »Jetzt werden dich in Europa alle entweder für einen Seemann oder für ein Freudenmädchen halten.«
»Ich habe nicht vor, dorthin zurückzukehren«, entgegnete sie. »Trotz aller Widrigkeiten ist dieses Land jetzt meine Heimat. Und das liegt vorrangig an dir.«
Damit küsste sie ihn erneut und erhob sich vom Bett.
»Es war Borden«, sagte Jack unvermittelt, als sei er plötzlich von einer Erinnerung übermannt worden.
Ricarda wirbelte verwundert herum. Bevor sie fragen konnte, gab er ihr auch schon die Antwort.
»Er hat auf mich geschossen.«
»Warum sollte er das tun?«
»Ich hab es dir nie erzählt ...«, begann er.
Seine Stimme klang noch immer schwach. Ricarda wollte ihm schon raten, besser nichts zu sagen, doch er hätte sich gewiss nicht abhalten lassen.
»Kurz nachdem ich dich hergebracht hatte, war ich in der Stadt. Ich habe deine Sachen abgeholt und bin auf Borden getroffen. Da ich davon überzeugt war, dass er hinter dem Brand deiner Praxis steckt, bin ich auf ihn losgegangen und habe ihn ins Wasser befördert.«
»Du hast was?« Ricardas Frage war kaum mehr als ein Flüstern. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
»Ich hab ihm 'ne Tracht Prügel verpasst. Ich habe mir gedacht, wenn er schon keine andere Strafe kriegt, soll er wenigstens wie ein nasser Hund nach Hause kriechen. Aber anstatt sich ehrlich mit mir auseinanderzusetzen, schießt er mir feige in den Rücken. Ich wollte gerade zu Bessett.«
Mit dem letzten Wort sank er in die Kissen zurück.
Ricarda rang mit sich.
Soll ich es ihm erzählen oder nicht? Wahrscheinlich würde er es mir übel nehmen, wenn ich es nicht tue.
»Du hast also nicht mit Bessett gesprochen.«
Jack schüttelte den Kopf. »Als ich durch das Tor ritt, sah ich eine Gestalt, die sich ums Haus herumdrückte. Ich hätte schwören können, dass es Taikos Bruder war. Ich wollte ihn gerade rufen, da krachte der Schuss.«
Taikos Bruder, hallte es in Ricardas Verstand nach. Bevor sie eine Schlussfolgerung ziehen konnte, fragte Jack: »Was ist plötzlich mit dir?«
»Bessett ist tot. Er ist einem Herzinfarkt erlegen.«
»Was?«
Jacks Augen weiteten sich erschrocken.
»Kerrigan hat es mir erzählt. Sie haben ihn vor seinem Haus gefunden, neben sich ein Gewehr. Ich dachte zunächst, er hätte auf dich geschossen.«
Sprachlosigkeit überkam Jack. Er konnte nicht glauben, was er da hörte.
Hat der junge Krieger ihn dermaßen erschreckt? Wollte der Bursche ihm von seinem Kind berichten? Hat er es letztlich doch erfahren und darüber einen Infarkt erlitten?
»Weiß man schon Näheres?«, fragte er schließlich, während er versuchte, diese Nachricht zu verdauen.
»Kerrigan will sich umhören. Bis jetzt dachten wir beide, dass Bessett der Schütze war.«
Sie machte eine kurze Pause, dann setzte sie hinzu: »Ich werde zur Polizei gehen. Für das, was Borden getan hat, darf er nicht ungeschoren davonkommen.«
»Warte lieber, bis die Männer wieder da sind«, wandte Jack ein und griff nach ihrem Handgelenk. »Kerrigan kann zur Polizei reiten.«
»Nein, Jack. Ich muss es tun, und du weißt auch, warum. Man kann Borden vielleicht nicht nachweisen, dass er die Schläger angeheuert hat, die meine Praxis in Brand gesetzt haben, aber für die Kugel, die er dir in den Rücken gejagt hat, wird er bezahlen!«
Damit beugte sie sich über Jack und küsste ihn.
Während der Regen erneut das Land peitschte, ritt Ricarda nach Tauranga. Zuvor hatte sie ein Frühstück für Jack vorbereitet und Tom gebeten, ihm dabei Gesellschaft zu leisten.
Als sie schließlich in der Stadt eintraf, war sie von Kopf bis Fuß durchnässt. Ihr Kleid klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Doch das kümmerte sie nicht. Der Weg zum Polizeigebäude führte sie auch an Bordens Saloon vorbei. Sie ließ den Blick über die Fassade und die Öllampen schweifen, die hinter den Fenstern flackerten und ein trübes Licht verbreiteten. Für einen Moment gewahrte sie schemenhaft das Gesicht eines Mannes hinter einer der Fensterscheiben, der sich hastig zurückzog.
Getrieben von heißem Zorn, ritt Ricarda weiter. Dieser Kerl hatte den Mann angegriffen, den sie liebte! Sie würde dafür sorgen, dass er dafür büßen musste. Der Gedanke tröstete sie und verlieh ihr Zuversicht.
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee strömte Ricarda entgegen, als sie in der Monmouth Street die Polizeiwache betrat. Die Constables hatten sich an einem kleinen Tisch zusammengefunden, der sich hinter dem Empfangstresen befand. Ihre Uniformjacken hingen über den Stuhllehnen.
Als sie Ricarda sahen, erhob sich einer von ihnen, griff nach seiner Jacke und zog sie sich über.
»Guten Tag, Madam, was kann ich für Sie tun?«
»Ich würde gern Ihren Chef sprechen. Es ist wichtig.«
»Den Chief Inspector?«, wunderte sich der Constable.
Ricarda nickte. »Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.«
Der Mann musterte sie von Kopf bis Fuß, als frage er sich, was sie wohl wollen könne, bevor er antwortete: »Warten Sie bitte einen Moment.«
Nach einer Weile erschien ein großer, dunkelhaariger Mann, der einen tadellosen grauen Anzug trug. Das Hemd war gestärkt und blütenweiß, und an seiner Weste baumelte eine Uhrkette.
»Ich bin Chief Inspector Emmerson«, stellte er sich vor.
»Doktor Ricarda Bensdorf.«
Der Name sagte Emmerson offensichtlich etwas. »Sie sind die Ärztin, deren Praxis abgebrannt ist, nicht wahr?«
Ricarda nickte. Sie erinnerte sich noch gut an den Constable, der an ihrem Krankenbett ihre Aussage aufgenommen hatte. Er war allerdings nicht unter den Männern, die am Tisch saßen.
»Kommen Sie in dieser Angelegenheit? Wenn ja, dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass unsere Ermittlungen noch nicht zu einem Ergebnis geführt haben.«
»Ich habe ein anderes Anliegen.«
»Gut, dann gehen wir doch in mein Büro.«
Der Chief Inspector öffnete die Klappe, die den Durchlass hinter den Tresen versperrte, und führte sie durch einen Gang zu einer offenstehenden Tür.
»Schreckliches Wetter, finden Sie nicht?«, fragte er im Plauderton. »Man könnte fast meinen, die Regenzeit bricht an. Solange die Sonne vom Himmel brennt, sehnt man sich nach Regen, und wenn's dann endlich so weit ist, wünscht man sich die Sonne. Der Mensch ist ziemlich schwer zufriedenzustellen.«
Ricarda antwortete nicht, wenngleich sie ihm insgeheim Recht gab.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Emmerson, als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte.
»Mr Manzoni ist in der Stadt niedergeschossen worden. Wie er selbst sagt, von Mr Borden.«
Emmerson zog die Augenbrauen hoch. »Eine Schießerei in der Stadt?«
»Außerhalb Taurangas, vor dem Bessett-Anwesen. Schon vor ein paar Tagen.«
»Und das melden Sie erst jetzt?«
»Ich wusste vorher nicht, wie sich alles abgespielt hat. Mr Manzoni war lange bewusstlos. Erst als er wieder zu sich gekommen war, konnte er mir mitteilen, dass Borden ihn niedergeschossen hat.«
»Ist Mr Manzoni vernehmungsfähig?«, fragte Emmerson und sprang vom Stuhl auf.
»Als seine behandelnde Ärztin würde ich sagen, ja. Allerdings sollten Sie ihn nicht überanstrengen.«
»Ich verspreche, das werde ich nicht. Ich gebe meinen Männern nur Bescheid, dass sie Mr Borden unter Arrest stellen sollen, dann werde ich Mr Manzoni aufsuchen.«
Borden hatte das Gefühl, als habe der flammende Blick der Reiterin ihn durchbohrt. Kein Zweifel, es war Ricarda Bensdorf. Was wollte sie hier? Dem Totengräber Bescheid sagen, dass er Manzoni holen sollte?
Borden war zu Ohren gekommen, was sie sich gegenüber Doherty herausgenommen hatte. Abgesehen davon, dass sie damit vielleicht das Todesurteil des Italieners unterschrieben hatte, hatte sie sich gewiss in der gesamten Stadt unmöglich gemacht. Allerdings hätte Borden erwartet, dass Manzoni noch in derselben Nacht sterben würde. Der Schuss hatte gut gesessen, davon war er überzeugt.
Doch nun überfiel ihn die Unsicherheit. Er erinnerte sich gut an den Blick, den Manzoni ihm zugeworfen hatte, bevor er gegen den Pferdehals sank. Ob er sich an mich erinnert hat, falls er tatsächlich noch lebt?
Bordens Handflächen wurden schweißnass. Der Funke der Erkenntnis, dass es besser gewesen wäre, Ricarda Bensdorf in Frieden zu lassen, kam ihm allerdings zu spät.
Schritte polterten die Treppe hinauf.
Es ist sicher nur eines meiner Mädchen mit einem Freier. Oder der Barmann.
Doch die Schritte kamen näher, direkt auf seine Tür zu. Dann klopfte es.
»Mr Borden?«, fragte eine Stimme.
Borden wandte sich um, und sein Blick brannte sich förmlich in die Tür. »Wer ist da?«
»Die Polizei!«